18.10.2019
Süß
"Sag hallo zu Onkel Havlar", sagte Malar, als sie zu ihrer kleinen Tochter Miri an ihrer Hand hinab lächelte.
Miri aber zog es vor, sich hinterm Kleid ihrer Mutter zu verstecken und mit Furcht in den Augen zum großen Mann hinaufzuschauen. Der sah aber auch gruselig aus, mit diesen Kerben und Strichen im Gesicht, an denen seine Haut heller aussah, als sonst überall. Hatte er sich gestoßen? Hatte er mit Nudeln im Gesicht in der Sonne gelegen, weswegen er diese komischen, blassen Striche im Gesicht hatte? Sie wusste es nicht. Aber sie wusste, dass er ihr Angst machte. Dieser dunkle Blick, diese wuschigen Augenbrauen. Das Pelz um seinen Mund ließ ihn wie einen Bären erscheinen.
"Sag mal, Mama", blickte das Mädchen zu ihrer Mutter auf, die kleinen Hände immer noch im Kleiderstoff festgekrallt. "Hält Hallwa auch Winterschlaf?"
Schmunzelnd strich Malar ihr über den Kopf. "Nein, Schatz. Er braucht keinen Winterschlaf halten."
"Aber Bären-"
"Ich bin kein Bär", brummte Havlar und ließ das kleine Mädchen in Furcht erstarren. Als er merkte, dass er seine Nichte verschreckt hatte, schaute er zur Seite. Er wusste dennoch, dass seine Schwester ihn gerade tadelnd ansah.
"Sei bitte nicht so grob mit ihr, ja?" Missmut schwang in ihrer Stimme mit. Sie war sich unschlüssig, ob es eine so gute Idee war, Miri in seine Obhut zu geben, während sie unterwegs war, doch hatte sie sonst niemanden, der sich um Miri kümmern konnte und dem sie vertraute. Und eine andere Wahl blieb ihr nicht, da nur sie wusste, wie das Butterkraut, welches sie für die Medizin ihres Mannes brauchte, aussah und wie man es pflückte.
"Tut mir leid", murmelte ihr jüngerer Bruder in seinen kupferfarbenen Bart hinein und schaute immer noch zur Seite, gegen die Wand.
Dann kniff er die Augen zusammen und atmete tief durch, ehe er sich zur Kleinen hinkniete. Ein steifes Lächeln zierte sein Gesicht. Es schien nicht mit seinem Antlitz vereinbar. Seine Pranke zu ihr entgegenstreckend, sagte er: "Freut mich, Miri."
Zögerlich schaute sie zu ihrer Mutter auf, dann zu Havlar. Schließlich streckte auch sie ihre Hand aus und gab sie ihm. Sie wurde komplett von der seinen umschlossen.
Sie schüttelten die Hände und lösten sich wieder voneinander.
Dann richtete Havlar sich auf. "Du brichst also jetzt auf?", fragte er an Malar gewandt.
"So ist es." Sie schaute erst zu Miri, dann zu Havlar. Ein letztes Mal noch strich sie ihrer Kleinen über das kastanienbraune Haar. "Mama wird eine Weile fort sein, um Papa wieder gesund zu machen, damit er wieder mit dir über die Wiesen laufen kann, ja?"
Miri nickte. "Aber beeil dich", murmelte sie.
"Mache ich", lächelte Malar ihr entgegen. Damit gab sie ihr einen Abschiedschmatzer und wandte sich um. "Ich vertraue sie dir an, Bruderherz." Mit diesen Worten verließ sie das Zelt und ließ die beiden hinter sich zurück.
Sie hoffte, dass sie sich gut verstehen würden. Auch, wenn sie im Inneren immer noch Sorge trug, er würde zu ruppig mit ihr umgehen.
Miri saß am Tisch in der Mitte des Zeltes und ließ die Beine baumeln. Mit großen Augen sah sie ihrem Onkel dabei zu, wie er in der Ecke saß und einen Eisenschild polierte. Kurz nach Mutters Verschwinden hatte er ihr strengstens verboten, die langen Waffelbündel, oder so ähnlich, anzufassen. Dabei mochte sie Waffeln. Vor allem mit ganz viel Schneezucker. Hm. Ob ihr Onkel wohl auch Karamell mochte?
Doch konnte sie sich erst nach einer ganzen Weile des Schweigens dazu durchringen, ihn anzusprechen.
"Hallwa?", fragte sie leise.
Er reagierte nicht.
"Hallwa", wiederholte sie nun etwas lauter.
Ihr Onkel blickte von seiner Arbeit auf und ließ das Mädchen sofort wieder mit seinem Blick zurückweichen. Brummend korrigierte er: "Es heißt Havlar, nicht Hallwa."
"Haf ... Haff ... la. Haffla. So?", fragte es zögerlich.
"... Vergiss es", seufzte er.
Miri traute sich nicht, weiterzufragen, was sie denn vergessen solle.
