Ich stand völlig neben mir, als ich die Treppen hinunter hastete und mit zitternden Händen mein Auto öffnete. Aufstöhnend ließ ich mich in den Sitz fallen, schloss die Tür und umklammerte krampfhaft das Lenkrad, während ich fassungslos durch die Windschutzscheibe auf Davids Golf starrte, hinter dem ich eingeparkt hatte.
„Ich bin Sabrina, Davids Ehefrau!“, hallte es wie in einer Endlosschleife in meinem Kopf wider. „Seine Frau...“
Meine Gedanken wirbelten wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel durcheinander, und ich war nicht imstande, einen davon festzuhalten.
David, mein David, in den ich mich in kürzester Zeit Hals über Kopf verliebt hatte, er war verheiratet?
Weg hier! Weit weg, so schnell wie möglich!
Mechanisch startete ich den Motor, setzte den Blinker und fuhr los. Vielleicht nicht so zügig wie gewohnt, aber irgendwie funktionierte ich, ohne darüber nachzudenken, was ich tat, bis ich meinen Wagen ordnungsgemäß auf meinem Stellplatz hinter dem Haus eingeparkt hatte.
Kaum war der Motor aus, überkam mich erneut dieser unsagbare Schmerz, der alle Organe in meinem Inneren mit einer eisernen Faust zusammenzuziehen schien, und gegen den es keine Medizin gab.
„Ich bin Sabrina, Davids Ehefrau!“
Während ich wie besessen die Treppen zu meiner Wohnung hinaufrannte, konnte ich noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Ich schloss die Tür auf, knallte sie hinter mir wieder zu und lehnte mich schweratmend dagegen, in der Hoffnung, dass meine Beine mir jetzt nicht endgültig den Dienst versagten.
Er hatte mich belogen, hintergangen, ausgenutzt… Und er hatte nicht einmal die Stirn, mir das Unfassbare persönlich zu sagen!
Er schickte seine Frau an die Tür!
Seine Ehefrau !
Die Online- Verbindung zu meinem Gehirn signalisierte mir eine schwere Störung, und mein Bewusstsein ließ nach wie vor nur eine einzige Anweisung zu:
Weg! Weit weg, so schnell wie möglich!
Aber wohin?
Es gab in meinem Leben einen einzigen Ort, an dem es mir bisher immer gelungen war, alles um mich herum zu vergessen, meine innere Ruhe zu finden und einfach nur glücklich zu sein.
Dort wollte ich hin – und zwar sofort!
Ich hatte binnen kürzester Zeit alles erledigt.
Jessi, die ich telefonisch um Hilfe in einem Notfall gebeten hatte, befand sich bereits auf dem Weg zu mir. Mein Koffer war schnell gepackt, meine Wohnung verschlussbereit aufgeräumt, und ich selbst war so fertig, dass ich kaum zum Nachdenken kam. Wie schon erwähnt, ich funktionierte, und das tat ich wirklich gut.
Zum Schluss rief ich meine Mom im Kosmetiksalon an und erklärte ihr scheinbar leichthin, dass momentan keine weiteren Lichterprinzessinnen-Termine anstünden und ich mich deshalb kurz entschlossen hätte, wenigstens einen Teil des Sommers bei meinen Großeltern in Kalifornien zu verbringen. Sie war zwar überrascht über so viel ungewohnte Spontanität meinerseits, aber sie wusste nur zu gut, wie gern ich mich jenseits des großen Teiches aufhielt. Also akzeptierte sie meinen Entschluss widerspruchslos und versprach, sie und Dad würden so bald wie möglich nachkommen. Natürlich fragte sie nach David, und ich erklärte ihr unter Aufbietung all meiner mir zur Verfügung stehenden schauspielerischen Fähigkeiten, dass er leider arbeiten müsse und keinen Urlaub bekäme. Mit dieser Erklärung schien sie sich zufriedenzugeben. Sie rang mir das Versprechen ab, mich sofort zu melden, wenn ich angekommen sei und wünschte mir einen guten Flug.
Nach dem Anruf sank ich erschöpft in den Sessel und schloss für einen Augenblick die Augen. Das Gespräch mit meiner Mom hatte mich unsagbar viel Kraft und Selbstbeherrschung gekostet, denn sie hat schon immer ein besonderes Gespür dafür, wenn etwas mit mir nicht stimmt. Jener berühmte "siebte Sinn", den wohl jede Mutter hat. Aber dieses Mal sollte sie auf gar keinen Fall etwas von meinen Seelenqualen mitbekommen. In ein paar Tagen, wenn vielleicht etwas Ruhe in mein Innenleben eingekehrt war, würde ich sie und Dad von der Farm aus anrufen und ihnen alles erzählen. Später, nur nicht jetzt.
