Der nächste Tag schien sich endlos hinzuziehen, obwohl wir in der Notaufnahme wie üblich viel zu tun hatten. Zum Glück war ich fast die ganze Zeit über gezwungen, mich voll auf meine Arbeit zu konzentrieren. Doch in jeder freien Minute drehte sich in meinem Kopf alles um meine abendliche Verabredung mit David.
Nach Dienstschluss hetzte ich ins Stadtzentrum und stürmte panisch in den Designerladen, in dem meine Sandkastenfreundin Anne arbeitete.
„Ich gehe heute Abend mit einem total heißen Typen aus“, offenbarte ich ihr. „Ich brauche eine Jeans, die super aussieht, noch besser passt und ihn glatt umhaut.“
Anne lachte.
„Preislage?“
„Egal“, hörte ich mich zu meinem eigenen Erstaunen sagen. Angesichts von Annes skeptischem Gesichtsausdruck entschärfte ich meine Aussage dann doch noch etwas. „Na gut, zeig mir erst die Stücke, die mich davor bewahren, einen Kredit aufnehmen zu müssen.“
Glücklicherweise brauchte sie nicht lange zu suchen. Mit dem geübten Scanner-Blick einer Fachverkäuferin verhalf sie mir zu einer Designer-Jeans, die nicht nur top aussah, sondern auch soweit preisreduziert war, dass ich „nur“ ein Wochen-Lehrlingsgehalt zu verschmerzen hatte.
Dazu erstand ich dann noch ein absolut hammermäßiges Oberteil, das ich auf keinen Fall ablehnen konnte. In dem Bewusstsein, spätestens nächste Woche zur Freude meiner Vorgesetzten ein- oder zwei Sonderschichten einzuschieben, ließ ich mir die Sachen von Anne einpacken und eilte mit meiner Beute nach Hause.
Eine Stunde hatte ich noch, um mich für mein Date zurechtzumachen, und die würde ich nutzen…
Pünktlich auf die Minute stand David vor meiner Tür.
Jeans – nein, diesmal nicht die verwaschenen – modisches schwarzes Hemd und natürlich die Lederjacke. Insgeheim froh darüber, dass ich meine Kleiderordnung richtig gewählt hatte, schloss ich die Tür hinter mir.
Er trat auf mich zu und küsste mich zur Begrüßung auf die Wange.
„Hey, du siehst umwerfend aus!“, urteilte er mit einem bewundernden Blick und grinste. „Neu?“
Ja klar, extra wegen dir! Aber das wirst du nie erfahren!
„Nein, natürlich nicht“, log ich, ohne rot zu werden. „Schließlich bin ich noch Lehrling und kann mir nicht für jede Verabredung neue Klamotten leisten.“
Die Grübchen auf seinen Wangen vertieften sich.
„Wie viele hast du denn so in der Woche?“
„Was, Klamotten?“, fragte ich verständnislos.
„Nein, Verabredungen!“
Wenn du wüsstest! Du bist seit einer halben Ewigkeit meine erste!
Natürlich sagte ich ihm auch dieses Mal nicht die Wahrheit, sondern lächelte geheimnisvoll und wies auf die Treppe. „Lass uns gehen. Ich bin am Verhungern!“
„Okay“, lachte er. „Ich hoffe, du magst mexikanisches Essen.“
Wir fuhren mit seinem schwarzen Golf ans andere Ende der Stadt.
Vor dem Stadtpark stellte David den Wagen ab.
„Von hier ab gehen wir zu Fuß“, erklärte er und reichte mir wie selbstverständlich seine Hand. „Ist das okay?“
„Aber klar doch“, erwiderte ich und war, was denn gemeinsamen Spaziergang betraf, mehr als einverstanden.
Auf dem Weg durch den Park plauderten wir locker über irgendwelche Belanglosigkeiten, während sich die Schmetterlinge in meinem Bauch in einem wahren Freudentaumel daran ergötzten, wie gut es sich anfühlte, dass David die ganze Zeit über meine Hand hielt.
Das Restaurant schien gut besucht zu sein. Ich selbst war noch nie hier gewesen. Der Besitzer, ein aztekisch aussehender Mittvierziger, begrüßte uns herzlich. Er und David schienen sich bereits zu kennen, denn er führte uns persönlich zu einem Tisch, der sich etwas abseits in einer Nische befand und mit einer roten Rose geschmückt war.
