Entgegen aller bösen Vorahnungen verlief das Stadtfest von Anfang an reibungslos und schien auf der ganzen Linie ein voller Erfolg zu werden.
Ein in unserer Region sehr bekannter und beliebter Radiosender hatte einen riesigen Bühnenkomplex samt Leinwand für seine Show aufgebaut. Die Leute nahmen das dargebotene abwechslungsreiche Unterhaltungsprogramm sehr gut auf, standen dicht gedrängt vor der Bühne und spendeten den Moderatoren, den Tanzgirls und der Live-Showband begeistert Beifall.
Das gesamte Zentrum der Innenstadt und der daran angrenzende Stadtpark hatten sich in einen festlich bunten, fröhlichen Jahrmarkt verwandelt, der keine Wünsche offen ließ.
Es gab jede Menge Attraktionen für Groß und Klein. Verkaufsstände aller Art boten ihre vielfältigen Waren an, und sogar die umliegenden Schulen und Kindereinrichtungen hatten ihre eigene Bastelstaße. Auch auf kulinarischer Ebene gab es alles, was das Herz begehrte.
Kurz gesagt, es war für jeden Geschmack etwas dabei.
Wir fuhren pünktlich mit unserer prächtig geschmückten Kutsche auf dem Marktplatz vor, begleitet von der lautstarken Schalmaienkapelle, die ich schon vom "Fest der tausend Lichter" her kannte, und gefolgt von einem buntgemischten Umzug, vorwiegend bestehend aus den Mitgliedern sämtlicher ortsansässiger Sportvereine.
Von der Radio-Bühne aus eröffnete der Bürgermeister offiziell das Fest. Anschließend hielt er seine Begrüßungsrede, umrahmt von den Mitgliedern des Stadtrates und der verschiedenen Fördervereine, einer in historische Gewänder gekleidete Theatergruppe, den attraktiven Cheerleadern des städtischen Fußballclubs, sowie meiner Wenigkeit.
Während er sprach, wanderten meine Blicke immer wieder unruhig herum, doch ich konnte zum Glück nichts Verdächtiges entdecken. Wir erlebten ein bestens organisiertes, gelungenes Fest bei schönstem Sommerwetter, und genauso wirkte auch die allgemeine Stimmung: ausgelassen, fröhlich und harmonisch.
David stand, wie versprochen, nur wenige Schritte entfernt neben mir im Schatten des Bühneneinganges, zusammen mit den anderen Beamten vom Personenschutz. Unter ihnen war auch Steve, jener Kollege, mit dem er sich derzeit noch die Wohnung teilte.
David bemerkte meinen Blick und zwinkerte mir aufmunternd zu. Alles bestens! sollte das wohl bedeuten, doch ich konnte seine innere Anspannung förmlich spüren. Er traute dem Frieden nicht und war auf der Hut.
Ich konnte es nicht erklären, doch mir ging es ähnlich.
Nach dem Bühnenauftritt flanierten wir in lockerer Gemeinschaft durch die Innenstadt.
Die Leute grüßten den Bürgermeister, viele lächelten auch mir freundlich zu, Freunde hießen mich lautstark willkommen, und vor allem die Kinder erwiesen sich wieder als meine treuesten Fans.
Irgendwann löste sich unser „Chefetagen“-Tross dann im allgemeinen Gedränge auf.
„Wir treffen uns später backstage zum Liveauftritt von Kassandra Lance“, erinnerte mich Simone noch, bevor sie selbst in der buntgemischten Menschenmenge untertauchte.
Ich fand es okay, dass nun jeder ein wenig Zeit und Gelegenheit hatte, um sich in Ruhe umzusehen. Hauptsache, David war in meiner Nähe.
Unterwegs trafen wir dann auch auf meine Eltern. Sie saßen im Außenbereich eines Straßencafés und winkten uns zu sich heran. David war zwar im Dienst, aber gegen einen Kaffee würde unter diesen Umständen wohl niemand etwas einzuwenden haben. Also rückten wir zusammen und sahen von unserer Position aus dem bunten Treiben ringsum entspannt zu. Allerdings ließ mein neuer Bekanntheitsgrad auch hier nicht nach, immer wieder kamen Leute vorbei, die mich um ein gemeinsames Foto baten. Einige Kinder wollten sogar Autogramme, die ich dann bereitwillig auf Bierdeckel und Servietten schrieb.
Irgendwann erklang dicht neben mir ein Freudenschrei, und ich wurde spontan umarmt.
