Der darauffolgende Samstag kam schneller als gedacht.
David hatte, wie in fast allen Nächten der vergangenen Woche, bei mir übernachtet. Da laut unserer internen Informationen die Sicherheitsvorkehrungen an diesem besonderen Tag auf Hochtouren liefen, war er ausnahmsweise schon sehr zeitig in die Dienststelle bestellt worden. Draußen dämmerte es gerade erst, als uns sein Wecker aus unseren Träumen riss.
Verhalten fluchend ließ er den Störfaktor mit einem gezielten Schlag verstummen, wälzte sich in meine Richtung und hatte mich Sekunden später in den Armen.
„Hey Zaubermaus“, knurrte er verschlafen. „Mach, dass dieser Morgen schöner wird!“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und "zauberte" uns beiden den Morgen so schön, dass David irgendwann viel zu spät und ohne Frühstück hastig das Haus verließ und trotz aller Bemühungen vermutlich nicht ganz pünktlich zur Arbeit erschien.
Ich schlief einfach weiter, erschöpft, glücklich und total entspannt.
Ein paar Stunden später erwachte ich mit einem herrlichen Gefühl der Sorglosigkeit. An einem Tag, der so verheißungsvoll begonnen hatte, konnte doch eigentlich gar nichts Schlimmes passieren.
Ein spektakulärer Sonnenaufgang und ein strahlend blauer, wolkenloser Himmel versprachen zumindest vom Wetter her einen makellosen, störungsfreien Sommertag.
Den Vormittag verbrachte ich in dem Kosmetiktempel, in dem meine Mom arbeitete. Sie hatte sich die Zeit freigehalten, die sie dafür brauchte, ihre Tochter unter ihren fachkundigen Händen in eine hoheitsvolle Majestät zu verwandeln.
Wir waren fast fertig, als uns ein wütendes Hupkonzert vor der Tür aufhorchen ließ. Es schien vom Kundenparkplatz zu kommen.
Kurz darauf betrat David den Laden. Er war anscheinend direkt vom Revier aus hergefahren, denn er trug noch seine Uniform.
„Wer kriegt sich denn hier draußen nicht ein?“, erkundigte ich mich in Bezug auf die Huperei vor der Tür. David winkte nur mit einem geringschätzigen Lächeln auf den Lippen ab.
„Irgend so ein Parkmuffel meinte wohl, mit seinem Schlachtschiff Anspruch auf den Platz genau neben dem Eingang zu haben. Er hat sich geärgert, weil ich mit meinem Golf schneller war“, klärte er uns auf und musterte mich anerkennend. „Wow! Du siehst fantastisch aus!“
„Na, das will ich meinen“, ließ sich meine Mom vernehmen.
Er drehte sich um und reichte ihr höflich die Hand.
„Hallo Misses Jennings! Großes Kompliment, Sie haben Caitlin wieder in eine wahre Prinzessin verwandelt."
„Danke.“ Sichtlich geschmeichelt wandte sie sich zu mir um und meinte augenzwinkernd: „Ehrlich, Caiti, in der Uniform gefällt er mir fast noch besser als nackt im Schaumbad!“
„Mom“, ermahnte ich sie lachend, als die Tür aufgerissen wurde und mein Vater mit wütendem Gesicht hereingestürmt kam.
„Da ist er ja… Hör mal, du Hilfssheriff, du kannst dir für deine rücksichtslose Fahrweise gleich selber einen Strafzettel verpassen!“
David drehte sich scheinbar erstaunt um und zog dann angesichts des Ankömmlings mit einem nachsichtigen Lächeln die Augenbrauen hoch.
„Darf ich leider nicht. Aber Ihnen kann ich gern einen ausstellen.“
„Auch noch frech werden“, erboste sich mein Vater. „Und weswegen, wenn ich fragen darf?“
„Mmh...“ David verzog bedenklich sein Gesicht. „Da wäre zum einen Ruhestörung in Form von langanhaltendem Hupen ohne ersichtlichen Grund, zum anderen Beleidigung eines Polizeibeamten im Dienst…“
„Hey!“, mischte ich mich zwecks Schadensbegrenzung rasch ein und wandte mich beschwichtigend an David: „Ganz ruhig, du bist doch gar nicht mehr im Dienst!“
„Na also, da haben wir es, er ist gar nicht im Dienst“, wiederholte mein Vater mit sichtlicher Genugtuung, dann jedoch stutzte er und sah mich erstaunt an. „Kennst du den Kerl?“
Aber klar doch, Daddy, er ist heute Morgen in meinem Bett aufgewacht!
