22.10.2019
Vorheriger Teil: Süß (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65283-suss)
Vertrauen
Schnellen Schrittes folgte Havlar der weiteren Spur und gelangte bald darauf in den Wald nahe des Dorfes. Brummend sah er sich um, lauschte den Geräuschen, die seine Sinne überfluteten.
Wo war sie? Wo war Miri? Er musste sie schnell finden, bevor etwas passierte, sonst ...
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er verdrängte den Gedanken an die möglichen Folgen. Stattdessen konzentrierte er sich voll und ganz auf seine Sinne, denn somit hätte er bessere Chancen, Miri unversehrt nach Hause zu bringen, als wenn er sich jetzt von seiner Sorge leiten ließ.
Seinen Blick auf den erdigen Boden gerichtet, die Ohren gespitzt, marschierte er die Spuren entlang und war darauf bedacht, dabei möglichst leise zu sein, um dadurch nichts von dem zu überhören, was um ihn herum geschah.
Blätterrauschen. Pfeifender Wind. Vogelgezwitscher. Gekecker. Einzelne Steine unter seinen Sohlen. Atem. Seiner? Vielleicht. Er hörte in der Ferne ein Knurren und folgte diesem geschwind.
Erst jetzt merkte er, dass er keine Waffen bei sich hatte.
Das Atemgeräusch wurde lauter. War das seiner? Gut möglich. Er kämpfte sich durchs dornige Gestrüpp und erreichte bald eine Lichtung, auf welcher sich ihm eine unruhige Szenerie offenbarte.
Völlig verweint saß Miri da und schrie vor Angst, während ein paar Raptoren sie umzingelt hatten und langsam näher zu ihr kamen. Havlar sog scharf die Luft ein.
"Miri!", rief er und einige Vögel flogen aufgescheucht davon. Die Raptoren hielten inne und schauten zum bärtigen Mann rüber.
Auch Miri drehte sich aufgeschreckt zu ihm um. Sie schniefte und zitterte am ganzen Leib. "Hallfa, ich ... ich ..." Erneut schluchzte sie.
Seine Nichte war der Situation völlig hilflos ausgeliefert. Havlar spürte, wie etwas in seinem Inneren vor Anspannung zu zerbersten drohte.
Der dunkle Blick des Monsterjägers wanderte auf die Reptilien vor sich, die sich nun in zwei Gruppen aufteilten. Eine, die das Mädchen weiterhin einkesselte und eine andere, die sich dem Eindringling annahm.
"Schließ deine Augen und halte dir die Ohren zu", brummte er.
"Aber ich habe solche Angst ..."
"Egal was passiert, dir wird nichts passieren. Vertraue mir, Miri." Ein schmales Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er sie ansah.
Das kleine Mädchen nickte und schloss brav die Augen, während sie sich die Ohren zuhielt.
Havlar derweil holte tief Luft, beugte sich in bedrohlicher Haltung leicht nach vorn und ließ ein lautes Brüllen erschallen, welches nun auch das letzte Kleingetier in der Umgebung vertrieb.
Einige der Raptoren zuckten zusammen und wurden in die Flucht getrieben. Die Mutigeren dagegen blieben der Drohung gegenüber standhaft und antworteten mit simultanem Gekreische. Sie liefen auf ihn zu und wollten nach ihm schnappen.
Während Havlar ihnen tänzelnd auswich, beobachtete er im Hintergrund, wie einer der verbliebenen Raptoren Miri am Kragen packte und mit sich schleifte. Daraufhin strampelte und schrie sie, doch war sie hilflos. Das Biest wollte mit seiner Beute verschwinden.
Havlar war nicht überrascht. Er hatte schon so oft mit Raptoren zu tun gehabt, dass ihm ihre Verhaltensweisen vertraut waren. Diese Biester besaßen eine gewisse Gruppenintelligenz und legten mehr Wert auf ihre Beute, als auf irgendwelche Revierverteidigungen.
So stürmte er los und folgte dem Raptoren, der seine Nichte mit sich zerrte, während er die anderen Biester weitestgehend ignorierte. Nur, wenn es nötig war oder es sich anbot, wich er den Bissen aus oder schlug nach ihnen. So schaffte er es, auf dem Weg zwei der Raptoren außer Gefecht zu setzen, doch waren da immer noch drei weitere, zusätzlich zum Exemplar, das Miri hatte.
Er folgte dem hysterischen Schrei seiner Nichte und bahnte sich seinen Weg durchs Unterholz. Der Raptor war bald wieder in Havlars Blickfeld und wollte sich durch einen hohlen Baumstamm zwängen, welcher schon für ihn und Miri sehr eng war. Das Reptil zog Miri hinter sich her und verschwand im Stamm, in welchem das kleine Mädchen kurz darauf ebenfalls verschwand.