„So ist also das bittersüße Leben als Berühmtheit!“, stellte Jessi, die uns im Vorübergehen entdeckt hatte, fröhlich fest und gesellte sich ebenfalls dazu. Die auffälligen, pinkfarbenen Strähnchen in ihrem modisch kurzen, schwarzen Haar leuchteten in der Sonne und passten hervorragend zu ihrer Jeansjacke in schwarz und pink. Sogar für den glänzenden Piercing-Ring in ihrer rechten Augenbraue und ihr Lipgloss hatte sie die Farbe Pink gewählt. Die kunstvoll zerrissene Jeans, von der sie stets behauptete, sie werde sie irgendwann in ihrem Leben einmal in San Francisco tragen, rundete das Bild perfekt ab. Jessi war wie immer ein absoluter Hingucker, ein Original.
„Ich habe eine Idee“, platzte sie heraus und zwinkerte mir zu. „Ich werfe alle meine bisherigen Pläne über den Haufen und werde deine Managerin.“
Das erinnerte mich schlagartig wieder an meine Unterhaltung mit dem Bürgermeister.
„Ich muss euch etwas erzählen“, begann ich etwas zögernd. Als sich alle vier Augenpaare erwartungsvoll auf mich richteten, berichtete ich von dem außergewöhnlichen beruflichen Angebot, das ich vom Bürgermeister bekommen hatte.
„Wow“, machte Jessi als Erste ihrem Herzen Luft, als das „Geheimnis“ heraus war. „Das ist ein echter Knaller. Kommt noch ein Haken?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, das war alles, was er gesagt hat.“
„Es gibt bei sowas immer einen Haken“, beharrte sie. „Traue niemandem aus der Chefetage, egal, wo diese sich befindet!“
„Das ist doch Quatsch“, mischte sich mein Vater ein. „Greif zu, Caitlin, ein besseres Angebot bekommst du nirgendwo! Über sieben Jahre Sicherheit, danach hast du deinen Fuß soweit in der Tür, dass du locker in der Chefetage bleiben kannst. Dann bist du für die Stadt unentbehrlich geworden!“
„Ich weiß nicht so recht, das ist ja nun gar nicht die berufliche Richtung, die ich mir vorgestellt hatte“, gab ich zu bedenken.
Jessi nickte heftig.
„Genau! Nichts für ungut, Mister Jennings, aber Caiti hat Recht. Das ist überhaupt nicht das, was sie sich vorgenommen hat!“ Sie wandte sich wieder an mich. „Wenn die dich wirklich die nächsten sieben Jahre behalten, dann bist du erstens zu alt für ein Medizinstudium und hast zweitens alles vergessen, was du in deiner Ausbildung gelernt hast. Willst du etwa hier zwischen irgendwelchen staubigen Akten versauern?“
„Staubige Akten?“ Ich musste lachen. „Das wurde aber etwas anders beschrieben.“
„Wofür hast du die ganze Zeit über geackert, hast einen Beruf gelernt und dich jetzt endlich entschlossen Medizin zu studieren? Hast du schon wieder Angst davor, irgendwas nicht zu schaffen?“ Jessi hatte sich in Rage geredet, und ich wusste, sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg, egal, was andere sagten oder dachten. Genau das schätzte ich an ihr, und obwohl ich es in diesem Augenblick nicht wahrhaben wollte, hatte sie mit ihren letzten Worten genau ins Schwarze getroffen. Ich fühlte mich durchschaut, und mein Blick wanderte unwillkürlich zu David.
Er hatte sich scheinbar unbeteiligt zurückgelehnt, die Arme verschränkt und blickte abwartend in die Runde. Trotzdem ahnte ich, was er in diesem Augenblick dachte. Sofort verspürte ich das dringende Bedürfnis, mich irgendwie zu rechtfertigen.
„Hier bin ich aufgewachsen, das ist meine Heimatstadt. Und ich würde für meine Stadt arbeiten…“
„Völliger Blödsinn!“, rief Jessi sofort. „Du würdest hier nur erreichen, dass alle Angestellten der Chefetage dich hassen!“
„Wieso sollten sie das tun?“
„Weil sich jeder einzelne Mitarbeiter seine Position im Rathaus hart erarbeiten musste. Du bist für sie einfach nur die, die der Bürgermeister ins goldene Nest gesetzt hat. Und du weißt, wie man solche Leute nennt.“
„Jetzt reicht es aber“, schimpfte mein Vater und warf Jessi einen vorwurfsvollen Blick zu. „Heutzutage muss einfach jeder sehen, wo er bleibt. Egal, was die anderen denken.“
„Mir wäre es nicht egal, und Caitlin sicher auch nicht“, mischte sich meine Mutter ein, die bisher geschwiegen hatte. „Ich könnte nicht jeden Tag zur Arbeit gehen, wenn mich dort keiner haben will.“
„Das kann sie doch vorher gar nicht wissen“, gab Dad zu bedenken.
Mom schüttelte den Kopf.
