17.10.2019
Echo
Einst war Relok ein gefürchteter Mann. Er war Statthalter der Hauptstadt Sakris und hatte somit viel Einfluss. Wenn der König mal unterwegs war, wussten die Leute: Jetzt mussten sie aufpassen. Denn Relok war mindestens so ungeduldig, wie niederträchtig. Und so kam es nicht selten vor, dass er in seiner schlechten Laune Drohungen aussprach - und sie auch wahrmachte. Er war gut in seiner Arbeit, keine Frage. Aber er war kein guter Mensch. Normalerweise war man froh, wenn eine Person mit großer Entscheidungsmacht dem Volk nahe war. Nicht aber, wenn diese Person ein strenges Auge auf seine Mitmenschen hatte und über sie urteilte, wo er nur konnte. Passte sein Mantel nicht perfekt, wurde der Schneider, wenn Relok einen guten Tag hatte, lediglich über drei Monate weggesperrt. War das Brot älter, als eine Stunde und hatte Makel, sorgte er dafür, dass der Bäcker keine Brote mehr backen konnte. Die Leute trauten sich nicht, dem König davon zu berichten. Und wenn es doch mal jemand wagte, so Gnade seiner Seele, glaubte man der Person nicht, welche kurz darauf spurlos verschwinden würde.
Leise Stimmen sagten, der König kenne die Wahrheit, doch würde sie zugunsten der hohen Arbeitskraft Reloks nicht ernstnehmen. So war es ganz natürlich, dass die Unzufriedenheit im Volk wuchs. Sie mussten gegen die Gefahren der Natur, wie den Hunger oder Krankheiten, ankommen, mussten gegen konkurrierende Länder bestehen, mussten ihre Steuern bezahlen und dann sollten sie auch noch gegen einen einzelnen Mann, der durch seine Position schier unantastbar war, bestehen? Das konnte nicht des Königs Ernst sein!
Und so geschah es, dass die Menschen sich zusammenrauften. Sie begannen, sich heimlich, im Schein der Nacht, wenn die Stadtwachen nur noch müde ihre Runden drehten, in einer Schänke zu treffen, die in Zukunft als Heimat der Freiheit berüchtigt werden sollte. Jeden Abend trafen sich die stärksten Männer und die klügsten Frauen, um sich zu beraten und Pläne zu schmieden. Den König zu stürzen, wollten sie nicht riskieren, zumal dieser in den anderen Belangen gar nicht mal so schlimm war. Aber den Statthalter, den sollten sie kriegen. Den sollten sie gar sehr bald kriegen. Denn ein naher Kollege von ihm, in dessen Gunst sie standen, verriet ihnen, dass Relok sich aufmachen würde, die Stadt zu verlassen, um zum Nachbarsort Fleles zu reisen, da er dort seinen Bruder besuchen wollte. Es war eine wertvolle Information, für die der nahe Kollege, den man unter dem Namen Beniras kannte, keine weitere Gegenleistung erwartete. Man munkelte, dass Beniras anstrebte, Reloks Nachfolger zu werden und verstand daher, dass er alle Angebote eines Preises ablehnte. Die Position des Statthalters und der Frieden vor dem Tyrannen sollten wertvoll genug sein.
Als der Tag kam, an dem Relok aufbrach, um nach Fleles zu reisen, hatte man sich an einigen möglichen Pfaden, die er mit seiner Kutsche nehmen konnte, Schlupflöcher gesucht. Man wollte ihm auflauern und ihn überfallen. Der Plan klang simpel und doch war er heikel und komplex. Man hatte gedanklich einige Szenarien durchgespielt.
Man hätte Fallen stellen können, die Wege versperren, die Kutsche manipulieren.
Hätte sie schlichtweg mit aller Kraft angreifen können.
Doch wussten sie, dass die Begleiter der Kutsche, einige Stadtwachen, wie der Rest der Bevölkerung nicht gut auf Relok zu sprechen war. So wollten sie es mit Schauspielerei versuchen, um die Opferzahl möglichst gering zu halten.
Man engagierte ein paar Schauspieler. Talentiert, aber noch unentdeckt sollten sie sein. Aufstrebende, junge Leute suchten sie. Und sie fanden diese. Denn glücklicherweise fand parallel zu Reloks Reise ein großes Fest in Sakris statt. Da Relok keine großen Menschenmassen mochte und schon gar nicht die Euphorie des Festes, war man nicht überrascht, dass diese beiden Begebenheiten zeitlich so gut aufeinander passten. Die Mitwirkenden waren zuversichtlich, dass es gelingen würde, da man nicht nur einen Plan, sondern auch Talente besaß.