Havlar versuchte noch, hinterherzukommen, doch wurde er von den anderen Raptoren aufgehalten, die nach ihm schnappten. Einer schaffte es, ihm auf den Rücken zu springen und sich in seiner Schulter festzubeißen. Zischend sprang Havlar zur Seite, um Abstand zu den restlichen Exemplaren zu gewinnen und griff nach dem Raptoren an seiner Schulter. Mit beiden Händen öffnete er gewaltsam den Kiefer und riss das Biest dann vornüber zu Boden, wo es keuchend auf dem Rücken liegenblieb. Havlar wollte schnell weiter, doch biss ihm eines der beiden verbliebenden ins Bein und wollte ihn zu Boden reißen. Der Monsterjäger allerdings ließ sich von diesem Schmerz nicht sonderlich beeindrucken, da er schon weitaus Schlimmeres erlebt hatte. So ließ er sich vollen Gewichtes auf den Beißer seines Beines fallen und knurrte den zuletzt übrig gebliebenen Raptoren an, um ihn erfolgreich in die Flucht zu schlagen.
Schnaufend stand er vom Raptoren auf, der sich von seinem Bein gelöst hatte und sich kaum noch regte. Havlar drehte sich zum Baumstamm um und lief zu diesem. Mit einem Blick in den Hohlraum bestätigte sich ihm, dass das Biest mit seiner Nichte verschwunden war. Er versuchte noch, sich durch den Stamm zu quetschen, doch war er zu stämmig, um dort hindurchzupassen. Brummend trat er gegen den Baumstamm und folgte mit seinem Blick dem Verlauf des Stammes. Er endete punktgenau in einem Felsvorsprung.
Havlar runzelte die Stirn. Das musste von Menschenhand so arrangiert worden sein. Möglicherweise war dies mal ein menschliches Versteck gewesen, welches die Raptoren später besetzt hatten.
Der Monsterjäger griff nach dem hohlen Baumstamm und zog ihn schnaufend vom Felsvorsprung weg. Tatsächlich legte er damit ein Loch im Stein frei, an das er nun herantrat. Es war kaum breiter, als der Stamm. Mithilfe eines umliegenden Steinbrockens schlug Havlar das Loch größer, bis er der Ansicht war, hindurchzupassen. Er fiel ein kleines Stück nach unten und fand sich in Dunkelheit wieder. Nur der leichte Schein von draußen fiel durchs Loch in die Höhle. Havlar schloss die Augen. Er tastete sich voran und folgte Gehör und Geruchsinn. Der Gestank nach Raptor wurde stetig stärker. Darunter mischte sich das Aroma von Stroh und einigen Hinterlassenschaften. Es war ein Nest, da war er sich sicher.
Er folgte dem Geruch und vernahm bald darauf ein leises Wimmern und Knurren. Seine Schritte beschleunigten sich und er tastete sich weiter durch die Höhle.
"Miri?" Er öffnete die Augen und versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die durch einzelne Löcher in der Höhlendecke manchernorts unterbrochen wurde. Bereits nach kurzer Zeit konnte er die Silhouetten eines Raptoren erkennen, welcher etwas in seinem Maul hielt. Miri. Das Biest hatte sie immer noch am Kragen gepackt. Es setzte Miri ab und drehte sich alarmiert zum Monsterjäger um.
"Hallfa ... ich will nach Hause ... kein Versteckspiel mehr", wimmerte Miri.
"Wir gehen gleich nach Hause. Halt deine Ohren zu."
Dies kaum ausgesprochen, erschallte auch schon das Gekreische des Raptoren. Havlar wusste, dass es damit Verstärkung rufen wollte. Er sollte schnell von dort verschwinden. So passte er den Moment ab, an dem der Raptor nach ihm schnappte, um daraufhin einen Ausfallschritt zur Seite zu machen. Dabei verpasste er dem Reptil noch einen Stoß in die Seite, um es ins Straucheln zu bringen. Im selben Atemzug machte er einen schnellen Satz zu seiner Nichte und lud sie sich auf den Arm.
Gleich darauf spürte er einen brennenden Schmerz. Die Zähne des Raptoren hatten sich in Havlars Rücken gebohrt. Er versuchte, es abzuschütteln, doch hielt es sich zu fest an ihm. Er packte das Wesen am Hals und drückte zu, bis es erschlaffend losließ.
Er war froh, dass es für Miri zu dunkel war, um zu sehen, was um sie herum passierte.
Havlar marschierte strammen Schrittes weiter und tastete mit einer Hand nach dem Weg zum Ausgang, während er auf dem anderen Arm seine Nichte hielt, die sich mit tränennassen Augen und immer noch wimmernd an ihn schmiegte. Er spürte ihr Zittern und das gefiel ihm nicht. All das wollte er vermeiden. Deswegen hatte er ihr ausdrücklich verboten, in den Wald zu gehen.