„Es ist aber absehbar. Und wenn der Vertrag einmal unterschrieben ist, dann ist es zu spät.“
„Das sehe ich genauso“, unterstützte Jessi meine Mutter. „Ich vermute, um Caitlins zusätzlichen Arbeitsplatz zu finanzieren, bekommt irgendeine Bürokraft in den nächsten Tagen ihre Kündigung. Oder es trifft einen armen Azubi, der gehofft hat, von der Stadt übernommen zu werden.“
„Na toll, jetzt soll ich noch ein schlechtes Gewissen bekommen, oder was?“, beschwerte ich mich.
Jessi verdrehte die Augen.
„Caitlin, begreifst du denn nicht? Du würdest dich schrecklich festlegen, in einem Job, denn du nie in Betracht gezogen hast.“ Sie atmete tief durch und sah mich eindringlich an. „Ich kenne dich schon so lange ich denken kann, und ich gebe dir mein Wort: in ein paar Monaten bist total unglücklich! Verdammt nochmal, lass doch endlich mal die Sicherheitsleine los und mach das, was du schon immer wolltest!“
Ein wenig beleidigt verzog ich das Gesicht.
„Du klingst genauso wie David!“
Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch.
„Ach ja?“
„Na also“, fühlte Jessi sich sogleich bestätigt. „Dann stehe ich mit meiner Meinung nicht allein da. Und wenn du ehrlich bist, weißt du auch, dass er Recht hat! Riskier doch mal was! Bewirb dich für das Studium!“
So engagiert hatte ich Jessi selten erlebt. Sie kannte mich wirklich gut, und sie meinte es ehrlich. Wider Willen musste ich lachen.
„Das sagst du doch nur, damit du für deine Kinder später eine gute Kinderärztin vor Ort hast!“
Jessi stutzte.
„Welche Kinder?“, fragte sie scheinbar entsetzt und stimmte dann in mein Lachen ein.
Wieder wanderte mein Blick zu David.
„Du hast bis jetzt noch gar nichts dazu gesagt.“
„Ich werde auch nichts dazu sagen. Du kennst meine Meinung besser, als dir lieb ist. Entscheide endlich einmal selbst, was dir wichtig ist.“
Das war mal wieder typisch für ihn. Mit wenigen Worten traf er präzise den Nagel auf den Kopf. Er hatte mich durchschaut und wusste genau, dass ich diese Diskussion in der Hoffnung angefangen hatte, dass die Menschen, die mir am nächsten standen, mir die Entscheidung abnehmen würden. Doch so würde das dieses Mal nicht laufen.
Ich war diejenige, die sie zu treffen hatte. Und wenn ich ehrlich war, hatte ich sie schon getroffen. Ich war in diesem Augenblick nur noch nicht bereit, das zuzugeben.
Mein Hals fühlte sich mit einem Mal sehr trocken an.
„Okay“, sagte ich mit belegter Stimme. „Genau das werde ich tun.“
Der Nachmittag verging wie im Fluge und ich registrierte ganz nebenbei erleichtert, dass sich mein Vater und David nach dem anfänglichen Missverständnis vor ein paar Stunden inzwischen sehr gut zu verstehen schienen. Angeregt unterhielten sie sich miteinander über Autos, Polizeiarbeit, die Renovierung meiner Wohnung und andere "für Männer typische" Themen. Mom bemerkte meinen Blick und zwinkerte mir mit einem vielsagenden Lächeln zu.
„Weißt du, ob Kassandra Lance wirklich heute Abend hier zu Gast ist?“, fragte mich Jessi, als wir uns schließlich auf den Weg zurück zur Showbühne machten. „Oder haben die nur irgend ein Double engagiert?“
„Kein Double“, verriet ich. „Die Stadt hat es sich richtig was kosten lassen, dass sie heute höchstpersönlich mit ihrer Band auftritt.“
„Hey, das ist ja der Hammer! Ich liebe ihre Musik! Die erinnert mich irgendwie an Rihanna. Und ich persönlich finde sie sogar noch attraktiver.“
„Mal sehen, ob du das auch noch sagst, wenn du ihr gegenüberstehst.“
„Klar, ich bleibe bei meiner Mei…“ Jessi brach mitten im Satz ab und sah mich mit großen Augen an. „Gegenüber? Wie meinst du das?“
Ich lächelte geheimnisvoll und nickte David zu, der unser Gespräch mitbekommen hatte. Er griff daraufhin in seine Jackentasche und brachte einen VIP-Ausweis zum Vorschein, den er Jessi mit bedeutungsvollem Blick reichte. Fassungslos starrte sie erst ihn, dann den Ausweis an.
„Soll das heißen, ich darf mit euch hinter die Bühne? Wow…“ Sie fiel mir um den Hals und warf David übermütig einen Handkuss zu. „Damon, ich liebe dich! Und dich sowieso, Süße!“ Sie hängte sich den Ausweis um und strahlte. „Jeeeeh! Ich bin V I P… a very important person! Das ist sooo geil! Ich fall gleich in Ohnmacht!“