14.10.2019
Vorheriger Teil: Untersuchen (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65277-untersuchen)
Spur/Pfad
Leonard rückte sich die Brille zurecht und nahm Pergament, wie auch Taschenlampe entgegen. Mit tonlosen Lippenbewegungen las er sich den Text durch, kniff an mancher Stelle die Augen zusammen und sah genauer hin. Dann blickte er zu mir auf.
"Das ist seltsam." Er hielt mir die Taschenlampe hin.
"Was denn?", fragte ich und nahm sie entgegen.
"Da steht soviel, wie: Herzlich Willkommen, lasst euch leiten von den Wellen und tretet ein."
"Hm." Mein Blick wanderte nachdenklich die Wellenmuster entlang, welche sich an den Oberseiten der Wände durch den ganzen Raum zogen. Nicht mal Leonard war groß genug, da ranzukommen. Ob es wohl helfen würde, wenn er mich trug? War das überhaupt Sinn der Sache? Nun, versuchen konnte man es ja.
"Ich schätze, du musst mich tragen", sagte ich daher bestimmt und ging auf Leos verwunderte Verneinung lediglich mit einem strengen Blick ein.
Er seufzte geschlagen. "Gut ... aber wenn es zu viel wird, werde ich dich absetzen. Ist mir dann egal, ob du bis dahin mit deinen Stummelärmchen alles abgetastet hast."
"Und extra für dich habe ich heute eine zweite Portion gegessen", zwinkerte ich ihm schelmisch grinsend zu.
Kopfschüttelnd kniete Leonard sich mit dem Rücken zu mir hin und ermöglichte mir somit, aufzusteigen. Mit einem Schnaufen erhob er sich, den Griff fest um meine Schienbeine gelegt, und stampfte mit mir zur Wand. Meine Finger glitten die raue Oberfläche entlang, betasteten jede einzelne Riffelung, die die Wellen verursachten.
Langsam wanderte Leonard mit mir auf den Schultern die Wände ab, während das Geräusch von Haut auf Stein mit uns Schritt hielt. Es war ein regelmäßiges Muster, das keinerlei Veränderungen aufwies. Ich seufzte.
"Du bist echt schwer", keuchte Leo unter mir und ich krallte mich in seinen blonden Haaren fest, als er plötzlich auf die Knie ging, um mich abzuladen.
Mit schmerzverzogenem Gesicht ging er sich durch die Haare. Ich zuckte daraufhin nur gleichgültig die Schultern.
"Nichts gefunden", sagte ich und wandte mich wieder den Wänden zu. Dann stockte ich. Richtete das Licht meiner Taschenlampe zielgerichteter auf den kalten Stein. Die Augen zusammengekniffen, ging ich zu dem Fleck, der mir soeben aufgefallen war, und sah genauer hin. Leonard folgte mir.
Dort eingeritzt, ganz fein und kaum erkennbar - lediglich die sachten Schattierungen hatten sie verraten - waren Wellen. Doch statt horizontal zu verlaufen, flossen sie vertikal. Kein Meer, sondern ein Wasserfall.
Ich kniete mich hin und tastete vorsichtig das Muster ab.
"Dass deine Patscherchen aber auch immaaaaaaarrrrrrgh!"
Plötzlich hatte der Boden nachgegeben, eine Luke verschluckte uns und wir stürzten ein paar Meter in die Tiefe.
Autsch, mein Rücken.
Keuchend setzte ich mich auf, folgte mit dem Blick dem Licht der Taschenlampe, die etwas weiter von mir weggerollt war. Direkt daneben musste eine Wand sein, denn an diese strahlte die Lampe. Wieso auch sollte gleich ein großer Teil des Raumes offenbart werden? Wäre ja zu einfach.
Durch die Position der Lampe stellte ich fest, dass wir uns auf einer Erhöhung befinden mussten. Einer äußerst flauschigen Erhöhung. Fühlte sich an, wie ... Fell. Aber kalt, ein Glück. Dies ließ die Möglichkeit offen, dass es wirklich nur Fell und kein Biest war. Das wäre sonst noch heiter geworden. Sicherlich.
