05.10.2019
Hohlraum
Helena stand vor ihrer Staffelei und betrachtete die Skizze vor sich. Graue Bleistiftlinien zogen sich über die Leinwand und formten das kantige Gesicht ihres Ehemannes seit gut vierzig Jahren, welches sie teils aus dem Gedächtnis, teils aus der Betrachtung gezeichnet hatte. Viele Tage hatte sie gebraucht, in denen ihr vor allem sein Mund mit dem markanten, leicht schiefen Lächeln eine Herausforderung gewesen war. Doch nun war sie endlich soweit, mit der Colorierung beginnen zu können. Zuerst war die Haut dran. So tauchte sie den Pinsel ins Wasser, ließ ihn zum Tuschkasten wandern und stockte. Welche Farbe wollte sie nochmal mischen?
"Den Schlüssel hast du mitgenommen?", fragte Albert seine Frau.
"Ja doch", sagte Helena genervt und wühlte in ihrer Jackentasche. Doch fand sie nichts vor. "... Nein", korrigierte sie und ging nochmal durch die offene Tür ins Haus.
Ihr Mann seufzte. "Das ist nun schon das dritte Mal. Meinst du wirklich, es wäre nicht besser, wenn ich mich um den Schlüssel kümmere? Dann landet er auch nicht mehr im Kühlschrank."
Helena kam mit Handschuhen aus dem Haus und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. "Nein", brummte sie, während sie die Tür hinter sich schloss.
Ihr Mann hatte keine Zeit, sie davon abzuhalten.
Wortlos schauten die drei auf das Blatt Papier vor Helenas Nase.
Dort aufgezeichnet war ein Dreieck, an dessen Spitzen die Himmelsrichtungen angegeben waren. In der Mitte befand sich ein Punkt, bei dem Helena sich unschlüssig war, wie sie diesen ergänzen sollte.
"Sind Sie sich sicher, dass das so korrekt ist?", fragte Doktor Friedrichs.
Helena schüttelte den Kopf. "Nirgends passt das S hin."
Albert hob seine Brille ein Stück weit an und rieb sich über die Augen. Er brachte kein Wort heraus.
Derweil machte Doktor Friedrichs sich Notizen auf seinem Klemmbrett.
Die Aufgabe war es eigentlich gewesen, eine Uhr zu zeichnen.
"Wie sind Sie hier reingekommen?!" Helena schubste den Mann mit kantigem Gesicht gegen die Kommode, von der polternd eine Tonvase zu Boden fiel und zerschepperte. Panisch schaute sie sich nach etwas um, mit dem sie sich vor dem Fremden verteidigen konnte.
"Helena, Schatz, ich bin es ...", entkam es dem hilflos dreinblickenden Mann. Vorsichtig kam er näher und streckte seine Hand nach ihr aus.
"Fassen Sie mich nicht an!", kreischte sie und verpasste ihm eine Ohrfeige. Dann lief sie zum Wohnzimmertisch, nahm das Telefon und wählte mit zittrigen Händen die 110, während sie den in Tränen zusammenbrechenden Fremden stets im Auge behielt.
Verträumt schaute Helena vom Bett aus gegen die weiße Decke des Patientenzimmers.
Albert stand neben ihr und schaute aus dem Fenster. Er konnte sie nicht mehr ansehen, ohne das Gefühl zu haben, sein Herz würde verkrampfen.
Seit Wochen hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Ihre Bewegungen wurden immer unkooridinierter, beeinträchtigter. Sie wusste nicht mal mehr, wie man einen Löffel benutzt.
Helena war nur noch eine Hülle der Frau, die er 1968 geheiratet hatte. Jeden Tag starb sie ein weiteres Stück. Ließ ihn zurück.
Und nun summte sie das Lied, welches sie während ihrer Fahrt in die Flitterwochen auf Dauerschleife gehört hatten.
Helena hatte vergessen, wie man atmet. Diese Nachricht hatte ihn am Morgen ereilt. Nun war nicht mal mehr ihre Hülle übrig. Nur noch das, was sie zu Lebzeiten - zu ihren wirklichen Lebzeiten hinterlassen hatte.
Die Kassetten, die sie so gerne gehört hatte, erfüllten das Haus mit Liedern aus früheren Zeiten. Es waren bittersüße Klänge.
Die von ihr getöpferte Tonvase hatte Albert mühselig wieder zusammengeklebt. Sie stand nun auf dem Dachboden in einem alten Umzugskarton.
Die Leinwand mit Alberts Portrait-Skizze, die hatte er unter einem weißen Tuch verborgen. Sie war mit einzelnen Pinselzügen beige coloriert, dann nicht weiter fortgeführt worden.