Eine Stunde danach befanden Jessi und ich uns bereits auf der Autobahn in Richtung Flughafen.
Unterwegs schilderte ich meiner besten Freundin ganz mechanisch die Gründe für meinen überstürzten Aufbruch. Nicht mehr und nicht weniger. Zu irgendwelchen Diskussionen darüber war mein gequältes Inneres außerstande.
Jessi hörte sich anfangs wortlos an, was ich zu sagen hatte, doch kaum schwieg ich, begann sie unentwegt auf mich einzureden. Ich erinnere mich vage an Sätze wie Das kann doch gar nicht sein! ... Unmöglich! … Was sagt Damon zu seiner Verteidigung? … Glaub mir, du machst einen Fehler! … Einfach aufgeben und abhauen, das ist nicht richtig! … Du solltest dir unbedingt erst anhören, was er zu sagen hat! … und Ähnliches, doch in meinem Gehirn kam nichts wirklich an.
Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf einen imaginären Punkt am Horizont und schwieg beharrlich.
„Ich bin Sabrina, Davids Ehefrau!“
Am Flughafen angekommen, eilte ich mit Jessi im Schlepptau zu einem der Schalter, und tatsächlich, ich hatte Glück und bekam den letzten Platz in der sonst restlos ausgebuchten Nonstop - Abendmaschine nach Los Angeles.
Kaum hatte ich eingecheckt, rief ich meine Großeltern in Santa Monica an und teilte ihnen meine Ankunftszeit mit. Grandma war ganz aus dem Häuschen vor Freude, und Grandpa versprach, „sein Mädchen“, wie er mich gern nannte, pünktlich am Flughafen abzuholen.
Als ich mich von meiner besten Freundin verabschiedete und wir uns umarmten, sah sie mir in die Augen und flüsterte eindringlich:
„Glaub mir, Cait, du machst einen großen Fehler. Warum zum Geier vertraust du einer Fremden, die du gar nicht kennst, mehr als dem Kerl, den du liebst?“
Ich starrte sie an. Sie hatte Tränen in den Augen. Ich hatte keine.
In mir drin schien alles wie Eis.
„Tut mir leid“, flüsterte ich zurück. „Aber ich kann nicht anders.“
Ich winkte ihr ein letztes Mal zu und begab mich fluchtartig zur Zollkontrolle, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Weg! Weit weg, so schnell wie möglich!
Im Flieger stellte ich überrascht fest, dass ich einen der begehrten Fensterplätze bekommen hatte.
Auf dem Außensitz fläzte eine Art Hippie-Verschnitt, mit John-Lennon-Brille, schulterlangen dunklen Haaren und einem Head-Set auf den Ohren, dessen Klänge ihn kontinuierlich und scheinbar vollständig von der Außenwelt abgeschnitten mit dem Kopf und den langen, in zerschlissenen Jeans steckenden Beinen im Takt wippen ließen.
Ohne Rücksicht auf Verluste holte ich ihn aus seiner Traumwelt, indem ich ihn anstupste und mit unmissverständlicher Geste aufforderte, mich doch bitte vorbeizulassen.
So konnte man sich täuschen!
Der Lennon-Typ sprang sogleich bereitwillig auf, trat beiseite und bot mir obendrein mit einem netten Lächeln an, mein Handgepäck, einen Rucksack mit meinem Laptop, oben in der Ablage zu verstauen, was ich überrascht dankend annahm.
Der etwas ältere, sehr gepflegt aussehende Herr auf dem Mittelsitz gewährte mir ebenfalls die Möglichkeit, auf meinen Fensterplatz zu gelangen, indem er sein Zeitungsstudium freundlicherweise unterbrach und mit einem galanten Kopfnicken auf den Gang hinaus trat, um mich vorbeizulassen.
Erleichtert und völlig erledigt ließ ich mich in den Sitz fallen, schnallte mich an und starrte mit brennenden Augen hinaus aufs Rollfeld.
