02.10.2019
Muster
Erik war gerade 18 geworden, als seine Großmutter Hilda ihm einen selbstgestrickten Schal schenkte. Natürlich kam er dabei seinem Reflex des Dankens nach, doch beim genaueren Hinsehen runzelte er die Stirn. Das Ding war unglaublich hässlich.
Hilda, die ihn mindestens gut genug kannte, um seinen Gesichtsausdruck deuten zu können, nickte nur verstehend. "Du findest ihn nicht schön, oder?"
Erik schüttelte den Kopf. "All diese wirren Farbverläufe stören mich. Hier ist es blau, dann zwischendrin ein schmaler Streifen grün und dann gelb. Was soll das darstellen?"
"Komm, setz dich", deutete sie ihm, sich mit ihr aufs Sofa zu setzen.
Ihr Enkel ging dieser Forderung brav nach und schaute sie dann verwirrt an.
"Es ist nicht so, dass ich mir keine Gedanken mache oder bloß meine Baumwollreste aufbrauchen möchte."
"Wieso dann dieser disharmonische Farbverlauf?" Er kannte seine Großmutter ganz anders. Sie liebte die Kunst und war dafür sogar eine lokale Berühmtheit. Oft hatten Leute sie schon darauf angesprochen und gefragt, ob ihre Werke verkäuflich seien. Stets lehnte sie die Angebote ab, ganz egal, wie verlockend sie klangen. Ihre Bilder waren für sie alles und ihr für gewöhnlich sogar mehr wert, als die Zeit mit ihrer Familie. Zugegeben, es waren schöne Stücke. Werke voll Harmonie und Emotion. Werke, anders als dieser Schal.
"Dein Leben ist leider nicht sonderlich ausgeglichen verlaufen", erklärte sie.
Erik hob eine Augenbraue. "Wie meinst du das?"
"Nun, ich habe meine Arbeit an diesem Schal vor etwas mehr, als 18 Jahren begonnen." Das erklärte die Länge des Schals. "Und ich habe versucht, die Emotionen, die ich mit Blick auf dein Heranwachsen verspürte, in seinem Stoff festzuhalten." Sie schaute ihm in die perplexen Augen und beschloss, dass es wohl besser wäre, weiter auszuholen. Also nahm sie gezielt ein Ende des Schals in die Hand und deutete auf das tiefe Blau, welches sich dort befand. "Dies hier ist der Anfang", sagte sie.
"Der Anfang meines Lebens?"
"Genau genommen begann es schon einige Wochen vor deiner Geburt. Das tiefe Blau steht für schwere Trauer und das Gefühl, sich in einer tiefen Dunkelheit zu verlieren."
Erik zog die Augenbrauen zusammen. "Okay, also hast du einige Wochen vor meiner Geburt beschlossen, deine Trauer und Bedrücktheit in einem Schal festzuhalten. Wegen mir?"
"Verstehe mich nicht falsch. Es hatte etwas damit zu tun, aber nicht mit deiner bevorstehenden Ankunft im Leben. Wir alle hatten uns gefreut und konnten kaum erwarten, dich in unsere Arme zu schließen."
"Aber?"
"Ich merke schon, deine Mutter hat dir nie etwas davon erzählt." Sie atmete tief ein und aus und senkte nachdenklich den Blick. Dann entschloss sie sich, es ihm zu erzählen. "Es sah schlecht aus. Die Ärzte hatten Sorge, dass du es nicht schaffen würdest. Zwischenzeitlich dachten sie sogar, du seist verstorben und haben deiner Mutter geraten, dich zu entfernen. Als ich davon erfuhr, war ich zutiefst bestürzt. Immerhin hatten deine Eltern es doch schon so lange versucht. Und dann eine Fehlgeburt zu haben … war schwer zu verkraften."
"Deswegen das viele Dunkelblau."
Hilda nickte. "Doch da deine Mutter meinte, immer noch leichte Bewegungen von dir wahrzunehmen, hat man vorsichtshalber ein weiteres Mal nachgesehen. Und man hat festgestellt, dass ein Irrtum vorlag und du noch lebtest." Sie strich mit der Hand über den Schal, über das dunkle Blau, und wanderte weiter zu einem grünen Streifen. "Hier war meine Hoffnung auf deine Gesundheit erweckt." Dann gelangte sie zu einer großzügigen Fläche in gelb. "Und hier warst du schließlich gesund und munter auf der Welt."
