Am nächsten Morgen machte ich mich mit etwas gemischten Gefühlen auf den Weg ins Rathaus.
Zuerst suchte ich Simone. Ich fand sie schließlich in ihrem Büro, wo sie aufgeregt telefonierte. Sie bedeutete mir mit hektischen Handzeichen, mich zu setzen und beendete kurz darauf ihr Telefonat.
„Puh“, stöhnte sie und massierte sich die Schläfen. „Ich bin vor zwei Stunden hier angekommen, und seitdem steht das verdammte Ding keine Minute still.“
Ich lächelte.
„Kann ich mir vorstellen.“
„Nein, kannst du nicht“, widersprach sie und verdrehte die Augen. „Glaub mir, Caitlin, hier herrscht momentan der Ausnahmezustand! So etwas haben wir noch nicht erlebt! Alle reden nur vom Ende des Stadtfestes, von den Randalierern, von deiner Entführung…“ In Erinnerung daran stutzte sie und starrte mich erschrocken an. „Oh mein Gott, geht es dir gut, Kleines?“
Wider Willen musste ich lachen.
„Aber klar. Außerdem war das nur eine versuchte Entführung, und mir ist überhaupt nichts geschehen. Im Gegensatz zu David, der hat ordentlich was vor den Kopf bekommen!“
„Ja“, stöhnte Simone und lehnte sich zurück. „Ich habe davon gehört. Hatte Glück im Unglück, dein Bodyguard.“ Sie strich sich über die Stirn. „Auf jeden Fall haben die Vorfälle beträchtliche Konsequenzen für die Stadt. Hast du die Lokal-Zeitung schon gelesen? Der Bühnenbetreiber des Radiosenders fordert sein Geld zurück, und das Management von Kassandra Lance will die Stadt verklagen. Du bist auch erwähnt, und natürlich lässt die Presse alles viel schlimmer aussehen, als es in Wahrheit gewesen ist!“
„Ach du lieber Himmel!“ Ich ahnte Böses. „Was haben die denn geschrieben? Dass ich verschleppt, vergewaltigt und fast ermordet wurde?“
Sie lachte bitter.
„Na ja, vielleicht nicht ganz so krass. Aber du weißt ja, wie das läuft. Die Auflage muss stimmen, und da...“
Erneut klingelte das Telefon.
Genervt drückte Simone die Taste der Wechselsprechanlage.
„Stellt mir für ein paar Minuten keine Anrufe durch, ich bin in einer wichtigen Besprechung!“, ordnete sie an und zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Jetzt haben wir für einen Moment Ruhe. Erzähl mal, wie geht es dir? Was ist denn nun wirklich passiert?“
Ich berichtete ihr so kurz und präzise wie möglich.
„Und wirst du dir einen Anwalt nehmen?“, fragte sie anschließend, als sei dies das Natürlichste der Welt. Erstaunt sah ich sie an.
„Einen Anwalt? Wozu denn das?“
„Na du könntest den Kerl auf Schmerzensgeld verklagen! Und die Stadt auch…“
„Wie bitte?“, unterbrach ich sie ungläubig lachend. „Wieso Schmerzensgeld? Erstens hatte ich keine Schmerzen, zweitens hat der Erpresser sowieso kein Geld, dass er mir geben könnte, und drittens wird die Stadt sicher jeden einzelnen Cent brauchen, um Super-Kassandra zu besänftigen.“
Nun musste auch Simone lachen.
„Na wenigstens eine, die auf dem Boden bleibt“, nickte sie anerkennend. „Auf jeden Fall sind bis zum Herbst erst einmal alle größeren Events abgesagt. Ich hoffe, du bist nicht zu enttäuscht.“
„Nein, das ist schon okay. Leider muss ich auch etwas absagen.“
Simone, die begonnen hatte, nebenbei in ihren Akten zu kramen, hielt erschrocken inne.
„Du willst nicht etwa dein Amt als Lichterprinzessin niederlegen?“
„Nein, das nicht. Aber ich werde das Jobangebot des Bürgermeisters nicht annehmen.“
Simone starrte mich an, als hätte ich ihr eben den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang eröffnet.