Das genaue Vorhaben sah vor, dass man sich in einigen Winkeln auf den Wegen verstecken würde. Da es mehrere Wege gab, die die Kutsche nehmen konnte, um ans Ziel zu gelangen, mussten die Leute sich großräumig verteilen. Es wurden kleine Gruppen von je drei Personen gebildet. In der Regel bestanden diese Trios aus zwei starken Männern und einem Darsteller oder einer Darstellerin. Zuvor hatten diese ihr Wissen um ihre Profession weitergegeben, damit auch wirklich nichts schiefgehen sollte. Jeder wurde eingeweiht in die Kunst des Schauspiels.
Man wollte einen Überfall vortäuschen, direkt auf dem Weg, den die Kutsche passieren würde. Wenn nicht Relok, so sollten die frommen Stadtwachen darauf reagieren und die Kutsche anhalten, um auszusteigen und den Konflikt zu lösen. Alles weitere hinge von der Güte und dem Verstand der Stadtwachen ab.
All jene, die an diesem Plan mitwirkten, wussten, dass er Risiken barg, die auch tödlich enden konnten. Doch ihr Bestreben, die Stadt vom Tyrannen zu befreien, war größer, als die Sorge um ihr eigenes Leben.
So zogen sie am Tag der Entscheidung los, um sich Relok zu stellen und ihn zu stürzen. Sie wollten ihm zeigen, dass das, was er tat, früher oder später auf ihn zurückfiel und dass all die Schandtaten, die er beging, sein Verderben sein würden. Wie ein Echo, das auf ihn zurückhallte.
Stunden vergingen, bis die Kutsche ihren Weg antrat und die Stadttore verließ. Doch schon bald befand sie sich in Gefilden, ungeschützt von der königlichen Macht. Abgesehen von ein paar Stadtwachen.
Das Gefährt sollte den Pfad am Rande einer Gebirgserhöhung nehmen. Somit war die Gruppe um Relain, Myro und Seralis es, die der Kutsche begegneten. Aufgeregt wie sie waren, kamen sie hinter einem Felsen am Fuße der Erhöhung zum Vorschein, genau dann, als die Kutsche im Inbegriff war, diesen zu passieren.
"Hilfe! So helft mir doch!", schrie Selaris aus voller Kehle, ihr Gesicht vor Verzweiflung verzerrt.
Die junge Frau wurde von Relain und Myro festgehalten. Während der eine ihre Arme hinterm Rücken verschränkte, hatte der andere sie am Kragen gepackt und "Schnauze!" gebrüllt. Beide sahen sehr ruppig und zerlumpt aus, wie Banditen, die schon länger keine feste Ortschaft mehr besucht hatten.
Die Kutsche wurde langsamer, während die erste Stadtwache bereits voller Tatendrang aus dem Wagen sprang.
"Haltet ein!", rief er und kam näher, den Blick voll Strenge.
Myro spuckte dem Neuankömmling vor die Füße und fragte grimmig: "Was willst du? Uns Zahnstocher anbieten?" Er machte einen Kopfdeut auf die Schwertscheide an der Hüfte der Wache.
"Vakis, komm zurück in den Wagen! Sir Relok wird ungeduldig", erschallte es aus der Fahrerkabine.
Hektisch schaute der Mann namens Vakis zwischen den Dreien hin und her, dann zur Kutsche.
"Bitte", flehte Selaris und löste sich widerstandslos aus den Griffen der anderen. "Ihr müsst den Terror beenden ... Relok hat schon so vielen Unschuldigen das Leben zerstört ..."
"Ihr wagt es-", entkam es Vakis zunächst, doch hielt er dann inne. Er senkte den Blick und gab kleinlaut zu: "Ich weiß. Aber was soll ich machen? Wenn ich versuche, ihn loszuwerden, dann-"
"Vakis", kam es entnervt aus der Kutsche. Es war Reloks Stimme.
"Dann nimm deine Kollegen zur Hilfe", ergänzte Myro. "Jetzt gerade seid ihr allein mit ihm. Ohne Zeugen."
Relain grinste bei der letzten Aussage Myros verschmitzt.
"Es ist nicht so einfach ..."
"Doch. Einfach ganz laut schreien." Damit trat Relain vor, griff nach Vakis' kleinem Finger und verbog ihn.
Als dieser anfing, vor Schmerz und Überraschung zu schreien, stiegen die anderen Stadtwachen aus und zückten ihre Waffen. Unschuldig erhob Relain die Hände und trat ein paar Schritte zurück.
"Nun sag ihnen, was los ist", forderte Myro und zog Relain am Kragen noch ein weiteres Stück zurück.
Die Schwerter vor sich haltend waren die anderen Stadtwachen jederzeit bereit, zuzuschlagen.
Selaris lächelte entschuldigend.
