Der Wahltermin rückte schneller heran, als mir lieb war. Ich hatte mir extra einen Tag freigenommen, und zu meiner Überraschung wurde mir diese Bitte um Freistellung von unserer Oberschwester auffallend kampflos gewährt. Allerdings muss ich gestehen, dass ihr darauffolgender Kommentar mir mehr zu schaffen machte, als wenn sie den Tag strikt abgelehnt und mir obendrein noch eine Extraschicht aufgebrummt hätte. Aber nein, die Option, den Termin wegen „Arbeitspflicht“ absagen zu dürfen, blieb mir leider verwehrt. Stattdessen klopfte mir unser „Oberfeldwebel in rosa“ - für mich die Respektsperson schlechthin - zum Abschied wohlwollend auf die Schulter und meinte mit einem selten kumpelhaften Lächeln:
„Na los, zeig`s ihnen, Mädel! Mach uns bloß keine Schande!“
Großer Gott, wie sollte ich dieser Frau und der gesamten Belegschaft, meinen Eltern, Bekannten, Lehrern, Mentoren, Mitschülern, meinem Freundeskreis, dem Freundeskreis meiner Familie und überhaupt allen, die mich rund um unsere Stadt irgendwie kannten, wie sollte ich all diesen Leuten jemals wieder unter die Augen treten, falls ich das Ding vergeigte?
„Und der letzte Platz geht an…“
Nein, wenn diese Worte in Zusammenhang mit meinem Namen heute Abend zur Wahl erklangen, dann würde ich mich auf der Stelle in Luft auflösen und für die nächsten mindestens zehn Jahre auswandern!
`Denk verdammt nochmal positiv, Caiti! Was ist denn los mit dir? Man rechnet doch nicht gleich mit dem Schlimmsten!`
„Stimmt“, sagte ich zu laut meinem Spiegelbild, straffte die Schultern und atmete tief durch. „Vielleicht wird es ja der vorletzte Platz!“
In meinem Zimmer herrschte das absolute Chaos.
Meine Mom, die als Stylistin in einem Schönheitssalon arbeitet, hatte mich frisiert und geschminkt. Ich war froh und dankbar, dass sie sich dabei nach meinen Wünschen und Vorstellungen gerichtet hatte, denn ich konnte mit dem Ergebnis recht zufrieden sein. Mein langes nachblaues Abendkleid, das seit dem Abiball traurig und unbenutzt im Kleiderschrank herumhing, wurde hervorgeholt und passte nicht nur perfekt zur heutigen Hochsteckfrisur, sondern nach fast drei Jahren auch noch wunderbar um die Hüften.
Die Pumps sponserte mir Mom. In Sachen Mode hat sie meistens etwas Passendes im Schrank und wir haben zum Glück dieselbe Größe.
Jessi war mit einer ganzen Schmuck-Kollektion angerückt. Sie liebt grelle und ausgefallene Sachen, ich dagegen mag eher unauffällige Dinge.
Zum Glück nahm sie mir nicht übel, dass ich mich letztendlich für den eigenen Schmuck entschied. Allerdings konnte sie nicht verstehen, weshalb ich das ihrer Meinung nach perfekt zum Kleid passende, blaue Strumpfband so strikt ablehnte. Von Lampenfieber gepeinigt machte ich ihr unmissverständlich klar, dass ich weder vorhatte, während der Wahl zu heiraten, noch auf der Bühne einen Cancan zu tanzen.
Dann war es soweit.
Als ich vor dem Klubhaus des langen Kleides wegen etwas umständlich aus Mom`s Ford kletterte, fand ich mich inmitten einer jubelnden Menge wieder. Über die Hälfte meiner derzeitigen Klassenkameraden hatte darauf bestanden, mich zur Wahl zu begleiten und mir moralischen Beistand zu leisten, genauso wie meine Mädels-Clique – das Mindeste, was sie tun konnten, nachdem sie mir diese Sache hier eingebrockt hatten.
„Wir sitzen alle gleich vorn rechts“, wurde mir von Miss Elli noch schnell bekanntgegeben, bevor mich eine geschäftige Wahlhelferin energisch in Richtung Bühneneingang drängte.
Von da an spielte sich alles wie ein Film vor meinen Augen ab...
Wir, die Anwärterinnen auf das Amt der Lichterprinzessin, wurden hinter der Bühne mit dem Moderator der Show bekannt gemacht. Er stellte sich uns als Rico vor und erinnerte mich lebhaft an ein alterndes Model aus einem Hollywood-Hochglanzmagazin, mit entschieden zu dickem Make-Up im Gesicht und abartig viel Gel in den kurzen, schwarzgefärbten Haaren.
Rico wies uns darauf hin, dass wir ganz locker bleiben sollten. Aufrechter Gang, immer lächeln, den Blick in die Zuschauermenge, denn immerhin sei der Saal randvoll mit Leuten. Außerdem wären heute außergewöhnlich hohe Gäste da, unter anderem der Bürgermeister, sein Stellvertreter, der Landrat, die Presse, sämtliche Fördervereine… bla bla bla.
„Kein Fernsehen? Keine Bildzeitung?“, fragte eine der Bewerberinnen mit gespielt enttäuschtem Augenaufschlag, was ihr einen vernichtenden Blick von „Mister Wichtig“ einbrachte.
Wir sollten unbedingt daran denken, deutlich zu sprechen. Aber reden durften wir wiederum nur, wenn wir gefragt würden, erklärte er uns, als hätte er eine Kindergartengruppe vor sich. Außerdem sollten wir möglichst kurz und präzise erklären können, warum wir uns für dieses kulturell wichtige Amt beworben hätten. Unsere diesbezüglichen Aussagen sollten sich ausschließlich auf unsere Stadt beziehen und auf unsere künftigen Aufgaben als Lichterprinzessin.
Ein aufgeregtes, ratloses Gemurmel ging daraufhin durch die Reihen der Bewerberinnen, während eine Helferin jeder einzelnen von uns eine Karte mit einer aufgedruckten Zahl in die Hand drückte und uns darauf hinwies, dass dies unsere Startnummern seien, die wir unter keinen Umständen vergessen oder verwechseln dürften.
Meine Startnummer war die Sieben und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass der siebente Platz auch schon ganz gut klingen würde.
Dann begann die Show.
Rico bekam ein Zeichen von der Technik, richtete seine Krawatte, räusperte sich, als stünde er kurz vor dem Erstickungstod und versuchte seine Gesichtsmuskulatur zu lockern, bevor er - ganz der Vollblut-Unterhaltungsprofi - zielstrebig durch den Seitengang auf die Bühne trat.
Laute Musik, wildes Klatschen des Publikums.
Mir war schlecht…