So herrschte erstmal wieder Stille, in der sie weiter am Tisch saß und die Beine baumeln ließ, während ihr Onkel das Eisen des Schildes polierte, obwohl es ihrer Meinung nach schon viel zu sehr strahlte. So blendete er doch jeden, dem er damit entgegentrat.
Gähnend vor Langeweile streckte sie sich und legte sich, soweit ihre Größe es erlaubte, mit dem Oberkörper lang auf dem Tisch hin.
Sie wusste immer noch nicht, ob er Karamell mochte ...
Als sie wieder aufwachte, war Havlar gerade dabei, den Schild, der ihrer Ansicht nach kaum anders aussah, als vorher, beiseitezustellen. Gefressen hatte er sie scheinbar nicht, während sie schlief. Stattdessen realisierte sie gar, dass ihr Rücken von einer Pelzdecke gewärmt wurde. Sie war flauschig.
Vielleicht war Hallwa ja gar nicht so schlimm?
"... Magst du Karamell?", rang sie sich daher zu einer weiteren Frage durch.
"Nein", brummte er. "Ich hasse Süßes."
"Aber wozu dann diese Waffelbündel? Isst du deine Waffeln lieber mit Salz und Pfeffer?" Allein schon der Gedanke daran nahm ihr jeglichen Appetit.
"Das sind Waffenbündel. Darin sind Waffen, keine Waffeln. Mit den Waffen jage ich Monster."
Miri richtete sich ein Stück weit auf. Ihre Scheu nun von der Neugier unterdrückt, fragte sie weiter: "Kannst du ... zeigen, wie man mit denen jagt?" Miri stellte sich vor, wie er mit ein paar kleinen Raptoren über die Wiesen lief und sie jagte, so wie ihr Vater es bei ihr immer getan hatte, als er noch gesund war. Es hatte immer großen Spaß gemacht, vor ihm wegzulaufen. Zusätzlich zu Havlar aber stellte sie sich auch vor, wie er von ein paar Hunden, den Waffen, begleitet wurde. "Waff, waff!", kläfften sie in ihrer Vorstellung und jagten verspielt hinter den Raptoren her.
"... Viel zu gefährlich", riss Havlar sie wieder aus den Gedanken.
Auf Miris Gesicht zeichnete sich ein Schmollmund ab. Das Gespräch endete somit wieder und sie ließ ihre Beine hin und her baumeln, während sie zusah, wie er aus den Waffenbündeln ein paar übergroße Küchenmesser hervorholte. Hunde sahen anders aus. Nun begann er, auch diese zu polieren.
Murrend ließ sie sich wieder auf die Tischplatte fallen und schreckte auf, als sie sich knallend die Stirn stieß.
Wieder blickte Havlar auf und schaute mit düsteren Augen seiner Nichte entgegen. Er seufzte, legte das Messer beiseite und stand auf, um zu ihr an den Tisch zu gehen.
"Noch alles dran?"
Prüfend tastete Miri ihre Stirn ab und nickte. Sie weigerte sich, vor ihm zu weinen. So schniefte sie nur einmal, wischte sich kurz mit dem Ärmel über die Augen und schaute dann zur Seite.
Havlar stand eine Weile ratlos neben ihr und strich sich nachdenklich über den Bart. Dann fragte er: "Wollen wir etwas unternehmen?"
"Hm", überlegte das Mädchen kurz. Dann wandte es sich wieder Havlar zu. "Fangen spielen. Auf der Wiese."
"In Ordnung." Er packte sie am Arm und zog sie mit sich nach draußen vors Zelt.
"Wie viele Runden?", fragte er, während er seine Nichte losließ.
Murrend stellte Miri klar: "Wir laufen nicht im Kreis." Sie blickte zu ihm auf und legte den Kopf schief. Im Sonnenlicht sah er gar nicht mal so gruselig aus.
"Nein, das nicht. Aber wie oft soll ich dich fangen?"
In Gedanken zählte sie, ehe sie schließlich die höchste Zahl nannte, die ihr in den Sinn kam: "Zwellf mal."
"Nun gut, zwölf mal. Wie fangen wir an?"
"Du zählst bis zehn und ich verstecke mich in der Zeit, dann suchst und fängst du mich."
Havlar nickte. "Aber nur in Dorfnähe. Der Wald ist zu gefährlich."
Sie nickte.
"Dann ... fange ich mal an, zu zählen."
So hielt Havlar sich beide Hände vor Augen und begann, langsam von eins bis zehn zu zählen, während Miri sich hastig von ihm entfernte.