"... Also ...", keuchte Vakis, "ihr seid doch auch gegen Relok ..."
"Hüte deine Zunge", zischte der scheinbare Anführer des Quartetts. "Aber ... Du hast Recht", fügte er leiser an.
Die restlichen Stadtwachen tauschten verwirrte Blicke aus und nickten sich stumm zu. Auch sie waren gegen Relok.
"Wie wäre es dann, wenn ihr-" Selaris wollte gerade vorschlagen, sich gegen Relok zu verbünden, als Genannter höchstpersönlich aus der Kutschte trat und zu den anderen marschierte. Sein Blick voll Strenge hatte er die Arme hinterm Rücken verschränkt. Kleine Äderchen traten an seiner linken Schläfe hervor.
"Was wird das hier?!", brüllte er wutenbrannt. "Wozu habe ich euch eigentlich? Damit ihr mit ein paar Banditen und ..." Naserümpfend schaute er an Selaris herab. "Einer Hure Gespräche führt?"
Sie ließ sich den Ärger nicht anmerken.
"Nein, Sir, ich-", wollte Vakis anbringen, doch schnitt Relok ihm die Worte ab.
"Nein, nein, schon gut! Was hätte ich auch anderes erwarten können? Bist ja nur ein Bursche, ihr habt es ja nicht so mit Pünktlichkeit und Arbeitseifer. Schande, diese Jugend." Abwesend fügte er hinzu: "Schande, diese Menschen ..."
"Bitte, Sir", flehte Vakis, doch stieß er dabei auf taube Ohren.
Relok wandte sich mit einer wegwerfenden Handbewegun von ihm ab und machte sich wieder auf den Weg zur Kutsche. "Das wird noch ein Nachspiel haben", murmelte er.
Da reichte es ihm.
Auf halbem Wege zur Kutsche hatte Relok nun ein Schwert in der Brust stecken. Ungläubig schaute er an sich hinab, dann wandte er seinen Kopf nach hinten - doch verließ ihn die Kraft, ehe er ins Antlitz seines Mörders blicken konnte.
Keuchend und mit kaltem Schweiß auf der Stirn blickte Vakis auf den Leichnam hinab. Das hatte er nicht gewollt. Nicht so.
"Ich ...", stammelte er. Dann spürte er die Hand seines Meisters auf der Schulter.
"Die Leute werden es dir danken. Nur fürchte ich, dass es nicht so einfach sein wird, das Gericht davon zu überzeugen, dass wir alle unschuldig sind."
"Schon gut", wisperte Vakis. "Ich ... werde von hier verschwinden. Weit, weit weg. Mir war das Leben als Stadtwache ohnehin öde ..." Er spürte ein Klopfen auf seiner Schulter.
"Ich kenne da ein paar Leute, die dir bei einem Identitätswechsel behilflich sein können", lächelte der Anführer seinem Lehrling entgegen.
Und so begab es sich, dass Relok das Diesseits verließ und die Hauptstadt Sakris aus den Händen des Tyrannen befreit wurde. Der König war betrübt über den Verlust seines tüchtigsten Untertans, doch verstand er wohl tief in seinem Inneren, dass der Geist der Vergeltung ihn besucht haben musste, um ihren Preis einzufordern.
Relok hatte viel genommen und so musste er viel geben.
Sein einst engster Mitarbeiter Beniras, der den Menschen die Information über die Reise Reloks gegeben hatte, wurde zu seinem Nachfolger ernannt und war sichtlich froh über seinen Aufstieg. Wie sich herausstellte, war auch er ein sehr tüchtiger Mann. Und so geriet auch Relok im Verstand des Königs schnell in Vergessenheit. Die Bevölkerung allerdings schmeckte immer noch die Bitterkeit des einstigen Tyrannen.
Und bald schon wurde diese Bitterkeit lebhafter, stärker. Denn nicht nur zeigte Beniras neue Seiten von sich, die positiv einzustufen waren. Nein, auch negative Seiten kamen zum Vorschein. So begann auch er mit der Zeit, die Macht, die er hatte, auszunutzen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Auch er schimpfte mit den Leuten, wie es ihm beliebte, sperrte sie ein oder ließ sie anderweitig verschwinden. Er war durchaus Reloks Nachfolger. Ein Nachfolger bei der Arbeit und ein Nachfolger bei der Boshaftigkeit. Der Kreislauf des Schreckens ging weiter.
Denn ein Echo kommt immer wieder und verhallt nicht einfach.
Und so heißt es, dass die stärksten Männer und die klügsten Frauen sich auch heute noch in der Heimat der Freiheit treffen, um über den Sturz Beniras zu beraten. Auf dass sie dem Namen doch noch alle Ehre machen.