Mein Aufenthalt in Santa Monica gestaltete sich leider nicht ganz so, wie ich mir das erhofft hatte.
Eigentlich war alles wie immer. Meine Großeltern, Nachbarn und Freunde freuten sich von Herzen, mich nach langen Monaten endlich wiederzusehen, und auch das kalifornische Wetter hätte nicht besser sein können.
Grandma verwöhnte mich wie eine Prinzess… na ja, sie verwöhnte mich, so gut sie eben konnte.
Ich half im Stall bei den Pferden, ein Umstand, den Grandpa und seine beiden Angestellten sehr zu würdigen wussten, da sie sich dadurch anderen Arbeiten widmen konnten. Außerdem durfte ich einige der Lieferungen ausfahren, eine Aufgabe, die mir, seitdem ich den Führerschein besaß, jedes Mal während meines Aufenthaltes hier einen Riesenspaß gemacht hatte, weil man normalerweise unten in den Restaurants von Santa Monica, Venice oder Malibu jede Menge interessante Leute traf.
Alles war bestens - und trotzdem, das vertraute Gefühl des Wieder-Zu-Hause-Seins blieb diesmal aus, denn das einzige Hindernis zu meinem vollkommenen Seelenfrieden war ich selbst.
Ich konnte tun, was ich wollte, ich kam nicht zur Ruhe.
„Liebeskummer“, diagnostizierte Grandma gleich am ersten Tag mit wissendem Blick.
Man konnte ihr in dieser Hinsicht einfach nichts vormachen. Sie hatte früher viele Jahre als Krankenschwester in LA gearbeitet und besaß nach wie vor ihr unnachahmliches Feingefühl für die großen und kleinen Nöte ihrer Mitmenschen.
„Ich sehe es in deinem Blick“, verriet sie mir mit einem gutmütigen Augenzwinkern und legte mütterlich lächelnd ihren Arm um meine Schultern. „Glaub mir, mein Kind, das erwischt früher oder später jeden von uns irgendwann einmal. Wichtig ist nur, wie man damit umgeht.“
Ich war mir sicher, meine zierliche, lebensfrohe und trotz ihres Alters bewundernswert junggebliebene Großmutter war in ihrem Leben immer richtig mit solchen Dingen umgegangen, sonst wäre sie nicht über vierzig Jahre mit demselben Mann verheiratet, eine Tatsache, der ich größte Hochachtung zollte.
„Gegenseitige Achtung, Ehrlichkeit, Vertrauen und natürlich auch die Liebe gehören unbedingt in das Konzept einer beständigen Partnerschaft“, hatte sie mir vor nicht allzu langer Zeit verraten.
Ich seufzte.
Ehrlichkeit… Eben daran war`s letztendlich gescheitert.
David hatte einen Tag nach meiner „Flucht“ ganze zweimal versucht, mich auf dem Handy anzurufen, dabei aber keine Nachricht hinterlassen. Zu meinem Seelenschmerz kam die Enttäuschung, denn ich fand, etwas mehr hätte er sich schon bemühen können.
Nicht, dass ihm das etwas genützt hätte… Aber immerhin!
Am dritten Tag rief Jessi an.
Ich war mit Grandpas Jeep und einer Lieferung Eier unterwegs zu einem der Restaurants am Santa Monica Boulevard und fuhr spontan rechts ran, um das Gespräch anzunehmen.
„Na, genug geschmollt?“, klang die fröhliche Stimme meiner Freundin so deutlich in meinem Ohr, als würde sie direkt neben mir sitzen.
„Jessi, was soll das? Du weißt genau, dass das alles nichts mit schmollen zu tun hat!“, rechtfertigte ich mich aufgebracht. „Ich bin diejenige, die belogen und betrogen wurde, schon vergessen?“
„Hat er dich angerufen?“
„Er hat es zweimal versucht, aber ich würde sowieso keinen seiner Anrufe annehmen.“
„Siehst du, und weil er das weiß, lässt er es bleiben.“
„Tolle Logik.“
„Er kennt dich eben schon ziemlich gut!“
„Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“, fragte ich leicht verärgert.