„Bist du verrückt?“
„Tut mir leid, aber ich habe mich für mein Medizinstudium entschieden.“
„Meine Güte…“ Sie lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. „Das muss ich jetzt erst einmal verdauen.“ Sekunden später jedoch nickte sie, und ich vermeinte ein gewisses Verständnis in ihrem Blick zu erkennen.
„Schade, Caitlin, ich hätte es gern gesehen, dass du hier bei uns im Rathaus arbeitest. Aber andererseits…“ Sie zögerte.
„Was?“ Ich musste lächeln. „Sag schon, wen hätten sie wegen mir rausgeworfen?“
„Du weißt davon?“
„Na so läuft das doch für gewöhnlich, oder?“
„Tja, die drei Sekretärinnen des Bürgermeisters werden jedenfalls aufatmen. Eine von ihnen hätte zum Jahresende ihre Papiere bekommen.“
„Na toll.“ Sofort fiel mir wieder ein, was Jessi während unserer Diskussion auf dem Stadtfest gesagt hatte: „Vermutlich würdest du nur erreichen, dass alle Angestellten der Chefetage dich hassen! Um den zusätzlichen Arbeitsplatz zu finanzieren, bekommt irgendeine Bürokraft in den nächsten Tagen ihre Kündigung.“
Ich stand auf und atmete tief durch. „Dann können sie jetzt in der Chefetage damit aufhören, mich zu hassen.“
Simone sah mich einen Augenblick lang erstaunt an. Dann erhob sie sich ebenfalls, kam um den Tisch herum und umarmte mich spontan.
„Dich kann man doch gar nicht hassen, Kleines!“ Den Arm um meine Schultern gelegt, geleitete sie mich zur Tür. „Ich werde es dem Chef sagen, wenn du möchtest. Momentan ist er nämlich nicht zu erreichen. Er hat eine Besprechung nach der anderen.“
Ich nickte erleichtert.
„Danke Simone. Wir sehen uns dann nach der Sommerpause!“
Als ich das Rathaus verließ, meldete sich mein Handy.
„Caitlin Jennings?“, vernahm ich eine sonore Männerstimme.
Das erinnerte mich unangenehm an vorgestern Nacht.
„Mit wem spreche ich?“, fragte ich vorsichtig und mit der festen Absicht, mich keinesfalls auf etwas Unvorhergesehenes einzulassen.
„Oberkommissar Brinkmann“, stellte der Mann sich vor. „Ich möchte Sie bitten, sich so schnell wie möglich auf dem städtischen Polizeirevier zu melden. Wir benötigen dringend Ihre Aussage wegen der versuchten Entführung!“
Okay, das war dann wohl keine Falle. Ich atmete auf.
„In Ordnung, bin schon unterwegs.“
Oberkommissar Brinkmann war ein schlanker, dunkelblonder Enddreißiger, der eigentlich recht attraktiv aussah. Leider schien er sich dieser Tatsache nur allzu bewusst zu sein, was sich in seinem gesamten überheblichen Verhalten ziemlich unvorteilhaft widerspiegelte.
Er war mir auf Anhieb unsympathisch.
Mit einer geschäftsmäßig distanzierten Freundlichkeit befragte er mich zu den Ereignissen des Stadtfestes und nahm, nachdem er zuvor mein Einverständnis dafür eingeholt hatte, alle Aussagen auf Band auf.
Die Befragung dauerte nicht lange. Glücklicherweise war meine „Entführung“ ja auch nicht von allzu langer Dauer gewesen.
Schließlich schaltete er das Diktiergerät aus, bedankte er sich für meine Aussagebereitschaft und reichte mir zum Abschied die Hand.
„Bitte warten Sie einen Augenblick, ich schicke Ihnen noch eine Kollegin, die dann Ihre Anzeige aufnehmen wird“, erklärte er, während er Anstalten machte, den Raum zu verlassen.
„Anzeige?“, fragte ich irritiert. „Ich habe nicht vor, irgendwen anzuzeigen.“
Die Hand bereits auf der Türklinke hielt er erstaunt inne.