„Bist du öfter hier?“, fragte ich beiläufig, nachdem wir Platz genommen und der zuständigen Kellnerin unsere Getränkewünsche mitgeteilt hatten.
„Nein, das kann man so nicht sagen“, erwiderte David und zwinkerte mir vertraulich zu. „Ricardo hatte die Jungs unserer Abteilung kürzlich eingeladen, nachdem wir hier dienstlich einen kleinen Streit geschlichtet haben.“
Ich fragte nicht weiter nach, sondern sah mich neugierig um.
„Netter Laden.“
„Ja“, stimmte er lächelnd zu. „Ist erst vor einem Jahr eröffnet worden. Als ich mit meinen Kollegen hier saß, dachte ich die ganze Zeit daran, wie schön es wäre, dich irgendwann hierher einzuladen.“ Er lehnte sich zurück und betrachtete mich schmunzelnd. Nein, arrogant war sein Lächeln diesmal nicht, eher… abwartend.
„Was ist?“, fragte ich etwas verunsichert.
„Warum warst du wütend auf mich?“
„Ich… ich war doch gar nicht…“
Oh oh, was sollte ich jetzt nur sagen, ohne mich völlig bloßzustellen?
Er nahm mir die Antwort ab.
„Du dachtest, ich würde dich küssen, stimmt’s?“
Meine Güte, wieso musste er bloß immer so furchtbar direkt sein!
Ich konnte nicht verhindern, dass ich rot wurde und er lachte. Dann beugte er sich vor und griff nach meiner Hand.
„Glaub mir, ich hätte in diesem Augenblick nichts lieber getan. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich bereits den ganzen verdammten Abend lang daran gedacht.“
Verlegen starrte ich auf die Serviette vor mir.
„Du hast mich so angesehen, du weißt schon“, versuchte ich mich zu rechtfertigen, und er schüttelte lächelnd den Kopf.
„Ich darf so etwas nicht tun, wenn ich im Dienst bin. Sie würden mich auf der Stelle versetzen.“
Sofort fielen mir Jessis Worte und seine angebliche Strafversetzung ein.
„Hast du schon einmal sowas getan?“
„Jemanden geküsst?“
„Ja.. nein... etwas, was du nicht tun durftest.“
Er ließ meine Hand los, und sein Lächeln verschwand.
„Wie kommst du darauf?“
Ich zögerte einen Augenblick. Wie würde er reagieren, wenn ich ihn mit solchen persönlichen Tatsachen konfrontierte? Hatte ich überhaupt das Recht dazu? Immerhin war die Information vertraulich! Vielleicht sollte ich ihm die Chance geben, mir selbst davon zu erzählen...
Ich entschied, noch zu warten und darauf zu hoffen, dass er zu gegebener Zeit mit der Wahrheit herausrückte.
„Keine Ahnung, war nur so ein Gedanke.“
David maß mich mit ernstem Blick.
„Wenn ich dienstlich für dich verantwortlich bin, Caitlin, muss ich einen kühlen Kopf bewahren. Alles andere könnte mich meinen Job kosten.“
„Aber…“
„Was aber?“
„Du hattest deinen Arm um mich gelegt!“
Jetzt lachte er, und die anbetungswürdigen Grübchen wurden erneut sichtbar.
„Weil du beschwipst warst und ich Angst hatte, dass du wieder deine Schuhe verlierst!“
„Meine Schuhe?“, wiederholte ich kopfschüttelnd und musste in Erinnerung an unser allererstes Zusammentreffen lachen. „Keine Sorge, ich versuche jeden Trick nur einmal!“
„Das war also ein Trick?“, erkundigte er sich mit gespieltem Erstaunen.
Ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln.
„Wer weiß? Vielleicht...“
Die Kellnerin brachte unsere Getränke und nahm die weiteren Bestellungen entgegen.
Der Abend verging wie im Flug.
David hörte aufmerksam zu, als ich einige Anekdoten aus meinem Arbeitsalltag aus der Klinik zum Besten gab, und erzählte mir im Gegenzug dazu ebenfalls von seinen vielfältigen, nicht immer ungefährlichen Einsätzen bei der Polizei.