„Natürlich auf deiner, du Schaf! Oder sollte ich vielleicht besser sagen, auf eurer?“ Ich hörte sie tief durchatmen, doch bevor ich etwas erwidern konnte, meinte sie in eindringlichem Tonfall: „Mensch Caiti, ihr beide gehört einfach zusammen! Und genau deswegen war ich auch bei ihm.“
Mir fiel fast das Handy aus der Hand.
„Du warst… Waaas?“
„Na ja, ich wollte mir diese Braut einfach mal genauer anschauen, und bei der Gelegenheit hätte ich Damon gleich noch ein bisschen auf den Zahn gefühlt.“
„Und?“, fragte ich scheinbar gelangweilt. „Was sagt er?“
„Nichts. Er war nicht da. Und sie auch nicht.“
„Dann war das liebende Paar eben gerade außer Haus.“
„Kann sein. Aber ich bin in den letzten Tagen seit deiner Abreise nicht nur einmal dort gewesen. Scheint fast so, als wären die Vögel dauerhaft ausgeflogen.“
Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
„Trotzdem danke“, sagte ich leise.
„Keine Ursache“, erwiderte Jessi ungerührt. „Danach war ich dann bei seinem Chef.“
„Jessi!“
„He, kein Grund mir so ins Ohr zu schreien.“
„Sorry.“ Tief durchatmend versuchte ich mich zu beruhigen, was leider ein völlig vergebliches Unterfangen war, denn mein Blutdruck schwankte momentan irgendwo zwischen leicht erhöht und lebensbedrohlich. „Und weiter?“
„Nichts weiter. David hat sich unbezahlten Urlaub genommen. Ein Notfall in der Familie.“ Sie lachte leise. „Vielleicht hat er ja seiner Tussi den Hals umgedreht.“
„Notfälle in der Familie scheint es bei ihm öfter zu geben, seitdem ich ihn kenne“, erinnerte ich mich, ließ mich aufseufzend in den Sitz zurückfallen und schüttelte resigniert den Kopf. „Von mir aus kann er gleich dortbleiben. Er und seine ganzen verdammten Geheimnisse!“
„Also ich würde schon gern wissen wollen, was da genau vorgefallen ist“, widersprach Jessi. „Du etwa nicht?“
„Ich… na ja… klar, irgendwie schon!“
„Also an deiner Stelle würde ich auf jeden Fall eine Erklärung fordern. Sonst würdest du dich garantiert immer wieder fragen, warum alles so gelaufen ist.“
„Ich weiß nicht“, wand ich mich unschlüssig. „Momentan mag ich überhaupt nicht mit ihm reden.“
„Musst du ja auch nicht. Du bist schließlich weit genug weg.“
„Deine Logik ist umwerfend!“
„Na hör mal!“, beschwerte sie sich entrüstet. „Du bist es doch, die seine Anrufe nicht annimmt!“
Ich wollte nicht mehr über David sprechen. Es tat einfach zu weh.
„Was macht denn dein Liebesleben?“, versuchte ich das Gespräch in eine etwas andere Richtung zu bringen.
„Welches Liebesleben?“, schnaufte Jessi, und ich konnte mir gut vorstellen, wie sie die Nase rümpfte. „Meinst du den einen, den ich in die Wüste geschickt habe, oder den anderen, der schon lange in der Wüste ist?“
„Ach Jessi“, seufzte ich mit vor Selbstmitleid triefender Stimme. „Was machen wir beide nur falsch?“
„Wir machen gar nichts falsch, Süße“, belehrte sie mich selbstbewusst. „Es liegt nicht an uns, es liegt eindeutig an den Kerlen! Wir haben ganz einfach noch keinen gefunden, der uns zu schätzen weiß.“
„Bis vor kurzem dachte ich, ich hätte ihn gefunden.“
„Hör schon auf zu jammern!“, rief sie gutmütig und lachte. „Amüsier dich! Du bist in Kalifornien, dem Sonnenstaat, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Geh an den Strand und schnapp dir einen von diesen knackigen California Dream Boys!“
„Das ist das Letzte, was ich tun werde. Vergiss es!“
„Dann ruf ihn an.“
„Das…“ Ich machte eine bedeutungsvolle Pause und holte tief Luft. „…ist bestimmt das Allerletzte, was ich tun werde.“
Nachdem wir unser Gespräch beendet hatten, saß ich noch eine Weile im Wagen und starrte gedankenverloren auf das Handy in meiner Hand.