„Sie wollen den Kerl, der Sie entführt hat, nicht strafrechtlich verfolgen lassen?“
„Sie meinen den Mann, der versucht hat mich zu entführen“, konnte ich mir nicht verkneifen, ihn zu verbessern und schüttelte dann entschieden den Kopf. „Nein, Herr Oberkommissar, das will ich nicht.“
„Ihnen ist aber schon klar, dass er eine Straftat begangen hat“, belehrte er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Natürlich“, erwiderte ich. „Und dafür wird er ja auch zur Rechenschaft gezogen. Aber nicht von mir, denn mir persönlich wurde kein Schaden zugefügt.“
„Es hätte aber auch ganz anders kommen können“, versuchte er mich in seinem schulmeisterhaften Ton umzustimmen.
Irgendwie brachte mich das nun doch auf die Palme.
„Das ist allerdings wahr“, lenkte ich mit einem Blick auf das glücklicherweise ausgeschaltete Aufnahmegerät ein. „All das wäre nämlich gar nicht erst passiert, wenn dieser Mann von Anfang an fair behandelt und nicht so abgezockt worden wäre.“
Ich hatte es tatsächlich geschafft, ihm mit meinen Worten den blasierten Ausdruck vom Gesicht zu wischen.
„Wie meinen Sie das?“
„Entschuldigen Sie bitte die Frage, aber haben Sie ein eigenes Haus?“
„Ähm… ja…“
„Was würden Sie dazu sagen, wenn man es Ihnen wegnimmt, abreißt und stattdessen einen Supermarkt dorthin baut?“
Jetzt schien er zu verstehen.
„Moment mal, junge Dame, so einfach ist die Sache nun auch wieder nicht. Wir können in dieser Gesellschaft nicht für alles, was uns nicht gefällt, Selbstjustiz üben! Wo kommen wir denn da hin?“
Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich sage nicht, dass ich billige, was er getan hat. Aber man sollte sich doch fragen, wie es dazu gekommen ist.“
„Das ist Sache der Richter.“
„Okay“, nickte ich und hob scheinbar ergeben die Schultern. „Dann sollen die Richter ihn meinetwegen verurteilen, aber ich für meinen Teil werde nicht zu dieser Verurteilung beitragen.“
„Nun gut“, erwiderte der Oberkommissar merklich reserviert. „Das ist allein Ihre Entscheidung.“
Ich wollte an ihm vorbei nach draußen, als er plötzlich noch hinzufügte:
„Wirklich schade. Ich hätte Sie für klüger gehalten. Sie glauben einem Kriminellen mehr als der Polizei.“
Ich blieb stehen und sah ihn an.
„Ich habe nur versucht, Ihnen klarzumachen, wie ich die Sache empfinde. Ich saß mit dem Mann allein im Auto, als er mir alles erzählt hat. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Weshalb sollte er mich denn in diesem Moment anlügen?“
Er schien kurz zu überlegen, dann nickte er, und sein Gesicht nahm wieder jenen arrogant verschlossenen Ausdruck an, während er mir mit einem verbindlichen Lächeln die Tür aufhielt.
„Ich danke Ihnen für Ihre Aussage. Wir melden uns, falls wir noch Fragen haben.“
Innerlich triumphierend trat ich hinaus. Mein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn hatte gesiegt, zumindest für den Augenblick.
Während ich den wenig einladend wirkenden langen Korridor in Richtung Ausgang entlang lief, überlegte ich, ob ich David wohl irgendwo in dem Gebäude finden würde. Hatte er gestern nicht etwas von Innendienst gesagt?
Wäre der Oberkommissar etwas umgänglicher gewesen, dann hätte ich ihn gefragt, aber dem traute ich zu, dass er jede noch so unbedeutende Frage meinerseits sofort mit ins Protokoll aufnahm. Ich hatte mich ohnehin schon unbeliebt genug bei ihm gemacht, was mich allerdings nicht im Geringsten störte, denn glücklicherweise ist es bisher noch nicht strafbar, eine eigene Meinung zu haben.
Während ich Richtung Ausgang strebte, war leider weit und breit niemand sonst zu sehen, den ich nach einem gewissen David Brand hätte fragen können. Also beschloss ich nach Hause zu fahren und dort auf ein Lebenszeichen von ihm zu warten.
An der Ausgangstür wäre ich um Haaresbreite mit Steve zusammengestoßen. Er trug Uniform und schien in Eile zu sein. Als er mich sah, blieb er überrascht stehen.
