19.10.2019
Vorheriger Teil: Morgendämmerung (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65276-morgendammerung)
Mitternacht
Wie lange er schon sein Dasein hier fristete, wusste er nicht. Emram wusste gar nichts mehr.
Nein, das stimmte nicht. Er wusste noch, dass er die Nacht mochte. Das Licht des Mondes war weitaus milder, als die Sonnenstrahlen. Und im Mondlicht musste er seinem Antlitz nicht gegenübertreten, wenn er sich wieder am Fluss niederließ, um etwas zu trinken. Er mochte den eigenen Anblick nicht. Ihm wurde übel davon. So übel wie an dem Tag, als er im Licht der Morgendämmerung das erste Mal seine neue Natur wahrnahm. Das Biest in ihm, das einen unstillbaren Hunger verspürte.
Er wusste nicht mehr, wie er seinen Weg in die Scheune gefunden hatte. Oder wie diese Person, die in ihrer roten Lache vorm Eingang lag, so zugerichtet werden konnte. Das einzige, was er hierzu wusste war, dass es ein Festmahl gewesen war. Eines, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte.
Immer noch hatte er den angenehmen Geschmack von Eisen im Mund. Er schluckte. Seitdem hatte keine der Mahlzeiten mehr so gut geschmeckt, wie seine erste es tat.
In diesem Zustand, in dem er sich befand.
Dabei war es nicht so, dass er sich nicht bemühte. Durchaus hatte er sich nach diesem Mahl noch ein weiteres gesucht und noch eins und noch eins. Aber nie war es zufriedenstellend. Immer noch haftete dieser unnachgiebige Hunger an ihm, hüllte seinen Verstand ein. Brachte eine Dunkelheit über sein Denkvermögen, die er nicht zu vertreiben schaffte. Eine Finsternis, die der tiefsten Nacht glich.
Einzig und allein kleine Sterne konnte er hervorbringen; einzelne Momente, in denen die Klarheit seiner einstigen Menschlichkeit ihren Weg zurück an die Oberfläche schaffte.
Doch was brachte dieses Funkeln schon?
Nichts.
Der Schein der Sterne hielt ihn nicht davon ab, Gnade gegenüber seinem letzten Opfer zu zeigen. Immer noch spürte er das warme Blut an seinen deformierten Händen, die so knochig waren, wie die einer mumifizierten Leiche. Seine ohnehin schon langen Finger wirkten durch ihre krallenartigen Nägel ein gutes Stück länger.
Stumm verharrte der Blick auf seiner Rechten. Starrte auf das Rot. Langsam führte er die Hand zum Mund. Und biss in das rohe Stück Fleisch, das er hielt.
Die Sterne verblassten. Sein Verstand war wieder eingehüllt in Dunkelheit.
Er schluckte. Es schmeckte so gut.
[Emram Teil 2/3 Ende -> Teil 3 bei "Heilung" (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65286-heilung)]