Dann irgendwann begann ich mit zitternden Fingern mechanisch die Nummer zu wählen, die ich auswendig kannte -seine Nummer.
Langsam und zögernd nahm ich das Handy ans Ohr und lauschte mit angehaltenem Atem.
Was ich hörte, war die nüchterne Stimme der Mailbox-Ansage.
David hatte sein Handy ausgeschalten.
Eine Stunde später hatte ich die frischen Hühnereier von der Farm meiner Großeltern ordnungsgemäß abgeliefert und war gerade dabei, wieder in den Jeep zu steigen, den ich vor dem Seiteneingang des Restaurants geparkt hatte, als hinter mir plötzlich ein durchdringender Freudenschrei ertönte.
„Neeeeeeiiinn! Das glaube ich jetzt nicht… Caitiiiii?“
Ich musste zweimal hinsehen, sonst hätte ich sie nicht erkannt: Melina Howard, eine meiner besten Freundinnen aus meinen Kindheits- und Jugendtagen hier in Kalifornien.
Wir hatten uns, seit sie vor etwa fünf Jahren an die Universität nach Portland gegangen war, um dort zu studieren, nicht mehr gesehen, und ich staunte nicht schlecht:
Aus der klapperdürren, stets schrill bunt und provokant gekleideten Bohnenstange war tatsächlich eine ansehnliche, modebewusste junge Dame geworden. Nur ihre auffallend schönen blauen Augen, das modisch kurzgeschnittene und trotzdem ewig widerspenstige, blonde Haar und ihr lautes, durchdringendes Lachen erinnerte noch an die Melina, die ich von damals kannte.
Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf mich zugestürzt und umarmte mich derart stürmisch, dass ich von Glück sagen konnte, inzwischen nicht mehr die Kiste mit den Eiern, sondern nur den Scheck dafür in den Händen zu halten.
„Caitlin, schön dich wiederzusehen! Mein Gott, ist das lange her! Lass dich anschauen…“ Sie trat um eine Armlänge zurück und betrachtete mich eingehend. „Wow, du siehst fantastisch aus! Bist seit damals noch hübscher geworden! Wie machst du das bloß?“
„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben“, erwiderte ich nicht minder beeindruckt. „Fast hätte ich dich nicht erkannt! Wo ist der Paradiesvogel geblieben?“
Erneut erklang ihr unverwechselbares Lachen.
„Den habe ich in Portland gelassen! Irgendwann muss man ja mal seriös werden.“
„Na klar“, stimmte ich scherzhaft zu. „Und in Kalifornien schneit es am Wochenende!“
Ein gutaussehender junger Mann, der mir merkwürdig bekannt vorkam, trat hinter ihr aus dem Restaurant und kam etwas zögernd auf uns zu, während er mich unschlüssig musterte. Melina, der mein Blick nicht entgangen war, drehte sich um und zog ihn spontan zu sich heran.
„Hey, erinnerst du dich an meinen kleinen Bruder Mason?"
„Mason Howard!“ Ich riss erstaunt die Augen auf. „Du bist… erwachsen geworden!“
Melinas jüngerer Bruder war der Innbegriff des typisch kalifornischen Sonnyboys: groß und schlank, durchtrainiert, mit sonnengebleichtem Kurzhaarschnitt, denselben blauen Augen wie seine Schwester und einem überaus charmanten Lächeln. Kurz gesagt, der nette Junge von nebenan, in dessen Gesellschaft man sich wohlfühlt, und den man gern zum eigenen Freundeskreis zählt.
