Ich konnte mein Glück kaum fassen. Um mich vor dem nahenden Hungertod zu retten, hatte David mich nach der Anprobe kurzerhand zu Kaffee und Kuchen eingeladen.
Kurz darauf saßen wir uns dann in dem gemütlichen kleinen Café gegenüber:
Ich - ausgehungert und müde nach einer langen und nervenaufreibenden Frühschicht in der Notaufnahme des Krankenhauses, fast ungeschminkt, in Jeans und meinem schwarzen Lieblingspulli.
Er - geradezu unverschämt attraktiv, die Lederjacke lässig über die Stuhllehne geworfen, die Haare zehnfinger-gekämmt, in Jeans und dunklem Sweatshirt mit der Aufschrift „The Boss“.
Oh ja, das passte.
Er musterte mich mit unverhohlener Neugier.
„Caitlin Jennings“, sagte er dann ganz unvermittelt und lächelte. „Ich habe dich so oft „Prinzessin“ oder „Hoheit“ genannt, dass ich eben einen Moment lang überlegen musste, wie du richtig heißt.“
„Na, zum Glück ist es dir ja noch eingefallen.“
„Irgendwie hatte dieser komische Moderator neulich recht, dein Name klingt ein bisschen englisch, oder amerikanisch, wie auch immer.“
Jetzt war ich es, die lächelte.
„Mich hat der Storch in Amerika eingesammelt und über Germany abgeworfen.“
„Ah ja..." Er grinste unverhohlen. „Zum Glück scheinst du davon keinen Schaden genommen zu haben.“
Die Kellnerin erschien mit dem Kaffee und nahm unsere Kuchen-Bestellungen entgegen. Geduldig wartete David, bis wir wieder allein waren, dann griff er das Thema erneut auf.
„Also ich hätte vermutet, dass deine Mutter Engländerin ist.“
„Wie kommst du darauf? Hast du etwa im Polizeicomputer herumgestöbert?“
Er lehnte sich zurück und legte eine Hand auf seine Brust.
„So etwas Verwerfliches würde ich nie tun. Außerdem darf ich das ohne Grund gar nicht.“ Er genoss meinen fragenden Blick noch ein paar Sekunden, dann klärte er mich mit seinem hinreißenden Grübchenlächeln über den wahren Grund seiner Vermutung auf: „Ich habe hinter der Bühne gehört, wie ihr euch unterhalten habt. Deine Mutter hat einen niedlichen Akzent.“
„Sie ist Amerikanerin.“
„Dann sprichst du fließend englisch?“
„Von klein auf.“
„Wow, damit bist du vielen einen großen Schritt voraus. Du könntest zum Beispiel in den Staaten studieren oder arbeiten.“
„Das könnte jeder. Wenn man dort lebt, lernt man die Sprache sehr schnell.“
„Erzähl doch mal ein bisschen von dir“, bat er und nippte an seinem Kaffee. „Dem Moderator ist es ja nicht gelungen, dich auszufragen. Vielleicht habe ich etwas mehr Glück.“
„Na ja, so besonders interessant ist mein Leben eigentlich gar nicht“, begann ich zögernd. „Momentan mache ich ein Praktikum in der Notaufnahme. Ich stehe kurz vor den Abschlussprüfungen und habe ziemlichen Stress. Ich hoffe, dass ich das alles einigermaßen mit meiner neuen Regierungstätigkeit vereinbaren kann.“
„Notaufnahme!“ Er schien beeindruckt. „Da brauchst du starke Nerven!“
„Die brauchst du doch in deinem Beruf auch“, gab ich zurück und hoffte, er würde darauf eingehen und zur Abwechslung etwas von sich erzählen. Doch er fragte unbeirrt weiter.
„Was hast du nach deinem Abschluss vor? Willst du noch studieren?“
„Mal sehen, vielleicht. Ich wollte eigentlich immer Kinderärztin werden, schon damals in der Grundschule. Aber so ein Studium ist verdammt schwer.“
„Du schaffst das schon“, meinte er zuversichtlich. „Allerdings frage ich mich, warum du nach dem Abi nicht gleich mit einem Medizinstudium begonnen hast?“
„Ich wollte zuerst einen Beruf lernen“, erwiderte ich, doch sein forschender Blick zwang mich regelrecht zu einer genaueren Erklärung. „Ich dachte, ich schaffe mir erst einmal eine solide Grundlage, falls das mit dem Studium nicht klappt.“
„Du gehst gern auf Nummer sicher“, stellte er fest. Oh ja, das hatte ich schon oft gehört. Von meinen Eltern, von diversen Lehrern, von Jessi...
„Ist das in deinen Augen ein Fehler?“
„Nein, nicht unbedingt. Magst du kein Risiko eingehen?“
„Kommt auf das Risiko an.“
„Dann siehst du also deine Rolle als Lichterprinzessin als Herausforderung?“
Nachdenklich rührte ich in meinem Kaffee und nickte der Kellnerin dankend zu, als sie ein Stück verführerisch duftenden Apfelkuchen vor mir auf dem Tisch abstellte.