„Ähm… ja, das könnte man so sagen.“ Ich trat einen Schritt vor und küsste unser Familienoberhaupt zur Begrüßung - oder sollte ich eher sagen, zur Besänftigung - auf die Wange. „Hi Daddy! Darf ich dir David Brandt vorstellen? Er ist…“
„… der gutaussehende junge Mann, von dem ich dir erzählt habe, Sweetheart. Caitlins neuer Boyfriend“, ergänzte meine Mom und lächelte zuckersüß, als sei diese Mitteilung die normalste Sache der Welt. „Also sei friedlich, Thomas, und reg dich nicht unnötig auf, nur weil er auf dem Parkplatz schneller war als du.“
Mein Vater holte tief Luft, schluckte dann mit sichtlicher Mühe seine angestaute Wut hinunter und atmete gut hörbar wieder aus.
David räusperte sich mit einem verhaltenen Grinsen. Kurz entschlossen trat er auf meinen Vater zu und streckte ihm versöhnlich die Hand entgegen.
„Hallo Mister Jennings! Freut mich, Sie kennenzulernen! Und… nichts für ungut, das nächste Mal halte ich mich zurück, wenn Sie mit Ihrem… Kombi einparken möchten.“
Ich persönlich fand es total süß, dass David meine Herrschaften in Kenntnis unserer Familiengeschichte mit „Mister“ und „Misses“ ansprach. Mein Dad jedoch musste erst noch ein weiteres Mal tief einatmen, während ich mit meiner Mutter heimlich einen vielsagenden Blick wechselte.
David verstand es wie kein anderer zu provozieren, ohne viel zu sagen. Seine Worte waren Friedensangebot und Herausforderung zugleich.
Mein Vater war eigentlich von Natur aus kein streitsüchtiger Mensch, aber er ließ sich auch nichts gefallen, wenn ihn jemand zu provozieren versuchte.
Ich hielt die Luft an, blickte gespannt von einem zum anderen und sah meine beiden „Lieblingsmänner“ in meiner Fantasie schon kampfbereit im Boxring stehen.
„Na ja, wenn das so ist“, durchbrach mein Dad endlich die gespannte Stille und ergriff Davids dargebotene Hand. „Endlich mal ein Typ, der nicht auf den Mund gefallen ist. Gefällt mir!“
Wir trafen uns alle mehr als eine Stunde vor dem offiziellen Beginn des Stadtfestes vor dem Rathaus. Wir, das waren hauptsächlich die Hauptakteure und Organisatoren, die Sicherheitsleute und natürlich der gesamte Stadtrat samt Bürgermeister.
David half mir und meinem langen Kleid pannenfrei aus dem Auto. Ich muss zugeben, ich ließ seine Hand nur ungern los, aber Simone stand bereits auf der obersten Stufe der Rathaustreppe und winkte mir aufgeregt zu.
David knurrte etwas von „alte Nervensäge“ und gab mich mit den diskret leisen, aber liebevollen Worten „Bis gleich, Süße“ frei, bevor er sich zu seinen Kollegen von der Security gesellte.
Er hatte mir versprochen, mich während des Umzuges und der gesamten Veranstaltung nicht aus den Augen zu lassen. Klar, er war mein Bodyguard, jeder rund um die „Chefetage“ hatte an so einem Tag wie heute einen davon an seiner Seite, aber Davids Sorge um mich ging inzwischen weit über das Dienstliche hinaus. Es gab mir ein gutes Gefühl, ihn immer zwei Schritte neben mir zu wissen.
„Du hast noch einen wichtigen inoffiziellen Termin“, ließ sich Simone vernehmen, kaum dass wir uns begrüßt hatten. „Komm mit!“
Sie rauschte los und ich folgte ihr erstaunt durchs Rathaus-Fourier.