„Caitlin?“ Ungläubig kniff er die Augen zusammen. „Meine Güte, ich hätte dich fast…“
„Hast du noch etwas Zeit?“, fiel Melina ihrem jüngeren Bruder gnadenlos ins Wort und hakte sich bei mir ein. „Komm schon, wir haben uns so viel zu erzählen!“
Gemeinsam schlenderten wir den Boulevard hinunter und ließen uns schließlich in einem kleinen Straßen-Café nieder.
Munter drauflos schnatternd ließen wir die letzten Jahre Revue passieren und erzählten uns gegenseitig, wie es uns inzwischen ergangen war. Ich verspürte sofort wieder diese alte Vertrautheit zwischen uns, so, als wären lediglich ein paar Wochen seit unserer Trennung vergangen.
Nur von David erzählte ich nichts, genauso wenig wie von meiner Wahl zur Lichterprinzessin, die ich untrennbar mit ihm verband. Ich konnte einfach noch nicht darüber reden. Mit niemandem…
„Weißt du eigentlich, dass Mason damals total in dich verschossen war?“, offenbarte mir Melina mit einem schelmischen Blick auf ihren Bruder.
Dem schien das überhaupt nicht peinlich zu sein, denn er quittierte ihre Bemerkung mit einem fröhlichen Grinsen.
„Ich war sechzehn und in alles verschossen, was einen Rock trug“, verteidigte er sich.
Melina rollte theatralisch mit den Augen.
„Wer`s glaubt! Nachdem du damals abgereist warst, hat er wochenlang dein Bild angeschmachtet und nur von dir geredet. Es war kaum zum Aushalten!“
„Ist das wahr?“, ging ich auf den Scherz ein und zwinkerte Mason zu. „Wenn ich geahnt hätte, dass ich für Chancen bei dir habe, wäre ich damals mit Sicherheit nicht mit diesem Rockstar durchgebrannt!“
„Rockstar?“, kreischte Melina und lachte schallend. „War der nicht Schauspiel-Student? Ach, egal, auf jeden Fall war er echt süß.“
Die Zeit verging wie im Flug. Irgendwann sah ich zur Uhr und erschrak.
So spät schon!
„Sorry, aber ich muss nach Hause, Grandma wartet sicher mit dem Essen auf mich.“, verkündete ich nicht ohne Bedauern, denn das Wiedersehen mit meinen alten Freunden hatte mich wenigstens für eine Weile auf andere Gedanken gebracht.
„Ich habe eine Idee“, rief Melina begeistert. „Heute Abend ist große Beachparty unten am Pier. Wie wäre es, wenn wir gemeinsam hingehen?“
Ich zögerte kurz.
Beachparty? Danach stand mir in meiner gegenwärtigen ganz privaten Krisensituation nun nicht gerade der Sinn…
„Ach komm schon“, drängte meine alte Freundin. „Das wird bestimmt lustig! Wie damals, in unseren "besten" Zeiten!“
„Wir könnten dich abholen“, schlug Mason vor.
„Nein…“ Ich zögerte, rang sekundenlang mit mir und schaffte schließlich den waghalsigen Sprung über meinen eigenen Schatten. „Na gut, ich bin dabei! Aber ich werde selber fahren.“
Mason grinste, begeistert über meine Zusage, von einem Ohr zum anderen.
„Okay, also treffen wir uns oben am Eingang des Piers.“
„Toll!“, freute sich auch Melina. „Dann können wir uns gemeinsam noch in aller Ruhe den Sonnenuntergang ansehen!“
Als ich kurz darauf zur Farm zurück fuhr, hatte ich eine Verabredung, auf die ich mich wider Erwarten sogar ein bisschen freute.
Rund um den Eingang zum Pier in der Ocean Avenue wimmelte es nur so von Menschen. Ganz Santa Monica und Umgebung schien auf den Beinen zu sein, um die angesagte Beachparty nicht zu verpassen. Der Wind wehte die heißen Rhythmen vom Jahrmarkt auf dem Pier herüber. Ein unverwechselbarer Sommerduft, gemischt aus einer kräftigen Meeresbrise, aus Sonnenöl, Barbecue und Zuckerwatte lag in der Luft.
