16.10.2019
Luxus
Marco war bemüht, sich auf den Namen Luis zu prägen, denn so nannte man seinen Bruder. Und den sollte er den ganzen Abend lang spielen.
Luis war der Ältere der beiden Zwillinge. Der Klügere. Der Erfolgreichere. Das Köpfchen. Was nicht hieß, dass Marco nicht ebenso Grips besaß. Seine Intelligenz war durchaus beachtenswert. Nur nicht so sehr, wie Luis'. Und um den ging es heute.
Heute war ein besonderer Abend, denn es sollte eine Auktion stattfinden. Genau genommen eine Auktion sämtlicher Statuetten, die Luis über die letzten Jahre angehäuft hatte. Er besaß viele Statuetten und Marco wusste bis heute beim besten Willen nicht, was seinen Bruder so sehr an diesen abstrakt deformierten Steinen interessierte. Aber das konnte ihm egal sein, nein, das war ihm auch egal. Was für ihn zählte, war das Geld, das er heute bekommen sollte. Denn zu einer Auktion gehörten immer Angebote, wie auch Bietende. Zwar stellte sowohl das eine, als auch das andere eine gute Geldquelle dar, aber diesmal sollte es ausschließlich um die Bietenden gehen.
Und so trat er ein in den großen Saal, wurde allseits umschwemmt von lebhaftem Gerede, das nie über die Oberfläche und das Geschäft hinausging. Marco musste keine zehn Fuß gehen, als sich bereits die ersten Köpfe zu ihm reckten.
Ein dicklicher, kleiner Mann im Jackett und mit einem Gläschen Sekt kam zu ihm herübermarschiert. Seine kurzen Beine staksten über die Marmorfliesen, als er das Glas ein wenig anhob und rief: "Luis! Schön, den Gastgeber anzutreffen."
"Die Freude ist ganz meinerseits, Ernesto." Marco kannte ihn. Luis hatte viel von ihm erzählt. Ernesto verdiente sich sein Geld hauptsächlich durchs Aufkaufen von Immobilien, um die Mietpreise zu - in seinen Worten - 'regulieren'. Nebenbei investierte er in Kunst und handelte mit ihr. Ein großer Fisch im Teich des Geldes.
"Sag, wie läuft es so?", wollte Ernesto wissen.
Marco zuckte die Schultern und lächelte leicht. "Soweit ganz in Ordnung. Ich werde sehen, was da noch auf mich zukommt."
"Dein Glück hätte ich auch gern, du alter Windhund!", knuffte Ernesto ihm laut lachend in die Seite. Dann erblickte er offenbar in der Menge eine andere Person, mit die er ins Gespräch kommen wollte, denn er sagte: "So, ich muss dann mal weiter, ein paar Geschäfte abhandeln." Damit zog er von dannen.
Verwundert blickte Marco ihm noch hinterher, wandte sich dann aber ab und schritt weiter durch den Saal, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Die Stimmung war ausgelassen, es wurde viel geredet und gelacht. Manche wagten gar, sich zur Melodie, die im Hintergrund von ein paar Musikern erzeugt wurde, zu bewegen. Essen und Trinken gab es reichlich. Marco beschloss, zum Büffet zu gehen.
Gerade, als er seinen vollen Teller mit ein paar Garnelen krönte, hörte er eine Frauenstimme hinter sich.
"Luis?"
Er drehte sich um und runzelte aus Reflex verwundert die Stirn. Das war eine Person, die er nicht kannte und genauso wenig einschätzen konnte.
Sein Gesichtsausdruck blieb der jungen Brünetten vor ihm nicht verborgen. "Du brauchst mich gar nicht wieder so ansehen." Sie nahm sich einen Teller und begann, ihn mit denselben Sachen zu bestücken, wie Marco es getan hatte.
"Doch, offensichtlich muss ich das. Was tust du da?"
Sie blickte zu ihm auf und legte den Kopf leicht schief. "Siehst du das nicht? Mir was zu Essen holen."
"Ja, aber dasselbe, wie ich?"
"Ein psychologisches Experiment."
"Schon wieder?", mutmaßte er, dass es kein Einzelfall war.
"Bis ich es geschafft habe." Sie zwinkerte ihm mit verschmitztem Lächeln zu.
"... Alles klar." Verdutzt griff er in den Besteckkasten und hatte kurz darauf einen Löffel in der Hand. Den wollte er gar nicht. Dezent legte er ihn wieder zurück und korrigierte seine Wahl auf eine Gabel und ein Messer.
"Es scheint zu wirken", säuselte sie neben ihm, was ihn nur verdutzt zu ihr rüberlinsen ließ. Was wollte diese Frau eigentlich?
Leicht den Kopf schüttelnd marschierte er zu einem freien Tisch und setzte sich an ihn. Natürlich setzte die Frau sich ebenfalls dorthin, direkt vor ihn.
Ein paar Minuten versuchte Marco, sich von ihr nicht beirren zu lassen, doch so, wie sie ihn immer interessiert ansah, wurde ihm unwohl. Bald stand er daher auf und ging in Richtung Toilettenraum.
"Schon besser, jetzt erkenne ich dich wieder", rief sie ihm noch hinterher.
Seltsame Frau.
Erst, als Marco in der Menge untergegangen war, fühlte er sich vor ihren seltsamen Blicken sicher. Im Grunde hätte er jetzt die ideale Gelegenheit, seinem eigentlichen Vorhaben, nämlich dem Leeren fremder Taschen, nachzugehen. Doch wäre dies zeitlich nicht sinnvoll. Die Auktion stand noch an und er wollte ein möglichst geringes Risiko eingehen, dass jemand noch während der Veranstaltung etwas bemerkte. Zumal sich während der Auktion noch die Möglichkeit bot, einerseits auf legalem Wege die ein oder andere Tasche zu leeren und andererseits, anhand der Gebote abzuschätzen, wer besonders schwer beladen war. Diese Chance wollte er nicht durch Ungeduld versiegen lassen.
Zumal sein Bruder Luis dies absolut nicht gutheißen würde. Wenn das passierte, wäre es sicherlich ihr letzter gemeinsamer Auftritt als Kaufmann und Dieb in einem gewesen.
Während er so durch die Menge marschierte, die Hände stets bei sich haltend und den eigenen Geldbeutel schützend, bemerkte er nicht, wie sich von der Seite zwei junge Männer näherten. Der Rest der Menschenmasse hielt Abstand, nicht aber der abgelenkte Marco. Und so passierte es, dass die zwei Männer mit ihm kollidierten.
[Marco Teil 1/2 Ende -> Teil 2 bei "Unfall" (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65290-unfall)]