24.10.2019
Gefäß
Nur noch ein kleines Bisschen ... nur noch ... ein paar Tröpfchen.
Vorsichtig ließ Wolfried über einen Schlauch die Flüssigkeit in das Gebilde vor sich träufeln. Er hatte einen extra breiten Schlauch genommen, damit die Flüssigkeit nur möglichst kurz in einzelne Tropfen aufgespalten wurde. Denn er war sich nicht sicher, welche Auswirkungen diese Spaltung auf die Seele hätte, die er mühselig in flüssige Form gebracht hatte.
Vorsichtig rückte er sich das große Gestell auf seiner Nase zurecht, an dem einige Linsen übereinander lagen. Ein wenig justierte er sie noch, dann sah er die Seelenflüssigkeit wieder klarer. Es war schon ein unglaublicher Durchbruch gewesen, diese besondere Brille zu erschaffen, mit deren Hilfe der Träger Seelen in jeglicher Form erkennen konnte. Jahrelang hatte Wolfried dafür die Augen der Seelenfresser studiert, um zu verstehen, was genau ihnen das Sehen von Seelen ermöglichte. Welche Mechanik dahintersteckte. Mit dem Erschaffen der Linse konnte er nicht nur im Stillen - ohne seinen Kollegen etwas davon preiszugeben - die These belegen, dass so etwas, wie Seelen existierte, sondern auch weitere Forschungen anstellen. Damit sollte es nicht nur bei einem einzigen Durchbruch bleiben.
Denn ebenso war es eine große Erkenntnis gewesen, dass er es doch tatsächlich schaffte, eine Seele in Flüssigkeit zu verwandeln. Zunutze machte er sich dafür den Speichel von Seelenfressern. Die darin enthaltenen Enzyme spalteten nämlich Seelen. Viele Opfer hatte es gebraucht, aber schließlich hatte er es geschafft, die Enzyme in ihrer Funktion soweit einzudämmen, dass sie die Struktur der Seele lediglich grob in eine feinere Masse aufspalteten, aber nicht soweit auflösten, dass sie unbrauchbar wurde.
Bloßes Weihwasser war die Lösung gewesen. Bei dem Gedanken daran musste er leise schmunzeln, war es doch letztlich so simpel. Es schien, als sei Gott ihm in seiner Forschung gewogen, obwohl es doch so viele Gesetze gab, die es ihm verboten. Und das, obwohl er bereits so viele Schlupflöcher nutzte, wie es ihm nur irgend möglich war. Schadensbegrenzung, sollte man seine Forschung mal aufdecken. Vielleicht würde damit aus der 14-fachen Todesstrafe, die er sich mal aus seiner alten Erfahrung mit der Juristik errechnet hatte, lediglich eine zehnfache werden, wenn er betonte, dass er sich bei manchen Punkten lediglich in der Grauzone bewegte. Vorausgesetzt, man würde ihn dafür mal vor Gericht stellen.
Er seufzte.
Und schreckte auf, als ihm einfiel, dass die Seelenflüssigkeit nun vollständig ins Gefäß geflossen war. Mit ein paar hastigen Handbewegungen zupfte er nun den Schlauch aus dem Mund der menschengroßen Puppe und schüttelte sie ein wenig, um zu lauschen, ob sich die Seele auch gut in ihrem Inneren verteilt hatte. Sie klang wirklich ... wie ganz gewöhnliches Wasser. Das hatte er bereits zuvor feststellen dürfen und doch faszinierte es ihn auch jetzt noch.
Vorsichtig ging er einige Schritte zurück und justierte die große Mehrfachlinse vor seinem guten, rechten Auge noch ein wenig, bis er schließlich durch den Torso der Puppe ein leichtes, violett anmutendes Schimmern wahrnahm. Die Seele. Sie regte sich, wie eine Nebelkugel, im Inneren des Gefäßes. Langsam fing sie an, zu pulsieren. Immer mehr und mehr. Es passierte so schnell, dass er gar nicht wusste, wie er hätte reagieren können.