„Na, wen haben wir denn da?“, rief er und grinste. „Hoheitlicher Besuch in unserer bescheidenen Hütte!“
„Bescheidene Hütte? Lass das mal nicht den Kommissar Brinkmann hören.“ erwiderte ich trocken.
Er lachte.
„Oh, Du warst bei unserem schönen Oberkommissario vorgeladen? Wohl wegen dem Stadtfest?“
„Genau. Er hat meine Aussage aufgenommen.“
„Sonst alles okay?“
Ich nickte.
„Ja, alles bestens.“
Er sah auf die Uhr.
„Ich bin spät dran. Bis irgendwann, Caitlin, man sieht sich!“
„Warte mal…“ Kurzentschlossen hielt ich ihn zurück. „Ist David noch im Dienst?“
Erstaunt sah er mich an.
„David? Aber der ist doch krankgeschrieben!“
„Oh.“ Das überraschte mich nun wirklich. „Dann… ist er zu Hause?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Steve. „Ich war die letzten beiden Tage bei meiner Freundin und habe ihn gar nicht gesehen. Mein Boss erwähnte gestern nur, dass er wegen der Verletzung am Kopf nochmal beim Arzt war und für die nächsten Tage ausfällt.“ Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen. „Hat er sich denn nicht bei dir gemeldet?“
„Nein, bisher nicht.“ Ich versuchte mir meine Verwirrung über diese Neuigkeit nicht allzu sehr anmerken zu lassen. „Wahrscheinlich fühlt er sich nicht so gut. Ich werde am besten mal bei ihm vorbeischauen.“
„Na klar“, nickte Steve. „Grüß ihn von mir.“
Als ich im Auto saß, atmete ich erst einmal tief durch.
David war krankgeschrieben? Warum hatte er das am Telefon nicht erwähnt?
Ging es ihm schlecht? Hatte er Schmerzen?
Und wieso sagte mir Steve, dass er selbst sich bereits seit mehreren Tagen bei seiner Freundin aufhielt? Wollte die nicht gestern erst zu ihm kommen?
„Bald, seeeehr bald bin ich unterwegs zu dir, dann sind wir endlich wieder zusammen! …ich liebe dich! Bis morgen, mein Schatz!“ hatte sie ihm vorgestern Nacht auf den Anrufbeantworter gesprochen.
Irgendetwas stimmt hier nicht, das spürte ich überdeutlich.
Zutiefst beunruhigt startete ich den Motor und fuhr zu Davids Wohnung.
Sein Golf war vor dem Haus geparkt. Das hieß, wenn er mit seinen Kopfschmerzen nicht gerade eine Wanderung unternahm, war er vermutlich zu Hause.
Die Haustür stand offen.
Mit klopfendem Herzen stieg ich die Treppen hoch und klingelte an der Wohnungstür.
Drinnen blieb alles still.
Dann nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, hörte ich Schritte hinter der Tür.
Erleichtert atmete ich auf.
Er war da…
Die Tür wurde langsam und zögernd geöffnet, und im nächsten Augenblick stand ich einer fremden jungen Frau gegenüber, die mich misstrauisch beäugte.
„Ja?“
Sie war klein und sehr zierlich und trug einen Bademantel. Ihr kurzes blondes Haar schien ungekämmt, so als sei sie eben erst aufgestanden. Was mir besonders auffiel, waren diese großen, dunklen Augen in ihrem blassen, aber ansonsten sehr hübschen Gesicht. Sie wirkten fast schwarz und glänzten so unnatürlich, als hätte sie eben geweint.
„Entschuldigung.“ brachte ich überrascht hervor. „Ich wollte eigentlich zu David Brandt.“
„Er ist nicht da“, erwiderte sie knapp und funkelte mich feindselig an. „Und falls du eine von seinen Freundinnen bist, brauchst du gar nicht erst wiederzukommen.“
Sie schickte sich an, die Tür wieder zu schließen.
„Warten Sie bitte!“, rief ich irritiert und erreichte damit, dass sie tatsächlich noch einen Augenblick innehielt.
„Wer sind Sie?“, fragte ich, nichts Gutes ahnend.
Sie schluckte und schob dann trotzig das Kinn vor.
„Ich bin Sabrina, Davids Ehefrau!“