Während ich Leo neben mir leise fluchen hörte - ich war froh, dass er es ebenfalls gut überstanden hatte - tastete ich mich vorsichtig voran. Stück für Stück arbeitete ich mich zur Taschenlampe vor.
"Wo sind wir?", fragte Leo benommen.
"Das werden wir gleich sehen." Ich tastete mich weiter voran. Kalter Stein. Nichts weiter. Dann ergriff ich endlich das bereits vorhin durch meine Hand leicht erwärmte Metall meiner Taschenlampe. Ich richtete sie auf die Räumlichkeit.
Simpel formuliert, war es ein Arbeitszimmer aus Stein. Ein Tisch, ein Stuhl, eine alte Laterne, die sicherlich vor Ewigkeiten das letzte Mal benutzt wurde. Ein paar Regale, in denen einzelne, beschlagene Phiolen und Bücher standen. Von Spinnenweben und Staub verziert.
Ich runzelte die Stirn. Nun, das war eigenartig. Als sich endlich auch Leo aufgerappelt hatte, zog ich ihn mit zum Schreibtisch. Ich hatte keine Lust, im Falle einer weiteren Falltür, unnötig von ihm getrennt zu werden.
... Immerhin hatten wir nur eine Taschenlampe ...
Unsere Blicke hefteten sich auf ein weiteres Stück Pergament. Diesmal griff nicht ich, sondern Leo danach. Statt ihm aber wieder die Taschenlampe zu geben, stellte ich mich schräg hinter ihn und schaute mir die Schrift an. Immerhin würde es mal Zeit, dass ich sie ebenfalls besser kennenlernte.
Dann aber las Leonard: "Ist das Zimmer hier nicht großartig? Ich hoffe, der Sturz war nicht zu unangenehm." Mein Taschenlampenlicht wanderte kurz zu den Fellen, die als Polster unter der offenen Falltür positioniert waren. Leichte Staubschwaden schwirrten in der Luft um diese Felle.
"Miss, ich brauche Licht", forderte Leo. Also strahlte ich mit der Taschenlampe wieder aufs alte Pergament.
"Lass mich das aber selbst übersetzen", forderte ich.
Er schwieg daraufhin und ich machte mich daran, selbstständig den Text zu übersetzen, Wort für Wort. War gar nicht mal so einfach.
"Ihr seid hier in meinem Prototypen eines Flucht-Raumes angelangt. Seht euch ruhig um und forscht, hier gibt es Großes zu entdecken! Aber bedenket: Nicht das Ziel soll euch leiten, sondern der Pfad. Nehmt jede Spur mit, die ihr finden könnt und macht mich stolz!", ratterte Leo daraufhin herunter und grinste mich an.
"Danke, dass du mich selbst übersetzen lässt."
"Immer wieder gern. Dafür ist mir die Zeit zu kostbar."
Ich knuffte ihm in die Seite. "Sag mal", sagte ich. "Ist das dann nicht im Grunde so eine Art antiker Escape Room?"
Leos Augen blitzten im Schein der Lampe. Er hielt sich die Hand vor Augen, da ich ihn blendete. Selbst Schuld, wenn er mich nicht übersetzen ließ.
"... Ja", seufzte er, "ich denke, das passt schon. Laut Beschreibung." Er griff nach meiner Taschenlampe, doch wich ich ihm aus. Meine.
"Ich hoffe mal, dass man damals noch keinen Timer erfunden hatte. Wollen wir dann mal nach Spuren suchen und den Pfad zum Ziel beschreiten?" Erwartungsvoll blickte ich ihn an.
"Uns bleibt wohl keine andere Wahl", grinste er.
Und so machten wir uns auf, den historisch ersten Escape Room zu durchlaufen.
[Leonard Teil 2/3 Ende -> Teil 3 bei "Unterschrift" (https://belletristica.com/de/books/17565-writeinktober-2019-saki/chapter/65285-unterschrift)]