„Was gibt es denn?“, fragte ich und hatte Mühe, in meinem langen Kleid mit ihr Schritt zu halten.
„Die amtierende Blumenfee ist krank“, eröffnete sie mir, während sie die Treppe hinaufhastete. „Und die Weinkönigin hat angeblich heute einen Termin in der Landeshauptstadt.“ Oben angekommen blieb sie schweratmend stehen und verdrehte theatralisch die Augen. „Klasse, was?“
„Ja, ganz toll“, erwiderte ich und atmete ebenfalls erst einmal tief durch. Die Tatsache, dass ich als einzige Majestät an der Seite des Bürgermeisters auf der Bühne stehen würde, gestaltete den Tag jetzt nicht unbedingt schöner, war aber nicht zu ändern. „Ach, komm schon, Simone, wir machen einfach das Beste daraus, so wie immer.“
„Das ist mein Mädchen“, lobte sie grinsend. „Los, wir müssen uns beeilen.“ Mit diesen Worten nahmen wir im Eiltempo den zweiten Treppenabsatz.
„Wohin gehen wir eigentlich?“, fragte ich neugierig und raffte erneut mein langes Kleid, um nicht über die Stufen zu stolpern, die hinauf in die altehrwürdige obere Etage führten.
„Zum Büro des Bürgermeisters“, keuchte Simone, inzwischen völlig atemlos. „Er hat etwas mit dir zu besprechen.“
Ich verzog scherzhaft das Gesicht.
„Also soll ich nun doch eine kugelsichere Weste tragen, oder was?“
Sie lachte.
„Keine Sorge, es ist nichts Schlimmes, eher was Erfreuliches.“
Trotzdem betrat ich das „Allerheiligste“ mit etwas gemischten Gefühlen. Was konnte wohl so wichtig sein, dass mich das Stadtoberhaupt extra in sein Büro bestellte?
Nun, ich würde es gleich erfahren.
„Ach, da ist ja unsere Lichterprinzessin!“, begrüßte mich die reichlich geschminkte und geschäftsmäßig vornehm gekleidete Vorzimmerdame mittleren Alters mit sichtbar aufgesetztem Lächeln, während sie mich abschätzend musterte. „Gehen Sie bitte hinein, der Herr Bürgermeister erwartet Sie bereits.“
Der Herr Bürgermeister thronte hinter seinem Schreibtisch und blätterte geschäftig in irgendwelchen Unterlagen, als ich eintrat. Er erhob sich sofort und streckte mir zur Begrüßung lächelnd die Hand entgegen.
„Caitlin! Schön, dass Sie noch kurz hereinschauen! Bitte…“ Er wies auf einen der teuer aussehenden Sessel. „Nehmen Sie einen Augenblick Platz. Es wird nicht lange dauern.“
Innerlich gespannt ließ ich mich nieder und er setzte sich mir gegenüber. Für das bevorstehende Fest schien er bestens gewappnet. Er trug einen dunklen Anzug und dazu die Amtskette des Stadtoberhauptes, die seine momentane politische Führungsrolle äußerst beeindruckend unterstrich.
„Tja, Caitlin, wie ich gehört habe, sind Sie gerade erst mit Ihrer Berufsausbildung fertig geworden und haben Ihre Abschlussprüfungen sehr gut bestanden. Dazu meinen herzlichen Glückwunsch!“
„Vielen Dank“, erwiderte ich höflich, aber mit einer gewissen Vorsicht.
Worauf lief das hier hinaus?
„Und was haben Sie jetzt beruflich vor, wenn ich fragen darf?“
„Ich werde mich voraussichtlich für ein Medizinstudium bewerben.“
„Im In- oder Ausland?“
Ah ja, er hat Angst, dass ich mich absetze, und er hier auf dem Amt der Lichterprinzessin hocken bleibt!
„Ähm, ich habe mich noch nicht endgültig entschieden“, erklärte ich höflich. „Aber keine Sorge, mein ehrenamtliches Jahr als Lichterprinzessin werde ich natürlich erst zu Ende bringen.“
Er lächelte.