Als Havlar die Zehn erreicht hatte, blickte er sich um. Für ein kleines Kind war sie ganz schön flink. Aber ob sie auch so gut im Verstecken war, wie seine Beute? Das bezweifelte er. Und seine Ohren bestätigten es ihm. Zwar hatte er nichts gesehen, aber er hatte etwas gehört. Das sollte ausreichen, sie schnell zu finden. So marschierte er auf leisen Sohlen in die Richtung, aus der er den Klang seiner Nichte zuletzt vernommen hatte, stets darauf bedacht, selbst keinen Laut von sich zu geben. Dass die anderen im Dorf ihn komisch ansahen, war ihm egal. Wichtig war nur, sie schnell aufzuspüren. Er wollte nicht zu viel Zeit verschwenden, musste er doch seinen Schild neu mit Frostschutz beschichten und dann noch seine Zwillingsdolche zu Ende polieren, um sie anschließend mit Flammenöl einzureiben. Er hatte den Auftrag erhalten, einen Eisdrachen zu bezwingen und dies wollte er auch tun. Sobald Malar wieder Zuhause ankäme, würde er ihre Tochter - unversehrt - wieder an sie abgeben und selbst aufbrechen, um das Biest zu erledigen.
Vorher aber hatte er noch seine Nichte zu finden. Zwölf mal.
Und so machte er sich auf die Suche. Er folgte den Fußspuren im Gras, folgte seinem Gehör, sah sich stets in alle Richtungen um.
Bis er sie schließlich im Zelt des Schamanen fand. Sie am Arm packend, zerrte er sie ins Freie.
"Neue Regel: nicht in Zelten verstecken."
Das kleine Mädchen murrte, gab aber keine Widerworte. So setzten sie das Spiel fort.
In der zweiten Runde versteckte sie sich direkt hinter Havlars Zelt im Freien.
In der dritten Runde fand er sie in einer leeren Holzkiste beim Dorfschmied.
In der vierten Runde hatte sie sich in einem Heuhaufen versteckt. Ihr Argument war, dass der Stall kein Zelt war. Er gab ihr Recht.
In der fünften Runde hatte sie eine Gruppe Nachbarn dazu angestachelt, sich Havlar in den Weg zu stellen, damit er sie nicht bekam. Allerdings schaffte er es dennoch, deren Griffen auszuweichen und sich an ihnen vorbeizuschlängeln, um Miri zu erwischen.
In der sechsten Runde hatte die Verzweiflung sie auf einen Ast der Dorflinde getrieben. Zugegeben dauerte es eine Weile, bis er sie fand. Als er dann aber dort unten am Fuße des Baumes stand, die Arme verschränkt und den Blick auf Miri gerichtet, die erwartungsvoll zu ihm hinabblickte, während sie sich wie ein verirrtes Kätzchen am Stamm festhielt, entschloss er sich kurzerhand, ihr runterzuhelfen. So rüttelte er am Baum, bis Miri das Gleichgewicht verlor und runterfiel, um sie daraufhin aufzufangen und wieder auf sicherem Boden zu haben. Wirklich begeistert schien sie nicht darüber, obwohl sie sich vermutlich tatsächlich nicht von allein wieder dort hinuntergetraut hätte. Er konnte da nur verständnislos schnaufen und die nächste Runde einleiten.
Nun waren sie bei der siebten Runde angelangt. Havlar hatte das gesamte Dorf durchsucht, wirklich viele Möglichkeiten konnte es ja nicht mehr geben. Doch nirgends, nicht mal in den Zelten, fand er Miri. Um es ihr leichter zu machen, hatte er inzwischen sogar aufgehört, ihre Spuren vom Boden abzulesen. Nun aber sah er sich gezwungen, gegen dieses ungeschriebene Gesetz, welches er sich einige Runden zuvor selbst auferlegt hatte, zu verstoßen.
Er ging dorthin zurück, wo er immer gestanden hatte, um zu zählen. Dies war jedes Mal ihr Startpunkt gewesen. Dementsprechen viele Fußspuren sah er dort. Große von ihm, kleine von ihr. Vereinzelt konnte er auch noch die Fußspuren seiner Schwester ausmachen. Wann sie wohl wieder zurückkehren würde? Er musste Miri bis dahin finden, sonst befürchtete er Vorwürfe, dass er nicht wüsste, wo seine Nichte steckte.
Fangen spielen. Welch seltsames Spiel das doch war. Das fand er schon damals. Einerseits praktisch, da man dadurch je nach Rolle seine Fähigkeit des Verbergens oder die Fähigkeit des Spurenlesens schulen konnte. Andererseits aber gab man bereitwillig auf, zu wissen, wo der andere war. Nicht sehr förderlich, wenn man auf die andere Person aufpassen sollte. Das wurde ihm erst jetzt mit einem Seufzen klar.
Mit seinen Augen glich er die Ausrichtungen ihrer Spuren mit den Pfaden ab, die Miri bereits in den vorigen Runden genommen haben musste. Jene, bei denen er sich nicht ganz sicher war, ging er nochmal ein Stück weit ab. So arbeitete er sich durch die Spuren. Dabei fiel ihm eine ganz besonders auf. Als er dieser nämlich folgte, näherte er sich immer weiter dem nahegelegenen Wald.
Dabei hatte er ihr doch verboten, dorhin zu gehen.
[Miri & Havlar Teil 1/2 -> Teil 2 bei "Vertrauen" (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65287-vertrauen)]