Ihr Blick verharrte auf der Farbe des Sonnenscheins und sie erinnerte sich daran zurück, als sie Erik das erste Mal gesehen hatte. Er war so klein gewesen. Zierlicher noch, als sein Vater es damals gewesen war, als sie ihn in den Armen hielt. Auch Hildas Schwangerschaft war nicht leicht gewesen. Man musste ihren Sohn über einen Kaiserschnitt rausholen. An das Gefühl der Kraftlosigkeit nach der Operation konnte sie sich noch gut erinnern. Damals waren die beiden Gefühle der Hilflosigkeit und des Glücks kombiniert gewesen - nein, das Glück überwog damals.
Doch in Eriks Fall war das Empfinden separat. Und so hatte sie es auch auf dem Schal wiedergegeben, getrennt in zwei Farben.
Mit großen Augen schaute Erik seine Großmutter an. "Erzähl mir von den anderen Farben. Bitte."
Und so erzählte sie. Die Reise ging dabei über viele verschiedenste Farben. Hell und dunkel, warm und kalt. Alles war dabei.
Unter anderem erzählte die Farbe Orange davon, dass sie als lustige Erinnerung den Tag in ihrem Herzen trug, an dem Erik das Fahrradfahren gelernt hatte. Nach ein paar Anfangsschwierigkeiten hatte er es doch recht schnell gelernt und auf einer Spielstraße die ersten Runden ohne Stützräder und ohne Papa gedreht. Dann fuhr er direkt auf die Hauptstraße zu, mit den Worten: "Dann darf ich ja jetzt auf dem schwarzen Radweg fahren, oder?" Sein Vater hatte ihn hektisch auf seinem Weg abgefangen, bevor etwas Schlimmes passieren konnte und Hilda konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Erik besaß schon ein paar drollige Weltanschauungen damals.
Es ging weiter, wieder mit der Farbe Grün. Seiner Einschulung. Der folgende Farbenpfad war von Lila, Rot und Gelb gepflastert. Lila stand für ein durchwachsenes Empfinden, Rot für Enttäuschung und Gelb, wie schon einmal erwähnt, für Freude.
Seine schulischen Leistungen waren durchwachsen. Nicht zuletzt wegen der Lehrer, mit denen er immer wieder aneinandergeraten war. In der dritten Klasse hatte er sogar die Schule deswegen gewechselt, woraufhin sich das Grün der Hoffnung manifestierte. Diese Erzählung wurde jedoch schnell von Rot weitergeführt, als Hilda wütend darüber war, dass man Erik an der neuen Schule hänselte.
Doch schaffte er es schließlich, die Grundschule mit einer Realschulempfehlung zu bestehen, woraufhin er auf eine Gesamtschule wechselte.
Und so führte sie die Erzählung seines Lebens und ihrer Empfindungen über den Werdegang ihres Enkels weiter fort. Viele verschiedene Farben bildeten ein Muster aus allerlei Emotionen all der 18 Jahre seines Lebens und noch etwas weiter.
Dann gelangte sie an das Ende des Schals. Türkis. Ein Gemisch aus dem Grün der Hoffnung und dem Blau der Trauer oder Wehmut. Erik konnte sich denken, dass die Farbe damit zusammenhing, dass er nun fortziehen würde, um zu studieren. Nun musste er jedoch fragen: "Wieso hast du überhaupt damit begonnen, diesen Schal zu stricken?"
Hilda faltete den Schal sorgfältig auf ihrem Schoß zusammen und strich noch ein weiteres Mal über den dicken, doch sanften Stoff. "Ich muss zugeben, dass ich lange Zeit deines Lebens sehr mit meiner Kunst beschäftigt war. Aus Sorge, ich könnte dich dadurch vernachlässigen, habe ich wohl angefangen, die Kunst mit dir im Gedanken umzusetzen. So wollte ich zeigen, wie wichtig du mir bist, auch wenn es vielleicht nicht so scheinen mag. Was auch geschieht, es ist mein Wunsch aus tiefstem Herzen, dass du glücklich bist."
Nachdem sie dies gesagt hatte, blickte sie zu ihrem Enkelsohn auf. Dieser schaute sie wie von allen Geistern verlassen an. Es dauerte eine Weile, bis die Mauer des Schweigens fiel und er fragte: "Kann ich den Schal wiederhaben?"
Nickend überreichte Hilda ihm diesen und sah zu, wie er ihn sich umlegte.
Dann umarmte Erik sie, während sich in seinen Augen Tränen sammelten. "Ich werde diesen Schal stets in Ehren halten und auf ihn aufpassen. Wirklich, es tut mir leid, dass ich ihn anfangs hässlich fand. Ich wusste nicht, dass er so viel bedeutet. Dass ich dir so viel bedeute. Es tut mir leid."
Hilda lächelte und strich ihm sanft über den Kopf. "Vergiss einfach nicht, dass ich stets für dich da bin und du dich immer an mich wenden kannst."
"Das werde ich niemals vergessen. Danke."