„Ich weiß nicht“, gab ich schließlich zu. „Eigentlich hasse ich es, im Mittelpunkt zu stehen.“
„Weshalb hast du dich dann beworben?“
Ich erzählte es ihm, während ich heißhungrig meinen Kuchen vertilgte.
Er hörte mir aufmerksam zu.
„Du musst unbedingt an deinem Selbstwertgefühl arbeiten, Prinzessin“, sagte er schließlich mit ernster Miene.
Ich hörte auf zu kauen und starrte ihn fragend an.
„Wie meinst du das?“
„Du glaubst nicht an dich. Du warst total überrascht, dass du diese Wahl gewonnen hast. Dabei hat jeder im Saal gesehen, dass du mit Abstand das schönste und intelligenteste Mädchen da oben auf der Bühne warst.“
Ich würgte den Bissen in meinem Mund mühsam hinunter, denn mein Hals fühlte sich plötzlich staubtrocken an, während sich mein Herz an einem dreifachen Salto zu versuchen schien und eben kurz mal aussetzte.
Konnte ich ein schöneres Kompliment bekommen als das, was er da eben gesagt hatte? Und was noch besser war: diesmal hörte ich keinen Sarkasmus in seiner Stimme. Alles, was er sagte, klang ehrlich.
Ich hielt seinem Blick stand und lächelte schließlich.
„Danke.“
„Keine Ursache.“
Er lehnte sich zurück und trank erneut einen Schluck von seinem Kaffee.
„Und woher kommst du?“, fragte ich schnell, um das Thema zu wechseln.
„Von der Küste. Meine Ausbildung habe ich noch zu Hause auf der Polizeiakademie gemacht, aber dann habe ich mich hierher versetzen lassen. Als Kind war ich oft in dieser Gegend, meine Großeltern leben hier. Immer, wenn es mir zu Hause zu eng wurde, habe ich mich in den nächsten Zug gesetzt und bin zu ihnen geflüchtet.“
„Willst du bei der Polizei bleiben?“
„Nicht für immer. Die Ausbildung ist eine Grundvoraussetzung für das, was ich später vorhabe.“ Er machte eine kurze, bedeutungsvolle Pause. „Ich möchte Kriminalistik studieren und später als Ermittler arbeiten.“
„Ermittler?“, staunte ich. „So ähnlich wie Horatio Caine?“
Er grinste.
„Besser.“
„Und weißt du schon, wo du studieren wirst?“
„Nein, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“
Ich musste lächeln, als ich daran dachte, was er kurz vorher über seine Großeltern erzählt hatte.
„Was unsere Großeltern betrifft, da haben wir etwas gemeinsam. Meine sind für mich wie eine zweite Heimat. Zu ihnen zieht es mich auch jedes Mal, wenn mir hier etwas zu viel wird. Leider kann ich mich dazu nicht einfach in den nächsten Zug setzen.“
In diesem Augenblick meldete sich mein Handy. Ein Blick aufs Display bestätigte meine Vorahnung.
„Die Klinik. Da muss ich rangehen. Ich befürchte, die brauchen mich.“
Ich sollte Recht behalten. Meine Vorgesetzte verständigte mich darüber, dass es auf der naheliegenden Autobahn einen Verkehrsunfall mit mehreren Schwerverletzten gegeben hatte, die in Kürze in unsere Klinik eingeliefert werden sollten. Sie brauchten dringend Hilfe auf der Station. Ich sagte sofort zu, natürlich nicht ohne Bedauern, dass dieser verheißungsvolle Nachmittag nun ein so abruptes Ende nahm.
Schnell trank ich meinen Kaffee aus, bedankte mich für die Einladung und griff nach meiner Jacke.
Als ich David zum Abschied die Hand reichte, stand er auf, zog mich kurz zu sich heran und gab mir einen Kuss auf die Wange, genauso, wie das unter guten Freunden üblich ist. Trotzdem brachte er mein Innenleben mit dieser Geste wieder total durcheinander und mein Herz klopfte wie ein Vorschlaghammer.
Was hatte dieser Mann nur an sich, dass ich in seiner Gegenwart derart aus dem Gleichgewicht geriet?
„War schön mit dir, Prinzessin“, sagte er mit dieser samtweichen und doch so männlichen Stimme, die mir jedes Mal, wenn ich sie hörte, einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. "Wir sehen uns."
Ich war schon im Begriff zu gehen, wandte mich aber im letzten Augenblick noch einmal nach ihm um.
„Love Story“, sagte ich und lächelte, als ich seinen erstaunt-fragenden Blick auffing. „Du wolltest neulich wissen, welches Parfüm ich benutze. Es heißt „Love Story“ von Chloé.“