"Ich bringe dich hier raus", sagte er. Seine Nichte nickte und brachte kein Wort heraus.
Der Monsterjäger folgte dem Geruch nach frischen Blättern und Pflanzen, spürte mit jedem Schritt in die richtige Richtung einen stärker werdenden Hauch des Windes. Bald erreichte er das Loch, durch welches er sich gezwängt hatte.
"Warte kurz draußen." Er wollte Miri gerade von sich lösen, um sie durchs Loch zu bringen, als sie sich im Stoff seines Hemds festkrallte und unwillig brummte.
"Geh nicht weg", schniefte sie.
Ihr Onkel hielt kurz inne. Schließlich seufzte er. Ihm war klar, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, sich mit nur einem Arm diese Erhöhung hochzustemmen.
"Zähl bis zehn, es dauert nicht lang. Vertrau mir."
Ihr Griff wurde lockerer und sie murmelte die ersten Zahlen vor sich hin, während er sie oben absetzte und sich schließlich selbst aus der Höhle zog.
Sie hatte gerade die Zahl Sieben erreicht, als er sie wieder auf den Arm nahm und mit sich trug.
"Wir gehen nach Hause und warten auf deine Mutter", flüsterte er.
"Ich will nicht", erwiderte Miri.
Der bärtige Mann schaute verwundert auf seine kleine Nichte hinab.
"Mama wird sicherlich böse sein und nicht erlauben, dich wiederzusehen." Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen.
Havlar strich sie ihr vorsichtig mit seiner Pranke weg und schaute dann nachdenklich über ihren Kopf hinweg nach vorn, während er seinen Weg fortsetzte. Ja, Miri hatte Recht. Seine Schwester konnte wirklich streng sein. "Ich werde sagen, dass ich dich nicht vorm Wald gewarnt habe", verkündete er schließlich.
Miri aber schüttelte energisch den Kopf. "Das wäre eine Lüge."
"Aber sonst bekommst du Ärger."
"Ich schaffe das schon", gab sie unsicher zurück.
Nun war es Havlar, den Kopf zu schütteln. "Ich habe nicht aufgepasst, also werde ich die Strafe auf mich nehmen."
"Aber-"
"Keine Widerrede."
Murrend beließ Miri es dabei und schmiegte sich wieder an seinen Körper, der Wärme und Sicherheit ausstrahlte.
Zuhause angekommen erwartete Malar sie bereits mit verschränkten Armen. Kaum ihre beiden Verwandten erblickt, marschierte sie auch schon auf sie zu. Dabei musterte sie Havlar und seine Nichte von oben bis unten.
"Ihr wart im Wald?", fragte sie streng.
Ihr Bruder nickte stumm und schluckte.
"Ich bin-", wollte Miri sagen, doch unterbrach Havlar sie mit seinen Worten:
"Ich wollte ihr etwas von meiner Arbeit zeigen", antwortete er.
Malar runzelte die Stirn. "So?"
Sie schritt an Havlar heran und nahm ihre verweinte Tochter entgegen. "Ich dachte eigentlich, du wärst vernünftig", flüsterte sie ihrem Bruder dabei zu. Dann verkündete sie hörbar für beide: "In Zukunft werdet ihr euch wohl nicht mehr sehen."
Bei diesem Worten erstarrte Havlar und Miri schaute entsetzt zu ihrer Mutter auf.
Malar schüttelte nur den Kopf und wandte sich ihrem Bruder zu: "Guck nicht so. Ich möchte nicht, dass du sie in Gefahr bringst."
"Aber", widersprach Miri, "er hatte mir doch verboten, in den Wald zu gehen!"
Nun war es an Havlar, entsetzt zu Miri zu schauen. Er wollte doch die Verantwortung auf sich nehmen!
Malars Blick wanderte prüfend zwischen ihrem Bruder und ihrer Tochter hin und her. Dann schüttelte sie leicht den Kopf und seufzte. Offenbar erkannte sie die Wahrheit. "Nun gut, wenn das so ist ... für eine Weile wirst du Zuhause bei deinem Vater bleiben, Kleines." Dann blickte sie streng zu Havlar. "Bald werde ich wieder losziehen müssen, um frisches Butterkraut zu sammeln. Ich verlasse mich auf dich, Bruderherz."
Der Monsterjäger blinzelte ein paarmal verdutzt. Dann nickte er energisch.
"Und komm später zu mir, damit ich deine Wunden versorgen kann." Mit diesen Worten machte Malar sich mit ihrer Tochter im Arm auf den Weg.
Miri wank ihrem Onkel noch schüchtern lächelnd zu. Havlar erwiderte diese Geste und seufzte erleichtert.
Er würde sie also bald wiedersehen.
[Miri & Havlar Teil 2/2]