Es war immer noch sommerlich warm, aber das würde sich schnell ändern, wenn die Sonne erst einmal untergegangen war. Dann frischte der Wind hier an der Küste für gewöhnlich ziemlich auf.
Ich trug ein Tanktop und Caprijeans und kam mir zwischen den zahlreichen jungen Leuten, die wagemutig in teilweise sehr knapper Badebekleidung erschienen waren, im ersten Moment ein wenig overdresst vor.
Es dauerte eine Weile, bis ich Melina und Mason gefunden hatte. Zum Glück hatten sie ähnliche Kleidung gewählt wie ich. Bei ihnen stand ein schlanker junger Mann, der mich auf den ersten Blick sofort an Frauenschwarm Justin Timberlake erinnerte. Melina stellte ihn mir als ihren Freund vor, und ich musste lachen, weil er wirklich mit Vornamen Justin hieß. Als ich ihn über den Grund meiner Belustigung aufklärte, grinste er geschmeichelt.
Wagemutig stürzten wir uns gemeinsam in das bunte Getümmel und kämpften uns beharrlich bis ans Ende des Piers durch, wo wir mit etwas Glück einen Platz mit Blick aufs Meer fanden. Von da aus konnten wir den fantastischen Sonnenuntergang genießen, während Mason und Justin es tatsächlich schafften, von irgendwo her frische Margaritas für uns vier zu organisieren.
Als die purpurfarbene Abendsonne einem glühenden Feuerball gleich langsam am fernen Horizont im Meer versank, lehnte ich am Geländer, drehte gedankenverloren mein Glas in der Hand und starrte dabei wie hypnotisiert auf das Naturschauspiel, dass sich vor meinen Augen abspielte, ohne wirklich etwas davon wahrzunehmen. Meine Gedanken wanderten in eine andere Richtung…
Wie spät war es jetzt zu Hause?
Später Vormittag…
Wo war David, und was tat er gerade?
Sollte mir egal sein…
War er bei ihr?
Interessiert mich nicht…
Vermisste er mich?
Und wenn schon, sein Problem...
Dachte er jetzt in diesem Augenblick vielleicht auch an mich?
Wieso sollte er? Schließlich hatte er seine Frau...
Und wenn doch?
Herrgott nochmal, Schluss damit!
Wütend auf mich selbst trank ich die Margarita auf einen Zug aus und atmete tief durch.
„Na alle Achtung!“ Mason hatte mich wohl heimlich beobachtet und verzog staunend das Gesicht. „Alkoholproblem oder Liebeskummer?“
„Keines von beiden. Nur Durst“, entgegnete ich gespielt fröhlich, obwohl mir eigentlich zum Heulen zumute war. „Alles bestens!“
Mit der untergehenden Sonne schien auch das letzte Tageslicht im Meer versunken zu sein, und die Dunkelheit brach sehr schnell herein. Im Handumdrehen verwandelte sich der Pier in ein zauberhaftes buntes Lichtermeer. Die Achterbahn war bis ins letzte Detail beleuchtet, und die Hauptattraktion, das weltberühmte Ferris Wheel, präsentierte seine faszinierende Lichtershow und wurde dabei zusätzlich noch von allen Seiten durch extragroße Scheinwerfer angestrahlt.
„Wie wäre es mit einer Fahrt auf dem Riesenrad?“ Unternehmungslustig zog Melina Justin am Arm. „Das wird bestimmt lustig!“
„Das ist nichts für mich“, wehrte ich schnell ab und trat einen Schritt zurück. „Ich warte hier auf euch!“
Den wahren Grund für meine Ablehnung behielt ich für mich.
Ich war vor vielen Jahren als Kind mit meinen Eltern auf dem Ferris Wheel gefahren, und damals nahm Dad mich in den Arm und meinte in einem Anflug von Wehmut, die Zeit verginge viel zu schnell, und irgendwann in nicht allzu ferner Zeit würde ich ganz sicher mit dem Mann meines Herzens in einer dieser Gondeln sitzen.
Ja, das wollte ich, irgendwann...
Aber solange dieser Mann nur in meiner Fantasie existierte, würde ich auf gar keinen Fall wieder mitfahren.
