30.10.2019
Verbrennen
Der Berg erhoben.
Stieg hinauf in den Himmel.
Zeigte sich allen.
Der Horizont brüllte. Steingraue Schwingen warfen Schatten auf die Stadt und erweckten den Eindruck, es sei tiefste Nacht. Dabei stand die Sonne so hoch am Himmel, wie es ihr nur möglich war. Jeder einzelne Flügelschlag ließ die Landschaft erzittern. Die Mauern der Stadt konnten dem Sturm nur mit Mühe und Not standhalten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zusammenbrechen und die Häuser, die sie eigentlich beschützen sollten, mit ihren Brocken zertrümmern würden. Die umliegenden Wiesen und Felder wurden vom Sturm, den jeder Flügelschlag beschwor, nach und nach in trostlose Erdlandschaften verwandelt. Alles Leben darauf erloschen.
Diejenigen, die das Ende nicht akzeptieren wollten, eilten durch die Straßen, verschanzten sich schnell in ihren Häusern und versuchten, sich in den Erdgeschossen oder Kellern in Sicherheit zu bringen. Doch stand bereits fest, dass das unbarmherzige Schicksal nichts war, vor das man fliehen konnte.
All jene mutigen Seelen, die einst gröhlend vor Motivation und Kampfgeist in die Schlacht gegen den steingrauen Drachen gezogen waren, mussten schnell feststellen, dass diese Bestie nichts war, was durch menschliche Kraft gebändigt oder gar getötet werden konnte. Manche waren stur und versuchten es weiter, doch auch sie wurden mit dem Verstreichen der Zeit und den sich anhäufenden Opfern davon überzeugt, dass es sinnlos war. Gepeinigt von der Erkenntnis des unaufweichlichen Endes liefen einige der gefallenen Kämpfer auf die offenen Felder und hießen den feurigen Atem der bestialischen Flugechse regelrecht Willkommen. Andere wiederum waren zu feige, es so schnell enden zu lassen oder ihnen fehlte die Bereitschaft dazu. Sie zogen sich zurück und nutzten die letzten Stunden des Lebens, um ihren Familien nahe zu sein und ihnen nochmal zu zeigen, wie sehr sie sie liebten. Andere, denen die Familie fehlte, beteten zu einer Gottheit, von der sie sich erhofften, sie könne sie erhören und erretten.
So herrschte bald in der Stadt kein reges Treiben mehr, denn auf den Straßen fanden sich inzwischen kaum mehr, als einzelne Menschenseelen, die rastlos umherirrten. Die meisten hatten sich verschanzt und versuchten, sich zu beruhigen und nicht dem Wahnsinn zu verfallen, indem sie sich von der stürmischen Außenwelt, den fallenden Stadtmauern und dem allgegenwärtigen Schatten der Drachenflügel abwandten. Kerzenschein, warme Decken und verrammelte Fenster sollten die Illusion schaffen, es wäre sicher und die Hoffnung wäre gerechtfertigt.
Doch wussten alle: Das Ende würde kommen.
Eine Schänke, in die sich einige der verletzten Überlebenen und die Stadtbewohner verschanzt hatten, bebte unter dem Sturm der Drachenflügel. Dachbalken krachten und Holzstaub rieselte auf die Tische, an denen sie saßen. Alles drohte, jeden Augenblick zusammenzubrechen.
Ein kleines Mädchen flüchtete sich wimmernd in die Arme ihrer hilflosen Mutter, während diese ihr gut zusprach, ohne ihren eigenen Worten auch nur einen Funken Glauben zu schenken. Der Vater stand an der Wand gelehnt und sprach leise Flüche aus. Einer der gescheiterten Drachenjäger forderte einen Bierkrug nach den anderen, da er weder seine Schmerzen am zerfetzten rechten Bein, noch die allgegenwärtige Hoffnungslosigkeit mehr aushielt. Der Schankwirt zögerte zunächst, doch schenkte er dem Mann schließlich doch ein Bier nach dem anderen ein. Auch viele der anderen begannen mit der Zeit, ihre Sorgen zu ertränken. Denn etwas anderes, als auf den Tod zu warten, blieb ihnen nicht übrig und die meisten waren zu feige, sich dem bei klarem Verstand zu stellen.
Wieder ertönte ein Brüllen und ließ die Wände und Menschen erzittern.
"Verdammt, wie konnte es nur dazu kommen?", brach es aus dem Familienvater aus.
"Schatz, bitte beruhige dich." Die Mutter hielt ihre Tochter immer noch im Arm und strich ihr tröstlich über den Haarschopf. "Es wird alles wieder gut", flüsterte sie dem Kind zu.
"Hör auf! Speise unser Kind nicht mit diesen Lügen! Siehst du denn nicht, dass es hoffnungslos ist? Schau doch nach draußen!" Er verschränkte die Arme und tappte ungeduldig mit dem Fuß auf die Holzdielen.
"Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, wir-"
"Und was rechtfertigt das?", unterbrach er sie.
Die Mutter fand keine Worte mehr. Das Kind an sich gedrückt, schaute sie ihrem Mann nur völlig entgeistert entgegen.
Er schüttelte nur den Kopf. "Ich halte es nicht mehr aus." Er ging an einen Tisch, um sich einen angebrochenen Bierkrug zu nehmen und ihn in einem Zug zu leeren. Dann marschierte er ohne weitere Worte hinaus in den Sturm.
Seine Frau wollte ihn noch zurückholen, doch hinderten die anderen sie daran, ebenfalls hinauszuschreiten. Es wäre besser, wenn sie bei ihrer Tochter bliebe. Wenigstens sie.
So gab sie schließlich die Wehr auf, unterdrückte ihre Tränen und lächelte dem verwirrten Kind entgegen.
"Wir werden Papa gleich wiedersehen. Er ist nur kurz weg, in Ordnung?"
Ihre Worte hallten durch den Raum und wirkten auf die anderen Erwachsenen wie Messerstiche. Während das kleine Mädchen zuversichtlich nickte und ihre Mutter umarmte, schwiegen die Anwesenden in stillem Gedenken daran, dass sie den morgigen Tag nicht mehr erleben würden.
Wieder erschallte ein Brüllen und die Erde begann, stärker zu beben. Die Mutter hielt ihre Tochter fest an sich und versperrte deren Sicht.
"Es wird alles gut, ich bin bei dir", flüsterte sie.
Warm hatte sie das Kind umschlossen, während die Holzbalken weiter knackten und brachen. Rauch bildete sich an den Dachbalken und ein leises Knistern wurde hörbar. Einige der an den Tischen Sitzenden erhoben sich und schauten nach oben.
"Bei Gott, das Ende ist gekommen", sagte der Schankwirt.
Einige der Anwesenden falteten die Hände zusammen und schwiegen, während das Lodern sich ausbreitete.
Augen geschlossen.
Alles Leben erloschen.
Feuer verschlang es.
[Drache Teil 1/2 Ende -> Teil 2 bei "Erneuern" (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65296-erneuern)]