06.10.2019
Sieg
Es war ganz einfach. Sie musste Milan lediglich dazu bringen, den Brief zu lesen, der ihn am Abend auf den Hof ihrer Schule führen sollte. Von dort aus würde sie ihren Plan in die Tat umsetzen und sich endlich beweisen können. Diesen Plan hatte sie extra die ganze Nacht durchgearbeitet, da sollte seine Umsetzung doch ein Klacks sein!
Okay. Er hatte nun einen Brief erhalten. Seine Augen scannten ihren Inhalt und er nickte verstehend. Nun. Offenbar sollte er abends zum Schulhof kommen, um dort angeblich seinen Kumpel Markus zu treffen.
Er schmunzelte. Das war doch nie und nimmer seine Schrift. Dafür war sie zu ordentlich. Dennoch beschloss er, den Treffpunkt aufzusuchen. Er ahnte bereits, wer dahintersteckte und war gespannt, was ihn erwarten würde.
Ob Jenny es endlich mal schaffen würde? Hm, wohl kaum.
Milan war nun endlich auf dem Schulhof angelangt. Sie hatte extra dafür gesorgt, dass niemand sonst um diese Uhrzeit seinen Weg dorthin fand. Mit einem letzten Blick auf ihre knallrote Armbanduhr entkam ihr ein Gähnen. Sie war inzwischen wirklich müde, weil sie die Nacht über noch so lange wach war. Aber das sollte es wert sein. Immerhin war mit der stattfindenden Lehrerfortbildung, von der sie eine Woche zuvor von Frau Heinrichs gehört hatte, der perfekte Zeitraum geschaffen.
Er war mit dem Rad zur Schule gefahren und stand nun andächtig am offenen Tor. Stimmt, heute war Lehrerfortbildung. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, schlenderte er über den Hof und sah sich in alle Richtungen um. Weder Markus war zu sehen, noch irgendwer anders. Vor allem von Jenny fehlte jede Spur. Dennoch zweifelte er nicht daran, dass sie dahintersteckte. Und wenn sie ihn jetzt nur hier stehenlassen wollte, wie bestellt und nicht abgeholt, würde er es nicht gelten lassen.
So hatte er es ihr nicht beigebracht.
Jenny schlich mit einem Eimer bewaffnet durch die Flure, tauchte unter den Fenstern an den Türen durch, um nicht von den dort befindlichen Lehrern entdeckt zu werden. Sie musste schnell sein, da sie nicht wusste, wie lange er dort warten würde. Zumal er sicherlich mit ihr rechnete und daher Gegenmaßnahmen entwickelt hatte. Bei dem Gedanken schlich sich ein nervöses Lächeln auf ihr Gesicht.
Ungeduldig tippte er mit einem Fuß auf den Boden, während er sich an eine Tischtennisplatte lehnte. Wie lange brauchte sie denn? Er wollte wirklich wissen, was sie sich überlegt hatte, aber wenn es so weiterging, würde er doch wieder nach Hause gehen und ihr am nächsten Tag seine Enttäuschung kundtun.
Dann hörte er hinter sich in der Ferne den Klang plätscherndes Wassers, woraufhin er überrascht herumfuhr.
Er kniff die Augen zusammen. Das war doch Jenny ...
Sie war mit einem Eimer voll Wasser auf Milan zugelaufen, aber auf dem Weg gestürzt. Nun hatte das ganze Wasser sich vor ihr auf dem Boden verteilt, während sie zischend auf den Knien war. Sie sah, wie Milan auf sie zueilte.
"Hey, alles in Ordnung?", fragte er. Er hielt Jenny zögerlich eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen.
"Ja, alles bestens", sagte sie und stand mit zittrigen Beinen auf. Ihre Knie waren aufgeschürft und bluteten.
Nun, damit hatte sich die Sache wohl erledigt, oder? Prüfend musterte er sie von oben bis unten. Nein, sie schien wirklich einfach nur gefallen zu sein und sich verletzt zu haben. Wollte sich wohl mit einem Eimer Wasser von hinten anschleichen und ihn damit überraschen. Nicht, dass es funktioniert hätte, dafür war sein Gehör zu gut. Hach, sie hatte ja noch so viel zu lernen. Immer schön seinen Feind kennen und solche Sachen. Hatte er ihr das nicht sogar schonmal erzählt? Womöglich.
"Soll ich dich nach Hause bringen?", fragte er und bot ihr eine Hand an, um ihr etwas mehr Gleichgewicht zu gewähren. Natürlich, ohne ihr dabei zu nahe zu kommen. Immerhin wusste er nicht, ob sie nicht vielleicht doch noch etwas plante.
Dankend nahm Jenny die Stütze an. Zum Glück wohnte sie gleich eine Straße weiter. So sah sie zu, wie Milan seinen Drang, den Eimer wegzustellen, vorerst unterdrückte und sie stattdessen sofort nach Hause brachte.
Bereits nach wenigen Minuten des schweigsamen Heimwegs waren sie bei ihr an der Haustür. Sie schloss auf und lehnte sich an den Türrahmen, um von dort aus zu ihm zu sehen.
"Und du willst sicher nicht mit rein?", fragte sie ihn.
Er schüttelte nur den Kopf. "Ich muss sowieso in drei Minuten nach Hause fahren."
"Dann will ich nicht mehr lange stören."
Schweigend sahen sie sich an. Ein wenig enttäuscht war er ja, dass da wohl nichts mehr kam. Dabei dachte er, dass sie endlich soweit sein würde, ihm erfolgreich einen Streich zu spielen. Aber nun gut, dann war dem so.
Milan wollte sich gerade umwenden, als sie ihn mit einem "Warte" davon abhielt, zu gehen. Er sah zu, wie sie auf ihn zuschritt und ihn in eine Umarmung schloss. Perplex stand er da und schaute auf sie hinab. Seine Arme verkrampften sich leicht vor Unschlüssigkeit, ob diese die Geste erwidern sollten oder nicht. Eigentlich mochte er keine Umarmungen.
"Schon gut. Nächstes Mal hast du wieder einen Versuch. Ruh dich erstmal aus." Diesen Worten lauschend, löste sie die Umarmung. Allein dadurch waren ihre aufgeschürften Knie nur noch halb so schlimm.
Eigentlich hatte sie vor gehabt, nicht so hart zu fallen. Aber die Schwerkraft war wohl doch stärker, als angenommen.
Dann hob sie die Hand zum zurückhaltenden Gruß, wie er es immer tat.
"Tschüss", lächelte sie ihm zu.
Milan erwiderte die Geste.
"Tschüss."
Als er sich umdrehte und ging, wehte das Stück Papier mit den Worten "Meine Niederlage" auf seinem Rücken im Wind.
Sie schmunzelte. Manchmal waren die alten Tricks eben doch die besten.
Er würde schon noch merken, wer eigentlich gewonnen hatte.