Dann mit einem Mal hörte Wolfried einen lauten Knall.
Als er die Augen, die er aus Reflex geschlossen hatte, wieder öffnete, fand er sich an der Wand wieder. Was auch immer dort passiert war, die daraus entstandene Wucht hatte ihn an die Wand geschleudert. Neben ihm lagen diverse Scherben von Phiolen. Einzelne Flüssigkeiten vermischten sich untereinander und nahmen neue Farben an. Er wusste nicht, welche Risiken diese Neukombinationen bargen und das wollte er auch gar nicht herausfinden.
Denn dies bedeutete, dass er dort in seinem Labor bleiben müsste. Nach einem kurzen Blick durch den Raum, dessen Fenster völlig zerschmettert waren, beschloss er allerdings, lieber von dort zu verschwinden. Denn sicherlich war dieser Knall nicht ungehört geblieben. Die Stadtwachen waren sicherlich schon auf dem Weg.
Wolfried lebte nach dem Motto: Was direkt unter der Nase liegt, kann nicht so leicht gesehen werden. Deswegen hatte er vor vielen Jahren beschlossen, das Haus einer alten Witwe zu kaufen, die in ihrer Gebrechlichkeit und nach dem Tod ihres Gatten zu ihrem Sohn und seiner Familie ziehen wollte. So hatte er sich auf dem wohlbehüteten Dachboden sein Labor aufgebaut.
Man hatte nie etwas von seinen Experimenten bemerkt. Nun aber, nach diesem Knall ... sollte er vielleicht doch besser verschwinden.
Wolfrieds Blick wanderte zum Gefäß der Seele. Erneut justierte er die Linse, die durch den Knall einen Sprung bekommen hatte. Die Seele pulsierte immer noch, allerdings nun schwächer, als zuvor. Wolfried vermutete, dass sie sich stabilisierte.
Langsam stand er auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
"Kannst du mich hören?", fragte er in den Raum hinein.
Stille. Keine Antwort.
Er wartete ab, dass der umhergewirbelte Staub, den der Knall verursacht hatte, sich legte. Dann wurde sein Blick auf die Gestalt frei.
Wie eine gewöhnliche, menschengroße Puppe stand sie da, den undefinierten Körper in ein dünnes Hemd und eine dünne Hose gehüllt. Nichts Besonderes. Nicht einmal Schuhe hatte Wolfried ihr gegeben, nur das Allernötigste. Das Gesicht, welches keine genaue Einschätzung des Geschlechts zuließ, war ausdruckslos und blank. Nicht mal Haare hatte die Gestalt.
Nur langsam, ganz langsam bewegten sich die Augenlider, schlossen und öffneten sich. Blinzelten. Das Licht der Lampe wurde in den Glasaugen reflektiert und ließ die blauen Iriden noch heller erscheinen.
"... Wo bin ich?", fragte eine hohle, nicht weiter definierbare Stimme.
Wortlos ging Wolfried zum steinernen Schacht des Schornsteins, welcher senkrecht an der Wand entlangverlief. Mit ein paar gezielten Handgriffen verschob er die Steine und es offenbarte sich ein kleines Loch, durch das man gelangen konnte.
Sich zur Puppe umdrehend, streckte er ihr seine Hand aus und sagte: "Folge mir. Ich erkläre dir auf dem Weg alles." Alles, außer der Umstände, die sie in diesen Zustand gebracht hatten. Immerhin war er es, der vor wenigen Tagen noch ihren menschlichen Körper auf seinem Operationstisch liegen hatte, um an dessen Seele zu experimentieren.
Eine von vielen Seelen und die einzige, die noch übrig war - in flüssiger Form.
Die Puppe schien seine Worte vernommen zu haben. Dennoch zögerte sie.
Dann aber spürte er die kalte Puppenhand in der seinen und zog sie mit sich. Kurz darauf verschwanden sie im dunklen Schacht.