Sofort, als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich zur Ruhe kam, waren der Schmerz und die Worte jener Fremden wieder da, die mich erbarmungslos verfolgten:
„Ich bin Sabrina, Davids Ehefrau!“
Aber da waren noch andere Worte, die sich erstaunlicherweise genauso deutlich in mein Bewusstsein gebrannt hatten. Sie stammten von meiner besten Freundin und waren noch keine Stunde alt:
„Warum zum Geier vertraust du einer Fremden, die du gar nicht kennst, mehr als dem Kerl, den du liebst?“
Ja, warum eigentlich? So sehr ich auch grübelte, ich fand darauf keine Antwort.
Langsam setzte sich die schwere Boeing in Bewegung, um ihre endgültige Startposition einzunehmen. Während die Stewardessen sich bemühten, die Passagiere mit den an Bord üblichen Sicherheitsvorkehrungen vertraut zu machen, starrte ich weiter aus dem Fenster und versuchte mir hartnäckig einzureden, dass meine Flucht von zu Hause das einzig Richtige gewesen war, um auf Davids vermeintlichen Verrat zu reagieren.
Vermeintlicher Verrat – ganz genau!, meldete sich mein schlechtes Gewissen zunehmend lauter, denn ich konnte ja nicht einmal sicher sein, ob ich nun wirklich belogen worden war, oder ob sich die Tussi an Davids Tür nur einen makabren Spaß mit mir erlaubt hatte.
Aber warum sollte sie denn sowas Blödes tun?, versuchte ich mein Gewissen in Gedanken zu besänftigen.
Weil sie ihn für sich will!, schallte es boshaft in meinem Hinterkopf.
Aber was macht sie in seiner Wohnung?, hinterfragte ich weiter, nicht gewillt, meine Entscheidung bereuen zu müssen. Dazu war es ohnehin zu spät, denn die Maschine hatte ihre Position erreicht und der Kapitän wartete auf die Freigabe zum Start.
Dafür, dass sie in Davids Wohnung war, gibt es mehr als eine Erklärung!, belehrte mich mein Gewissen. Ich stöhnte innerlich auf.
Okay, aber keine davon gefiel mir…
In diesem Augenblick legte sich eine fremde Hand auf meinen Arm. Hatte ich am Ende vielleicht versehentlich laut gestöhnt? Erschrocken fuhr ich herum und sah in die freundlichen grauen Augen meines Sitznachbarn.
„Haben Sie keine Angst, es wird nichts passieren“, erklärte er mir in gebrochenem Deutsch mit starkem amerikanischen Akzent. „Wenn wir erst einmal oben sind, ist alles nur noch ein Kinderspiel.“
„Ich habe keine Angst“, erwiderte ich in seiner vermeintlichen Landessprache. „Ich fühle mich heute nur nicht besonders gut.“
„Oh, Sie sprechen englisch?“ Er streckte mir spontan die Hand hin, und erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich meine eigene um die Armlehne gekrampft hatte. „Wir haben einander noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Collin Morrell.“
„Caitlin Jennings“, erwiderte ich und hoffte, er möge die Konversation nicht ausdehnen, da ich mich nicht sonderlich gesprächsbereit fühlte.
„Jennings“, wiederholte er interessiert. „Sind sie Amerikanerin?“
„Halb und halb“, offenbarte ich höflich lächelnd.
„Dann fliegen Sie also nicht zum ersten Mal.“
„Das ist richtig.“
„Genießen Sie es, Miss Jennings. Fliegen ist etwas Wunderbares. Der ewige Traum der Menschheit. Man fühlt sich frei und leicht.“
Ich konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken.
„Ja, so sollte man sich fühlen.“
Er lächelte irgendwie weise, so als würde er meine Gedanken kennen, und erwiderte begütigend:
„Das wird schon wieder. Warten Sie nur ab.“
Dann wandte er sich erneut seiner Zeitung zu.
Die Maschine ruckte leicht an, wurde schneller und schneller und raste schließlich wie ein Pfeil über die Rollbahn. Die ungeheure Kraft des Schubs drückte mich sanft nach hinten in mein Sitzpolster. Kurz darauf setzte für wenige Sekunden das vertraute Gefühl der Schwerelosigkeit ein. Wir hatten den Boden verlassen und begannen unseren Flug hinauf in die Wolken.
Die Sonne ging gerade unter, und die Lichter der Stadt wurden zusehends kleiner.
Irgendwo da unten in dem endlosen Häusermeer, irgendwo zwischen all den Häusern und Straßen ließ ich sie zurück, meine Träume von einer vermeintlich großen Liebe.
Und zusammen mit ihnen ließ ich auch ihn zurück - David…