21.10.2019 - FSK 16
Vorheriger Teil: Mitternacht (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65284-mitternacht)
Heilung
Wild blickte Emram um sich. Von allen Seiten konnte er nun die Schritte hören, welche sich unter das Rauschen des tiefen Waldes mischten. Sie hatten ihn eingekesselt.
Knurrend und zähnefletschend, die Augen weit aufgerissen, spannte sich sein Körper an. Speichel tropfte zu Boden. Seine Schlitzpupillen wanderten unstetig umher, als würde er hoffen, noch entkommen zu können, wenn er nur rechtzeitig die ersten Gestalten ausfindig machte, die sich auf den Weg zu ihm machten. Doch ahnte er bereits, dass das nichts bringen würde. Sein letztes Bisschen Menschenverstand, das ihm noch geblieben war, schrie ihn an, dass es ausweglos sei und er nun nichts weiter mehr war, als eine verlorene Seele.
Sein Kopf drehte sich knackend in die Richtung, aus der das Rauschen von Blättern lauter wurde. Für Menschenohren nicht zu vernehmen - für Emram aber fast schon Lärm.
"Los!", kam der Befehl aus dieser Richtung.
Kaum waren diese Worte ausgesprochen, schossen aus allen Richtungen silberne Spitzen hervor, die sich in sein Fleisch bohrten. Knurrend stürzte er auf die Knie und stellte fest, wie die Sicht sich verzerrte. Fahrig griff er nach einem der silberbeschichteten Pfeile, doch verhinderten die Widerhaken an ihnen, dass er ihn herausziehen konnte.
Ein zorniges Brüllen entkam dem Biest und es funkelte die Männer an, die sich nun aus ihren Verstecken wagten. Seine Reißzähne blitzten ihnen bedrohlich entgegen.
Hinter den Schützen kam eine weitere Gestalt hervor.
Emrams Augen fixierten diese Person, während seine Stimme erstarb und sein Körper sich verkrampfte. Die Widerhaken der Pfeile bohrten sich weiter in sein Muskelfleisch. Doch das war ihm egal. Alle seine Sinne waren nur auf diese eine Gestalt gerichtet, auf dieses reinweiße Wesen, das sich in diesen dunklen Wald verirrt haben musste.
Nein, es war gezielt dort. Das wusste Emram genau.
Er war gelähmt von dem Anblick, von dem Klang der leichten Schritte über den staubigen Waldboden. Wie ein Geist schwebte das junge Mädchen zu ihm. Sein gesamter Körper zitterte, als ihm ein Knurren entwich. Alles in ihm schrie danach, zu fliehen.
Lauf. Lauf, verdammt! Lauf, sonst verschlingt sie dich!
Doch war er immer noch gelähmt. Was er auch tat, er könnte sich keinen Fingerbreit bewegen.
Und dann erreichte sie ihn.
Das Mädchen in weißem Nonnengewand hockte sich zu ihm hin. Ihre zierliche, bleiche Hand wanderte zu seinem Kinn, während einige Männer im Hintergrund ihren Unmut aussprachen. Auf diese Äußerungen jedoch schüttelte sie nur leicht den Kopf. Dann hob sie Emrams Kinn leicht an. Inzwischen rannen Tränen der Angst seine Wangen hinab. Als Antwort umspielte ein warmes Lächeln ihre Lippen.
"Bald wirst du wieder frei sein", sagte sie mit einer Stimme, die aus dem Himmel stammen könnte.
Emram erwiderte darauf nichts. Er spürte nur, wie sein Verstand sich leicht aufklarte, als er diese Worte wahrnahm. Dennoch blieb die Angst.
Diese heilige Präsenz, die das Mädchen ausstrahlte - sein ganzes Dasein sträubte sich mit all seiner Unheiligkeit dagegen. Sein Zustand erschwerte es ihm, ihre Hilfe anzunehmen.
