15.10.2019
Verzerren
Ich befand mich in der Küche und war gerade dabei, ein paar Äpfel für den Kuchen zu schneiden. Mein Plan sah vor, ihn noch bis Nachmittag fertigzubekommen, denn ich war zu einer Geburtstagsfeier bei meiner Nichte Stephanie eingeladen. So sah ich also zu, wie die Hände vor meinen Augen in geübten Bewegungen, Stück für Stück, die geschälten Äpfel zerschnitten. Ich lauschte dem reißenden Geräusch der Äpfel und dem Klacken aufs Holzbrett unter ihnen. Irgendwie hatte es etwas Beruhigendes an sich. Und so summte ich leise eine Melodie vor mich hin, während ich abwesend die letzten Apfelstücke zerschnitt. Dann passierte es.
Mit einem brennenden Schmerzimpuls zischte ich und schaute auf die Hand. Aus dem Daumen der Linken trat Blut hinaus.
"Was für ein Dummerchen."
Das Rot glänzte mir entgegen. Ich biss die Lippen zusammen und ging zum Waschbecken, um die Wunde abzuspülen. Meine Rechte griff nach dem Wasserhahn, drehte ihn auf. Kurz sah das Wasser gelblich aus, dann aber war es durchsichtig. Und so hielt ich den Daumen ins warme Wasser und sah zu, wie das Rot vom Wasserstrahl aufgenommen wurde und sich wieder in den Hahn zurückzog. Ich blinzelte. Das Wasser war durchsichtig.
Inzwischen war kaum noch etwas vom Blut im Becken zu sehen, also entschied ich, dass es Zeit war, den Hahn zuzudrehen und ein Pflaster zu besorgen. Ich marschierte also in den Flur zum Erste-Hilfe-Kasten, um eine Packung Pflaster hervorzuziehen.
Hm, wie lange hatten wir das Ding eigentlich schon im Haus? Ich lugte auf das Verfallsdatum der Pflaster.
"Haltbar bis: Tod."
Ich schüttelte den Kopf. Es war erst seit drei Tagen abgelaufen, da sollte es doch nicht so schlimm sein, oder?
Ich legte mir also das Pflaster um.
"Keime, Keime, überall Keime!"
Nachdem ich den Kasten wieder verstaut hatte - die Packung Pflaster wiederum hatte ich nun als mahnende Erinnerung auf der Kommode im Flur positioniert - betrat ich wieder die Küche. Mein Daumen kribbelte.
"Sie krabbeln durch die offene Wunde in deinen Körper und töten dich! Drei Tage überfällig; haltbar bis: Tod."
"Schnauze, schau lieber nach vorn!"
Meine Augen weiteten sich, als ich die menschengroße Blutlache sah, die über den Boden wanderte und schließlich in den Rillen zwischen den Bodenfliesen versank. Ich rieb mir die Augen.
Das Telefon klingelte. Ich hastete zum Wohnzimmer, um das Gespräch entgegenzunehemen.
"CCCCCCCHHHHHHH"
Rauschen. 'Hallo? Ist da wer?'
"Nein, du Idiot, hier ist niemand! Ich bin ein Niemand!"
Ich legte auf. Meine Hände zitterten.
"Hallo? Ist da wer?" Ich drehte mich zur Stimme um. Nichts. Niemand.
"Ich bin ein Niemand!"
Ich spürte, wie mein Atmen sich beschleunigte, mein Herz unruhig wurde. Mein Griff glitt wieder zum Telefon.
"Pass auf, sonst kommen sie dich holen."
Ich zögerte. Meine Hand löste sich wieder vom Hörer, ich stand auf und ging zurück in die Küche. Immerhin hatte ich noch einen Kuchen zu backen.
Der Geruch von Rauch stieg mir in die Nase.
"Der Kuchen!" Hastig rannte ich zum Backofen und öffnete ihn. Ich hustete und fächerte all den Qualm hinfort, öffnete noch schnell das nahegelegenste Fenster. Dann glitt mein Blick zum Inneren des Ofens. Leer. Ich war noch gar nicht soweit gewesen.
Allmählich wurde mir schwindlig. Ich hielt mir den Kopf und richtete mich auf, um mir einen starken Kaffee zu machen. Während ich so neben dem Kaffeekocher wartete, wurde ich das ungute Gefühl nicht los, dass hinter mir jemand stand. Also drehte ich mich um. Niemand.
Ich schaute nach links und nach rechts. Halt. Da durch den Türrahmen war er doch verschwunden, ein völlig in Schwarz gekleideter Mann!
Fahrig griff ich nach dem Messer auf dem Schneidbrett neben den allmählich braun werdenden Apfelstückchen. Auf leisen Sohlen bewegte ich mich, mit kribbelndem Daumen, zum Türrahmen und suchte jeden kleinsten Winkel nach dem Mann ab. Stets bemüht, leise zu sein, öffnete ich jede einzelne Tür im Flur. Sie alle quietschten fürchterlich und so umfasste ich das Messer umso fester, sah immer mal wieder hinter mich, dass er mir auch wirklich nicht auflauerte.
Als ich einen immer lauter werdenden Atem über meiner Schulter wahrnahm und wie er meine Wange streifte, erstarrte ich.
"Lauf. Lauf so schnell du kannst."
"Nein, wehr dich lieber! Töte ihn, los!"
Ich habe Angst.
Meine Augen brannten und ich hatte einen Kloß im Hals. Langsam, das Messer mit der flachen Seite an meine Brust gepresst, wandte ich mich um. Da sah er hämisch grinsend auf mich hinab, während Speichel seine hervorstehenden Reißzähne hinabtroff, die denen von Anglerfischen glichen. Ich stieß ihm das Messer in die Brust und schubste ihn hinfort, um durch den Flur zum Hauseingang zu rennen und das Gebäude zu verlassen. Laufen.
"Lauf."
Einfach nur laufen. Wohin mich die Beine tragen konnten, dorthin wollte ich.
"Lauf weiter. Lauf weiter. Lauf weiter."
"Hey, Caro."
Ich habe Angst.
"Lauf weiter!"
Ich habe Angst!
"Deswegen sollst du laufen."
"Oder willst du sterben?"
Plötzlich hielt mich etwas fest.
"Fass mich nicht an!", schrie ich und fuhr herum.
"Hey, ganz ruhig", sagte der Fremde vor mir. "Was ist los? Ist irgendwas passiert?" Er lächelte mich an. Zeigte seine Zähne. Reißzähne.
"Das ist der von vorhin, oder?"
"Wieso hast du Idiotin dein Messer zurückgelassen?"
Ich weiß es nicht.
"Hey, alles in Ordnung?"
Ich weiß es nicht.
Flache Atmung, rasender Puls. Wie lange würde dieses Leben noch andauern?
"Haltbar bis: Tod; seit drei Tagen abgelaufen. Hier sehen wir ja, wohin das führt!"
"Lauf weiter, vielleicht kannst du ihm ja doch entkommen?"
Ich weiß es nicht.
"Was spricht gegen Versuchen?"
Ich weiß es nicht!
"Hey, sieh mich an."
Ein ohrenbetäubender Schrei hallte durch die Straßen.
Von wem er war?
Ich weiß es nicht.
Schwärze. Der schwarze Mann. Er hüllte mich, meinen gesamten Verstand ein.
Ob er mich verschlang?
Ich will es nicht wissen.
Ich habe zu viel Angst.