„Das ist gut zu wissen. Aber deshalb wollte ich Sie nicht sprechen.“
Nicht? Na dann… Was es auch ist, raus damit! Bringen wir es hinter uns!
Er räusperte sich und sah mich forschend an.
„Könnten Sie sich vorstellen, künftig für Ihre Heimatstadt zu arbeiten?“
„Wie bitte?“
„Ich meine nicht ehrenamtlich, sondern beruflich.“
Das hatte ich nicht erwartet. Unwillkürlich rutschte ich ein paar Zentimeter tiefer in den wuchtigen Sessel.
„Könnten Sie mir das bitte etwas näher erklären?“
Er sah kurz zur Uhr und nickte dann.
„Natürlich. Also die Sache ist die: ich biete Ihnen einen Vertrag als Übersetzerin und persönliche Assistentin in Sachen Kanadische Partnerstadt an. Zu ihren Aufgaben würde gehören, den Kontakt mit der Stadt in Kanada aufrecht zu erhalten, Besuche zu organisieren, die Gäste zu betreuen, gegebenenfalls zu dolmetschen, und den Bürgermeister oder Vertreter der Stadt auf geschäftlichen Reisen und Freundschaftsbesuchen in Kanada zu begleiten. Ein Job, der Ihnen eine gewisse berufliche Sicherheit gewährleistet, und der, nebenbei bemerkt, auch angemessen bezahlt wird.“
Er lehnte sich zurück und sah mich erwartungsvoll an. Ich vermutete, dass er einen Freudenausbruch meinerseits über dieses „glänzende“ Angebot erwartete. Zugegeben, ich war überrascht, vielleicht auch ein wenig beeindruckt, mehr aber auch nicht. Das musste ich erst einmal genauer hinterfragen.
„Was bedeutet berufliche Sicherheit?“, erkundigte ich mich vorsichtig. „Was passiert, wenn Sie nicht wiedergewählt werden?“
Er lächelte etwas säuerlich.
„Wenn Sie es wünschen, werde ich veranlassen, dass Ihr Arbeitsvertrag die kommende Amtsperiode mit einschließt, egal, wer dann Oberhaupt dieser Stadt sein wird.“
Ich fühlte mich völlig überrumpelt. Oh Mann, das Angebot der Woche schlechthin! Ach was, für manche wäre dies das Angebot des Lebens! Aber nicht für mich. Ich war skeptisch. Sollte ich mich hier und jetzt derart festlegen?“
Fast schien es so, als hätte der Bürgermeister meine Gedanken erraten, denn er lächelte nachsichtig.
„Ich will Sie jetzt keinesfalls mit diesem Angebot überfahren, meine Liebe. Bitte überlegen Sie sich den Vorschlag in Ruhe. Reden Sie vielleicht auch einmal mit ihren Eltern über die Perspektiven, die sich Ihnen hier bieten würden, und geben Sie mir Anfang kommender Woche Bescheid.“ Er erhob sich und wies auf die Tür. „Die Zeit drängt, wir müssen los.“
Zerstreut sprang ich auf und nickte.
„Vielen Dank. Ich denke darüber nach und melde mich am Montag.“
„Natürlich hoffe ich sehr auf Ihre Zusage“, meinte er und bot mir galant seinen Arm. „Also dann wollen wir mal unser Stadtfest eröffnen!“
Ich hängte mich bei ihm ein und nickte der immer noch verkniffen lächelnden Vorzimmerdame im Vorübergehen mechanisch zu. Sagen konnte ich nichts mehr, ich war einfach nur baff.
Bevor wir in die Kutsche einstiegen, die uns zum Marktplatz bringen sollte, hatte ich noch kurz die Gelegenheit, ein paar Worte mit David zu wechseln, der neben dem Eingang wartete.
„Hey, was ist denn los?“, raunte er besorgt. „Du siehst aus, als wärst du gerade dem Erpresser persönlich begegnet!“
„Vielleicht bin ich das ja.“
„Caitlin…“
„Wir reden nachher, okay? Ich muss dir dringend etwas erzählen.“
„Okay, Süße. Und nun geh und lächle!“
Das tat ich dann auch…