So öffnete er nur den Mund, dessen Atem nach rohem Menschenfleisch und Blut roch, und schnappte nach dem Gesicht des Mädchens.
Die junge Nonne wich zurück und setzte einen nachdenklichen Ausdruck auf, während einige Männer auf Emram zukamen und ihn, zusätzlich zu den Pfeilen, festhielten.
"Seid Ihr sicher, dass wir es nicht beenden sollten?", fragte einer von ihnen. Er hatte sichtbar Mühe, das nun tobende Biest festzuhalten. Das Silber der Pfeile verlor an Wirkung und er gewann allmählich an Bewegungsfreiheit zurück. Gröhlend schnappte er nach den Fingern der Männer.
Das Mädchen nickte. "Ich werde ihn von diesem Fluch erlösen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann."
"Aber was, wenn-" Ihr strenger Blick ließ den Mann verstummen.
Dann kniete sich die junge Nonne auf den Boden und faltete ihre Hände zusammen. Etwas Silbernes blitzte in ihnen auf. "Lasst ihn los."
Zögerlich ließen die Männer ihn los. Wie auf ein Startzeichen stürzte Emram sich nun auf das junge Mädchen, welches sich ihm so ganz ohne Wehr anbot.
Seine Zähne versanken im Fleisch ihres Halses. Die Sehnen und das Blut machten den Hals zu einem der besten Stücke, das wusste er. Gerade wollte er ein gutes Stück ihres Fleisches rausreißen, als er einen Impuls an seinem Herzen verspürte. Sein Körper erstarrte. Kalte Hände erfassten seinen Kiefer und lösten ihn vorsichtig vom Hals. Das Biest kippte zur Seite. Zittrig wanderten seine Schlitzpupillen zum Mädchen.
Das Weiß ihres Gewandes war nun von dunklem Blut befleckt, welches ihren Hals hinabrann. Die umstehenden Männer richteten ihre Bögen und Speere auf ihn, während einer mit einem Lederkoffer zu ihr eilte und sie ärztlich versorgte.
Dieser betörende Duft von Blut ... er stieg ihm in die Nase. Emram schmatzte lethargisch und genoss den Geschmack des Eisens in seinem Maul. Langsam wanderten seine Iriden nach oben und seine Augen schlossen sich.
Verschlungen von Dunkelheit.
Den Hals inzwischen in Verband eingewickelt, sah Lydia auf den Bewusstlosen hinab, dessen Kopf auf ihrem Schoß ruhte.
Der Exorzismus war durch den Blutverlust zwar nicht einfach gewesen, aber dennoch ein voller Erfolg. Sie hatten es geschafft und ihm nun seine normale, menschliche Gestalt zurückgegeben. Das verfluchte Amulett, welches mit seinem Herzen verwachsen war, hatte sich von seinem Körper gelöst und lag nun, provisorisch in einem Leinentuch eingewickelt, neben ihr. Sie würde sich in der Kirche darum kümmern, den Fluch endgültig zu entfernen, auf dass niemand mehr von ihm befallen würde.
"Es gibt noch so viel zu tun", murmelte sie. So viele verfluchte Schmuckstücke waren dort draußen im Umlauf. Lydia und ihre Schwestern sollten sich beeilen, um die Zahl der Opfer möglichst gering zu halten.
Sie schloss die Augen und stieß Luft aus.
Dann faltete sie die Hände zusammen und betete ein letztes Mal um Vergebung für seine Seele.
Möge man ihm, der auch nur ein Opfer war, vergeben für die Taten, die er in Erblindung durch den Fluch vollbrachte.
Ein letztes Mal strich sie ihm mütterlich durchs Haar, dann stand sie auf.
"Kümmert euch bitte gut um ihn." Ihr sanfter Blick wanderte durch die Runde und die Männer nickten einstimmig. Wie konnte man sich auch ihrer himmlischen Stimme entziehen?
Dann machte Lydia sich auf den Weg.
[Emram Teil 3/3 Ende]