Auf der Bühne spielte eine Band, die ihre Zuschauer zu wahren Begeisterungsstürmen hinriss.
„Komm, lass uns tanzen!“, rief Mason, der während Melinas und Justins Abwesenheit nicht von meiner Seite gewichen war. Bevor ich darüber nachdenken konnte, zog er mich bereits in die Menge. Unglücklicherweise stimmte die Band eben in diesem Augenblick eine Ballade an.
In Masons Armen schloss ich die Augen und begann zu träumen.
Ich sah mich wieder überdeutlich daheim auf dem Stadtfest, backstage, eng umschlungen mit David zu dem einfühlsamen Song von Kassandra Lance tanzend. Ich trug mein weißes Lichterprinzessinnenkleid, er hielt mich in seinen Armen, und ich fühlte mich glücklich und geborgen.
War das alles wirklich erst ein paar Tage her?
Der Song war zu Ende und ich kehrte gezwungenermaßen in die ernüchternde Wirklichkeit zurück.
Nicht, dass ich Mason als ernüchternd empfand, im Gegenteil, vermutlich hätten unzählige Girls wer weiß was darum gegeben, einen so gutaussehenden Typen wie ihn an ihrer Seite zu haben. Aber ich hatte in meiner gegenwärtigen Situation einfach kein Interesse an einem Flirt. Hastig löste ich mich aus seiner Umarmung und lächelte gezwungen.
„Lass uns was trinken.“
„Noch eine Margarita?“, fragte er etwas erstaunt.
„Ein Mineralwasser“, verbesserte ich. „Ich bin mit dem Auto da, schon vergessen?“
Gemeinsam schlenderten wir anschließend zurück zum Riesenrad. Melina und Jason waren nirgends zu sehen.
„Am besten wir warten hier“, schlug Mason vor. „Irgendwann werden sie schon auftauchen.“
Ich lehnte mich ans Geländer des Piers und sah den Leuten zu, die fröhlich vorbeizogen. Da waren so viele verliebte Pärchen, und ich war allein…
"Ich bin froh, dass du wieder da bist", hörte ich Masons Stimme dicht an meinem Ohr und spürte kurz darauf erschrocken, wie er seinen Arm behutsam um meine Schultern legte. „Weißt du, Cait, Melina hatte nicht unrecht, als sie meinte, ich wäre damals schon total in dich verschossen gewesen. Eigentlich ist "verschossen" inzwischen das falsche Wort, denn ich könnte mir durchaus vorstellen…“
„Mason!!!“
Sein Name klang fast wie ein Schrei aus meinem Mund, und er sah mich erschrocken an.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“
„Ja… Nein…“, stotterte ich, atmete zu meiner Beruhigung erst einmal tief durch und lächelte ihn dann entschuldigend an. „Nein, das hast du nicht, Mason. Es liegt nicht an dir.“
„Aber?“
„Sei bitte nicht böse“, sagte ich leise und nahm mir fest vor, nicht loszuheulen. „Ich mache nur gerade eine ganz blöde Zeit durch. Deshalb bin ich hier, weit weg von zu Hause, um Abstand zu gewinnen.“
„Das macht nichts. Ich kann warten“, erwiderte er zuversichtlich.
Ich schüttelte entschieden den Kopf.
„Tu das nicht. Ich kann niemandem etwas versprechen, ich muss erst wieder zu mir selbst finden, und ich weiß nicht, wann das sein wird.“
„Wer ist der Mistkerl, der dir so wehgetan hat?“
„Lass gut sein“, bat ich kopfschüttelnd. „Irgendwann kann ich vielleicht mal darüber reden, aber nicht heute Abend. Ich bin eigentlich nur mitgekommen, um meine Probleme für ein paar Stunden zu vergessen.“
„Okay, das war jetzt ein herber Schlag für mein Ego.“ Er atmete tief durch, grinste schief und deutete hinüber auf die vollgestopfte Tanzfläche. „Dann komm, lass uns deine Probleme in aller Freundschaft zusammen vergessen und noch ein wenig tanzen!“