Als ich ihn nach seiner Familie fragte, erfuhr ich, dass er einen jüngeren Bruder hatte, der noch zu Hause wohnte und zurzeit eine Lehre in der Autowerkstatt absolvierte, in der sein Vater schon viele Jahre arbeitete. Seine Mutter war Grundschullehrerin. David lachte, als er mir davon erzählte, dass er damals extra die Schule wechseln musste, weil seine Mutter sich strikt weigerte, ihn in ihrer eigenen Klasse zu unterrichten.
„Ich war ein Satansbraten“, gestand er mit unschuldigem Lächeln. „Und sie wusste das.“
„Und wo wohnst du, solange du hier arbeitest?“, wechselte ich vorsichtig das Thema. „Bei deinen Großeltern?“
„Nein, sie haben nur eine kleine Wohnung. Durch meine unregelmäßige Schichtarbeit und den ständigen Bereitschaftsdienst würde ich sie ganz durcheinanderbringen“, erklärte er. „Ich teile mir momentan noch eine Zweiraumwohnung mit meinem Kollegen. Allerdings hat er vor irgendwann in nächster Zeit zu heiraten und wird wohl in Kürze ausziehen.“ Er nippte an seinem Mineralwasser und sah mich prüfend an. „Und was ist mit dir?“
„Was meinst du?“
„Wieso wohnt ein hübsches Mädchen wie du noch ganz allein?“
„Wieder allein“, erklärte ich. „Und das ist auch gut so.“
Nachdem wir das Lokal verlassen hatten, bummelten wir gemächlich durch den nächtlichen Park zurück zum Auto. Der Wirt hatte mir zum Abschied die Rose gereicht und mir mit bedeutungsvollem Blick erklärt, dass "mein Freund" sie extra für mich bestellt hätte.
Es war eine milde, sternenklare Nacht.
Zunächst liefen wir schweigend nebeneinander her. Nach einer Weile griff David wieder wie selbstverständlich nach meiner Hand.
An der alten Stadtmauer blieb er stehen und wies nach oben.
„Was glaubst du, sind wir die einzigen im Universum, die diese Sterne sehen?“
„Nein“, erwiderte ich voller Überzeugung. „Das sind wir ganz sicher nicht.“
„Mh...“, machte er nachdenklich, und ich konnte in seiner Stimme hören, wie er grinste. „Das ist natürlich ein Problem. Ich würde dir nämlich gern einen davon schenken, aber dann bemerken die anderen, dass er fehlt.“
„Spinner“, lachte ich leise.
Er legte den Arm um meine Schultern und zog mich sacht zu sich heran.
„Im Übrigen wollte ich noch ganz nebenbei erwähnen, dass ich heute nicht im Dienst bin.“
Mein Herz klopfte wie ein Vorschlaghammer.
„Und was bedeutet das? Mal abgesehen davon, dass du in diesem Falle das Abendessen nicht auf die Spesenabrechnung setzen kannst?“
Er sah mich an und lächelte.
„Wir könnten da weitermachen, wo wir letztens aufhören mussten.“
„Wer sagt dir, dass ich das will?“
„Nach dem Fest hast du jedenfalls sehr willig ausgesehen!“
„Tja mein Lieber, das war nach dem Fest.“
„Komm schon, gib mir eine Chance, Prinzessin!“
Er war mir so nah, so verdammt wunderbar nah…
Als seine Lippen meinen Mund berührten, schien es, als würde die Zeit stehenbleiben. Plötzlich waren wir beide eins mit den Sternen, dem Universum, der Unendlichkeit. Es gab nur ihn und mich, inmitten eines gigantischen Feuerwerks aus Gefühlen. Meine Knie zitterten, und meine Herzfrequenz bewegte sich irgendwo jenseits von Gut und Böse, während die Schmetterlinge in meinem Bauch den Gangnam Style tanzten. Ich war wie elektrisiert, und mein Denkvermögen schaltete völlig ab. Dafür fühlte ich umso intensiver, mit allen Sinnen, wie sein Mund von meinem Besitz ergriff, zuerst vorsichtig und unendlich sanft, dann leidenschaftlicher und voller Begierde. Wir hatten beide gewusst, dass es irgendwann geschehen würde, wir hatten diesen ersten Kuss förmlich herbeigesehnt, doch jetzt, in diesem Augenblick, war er so intensiv, dass wir kaum damit umzugehen vermochten.
Das unmissverständliche Ziehen in meinem Unterleib ließ mich taumeln, während meine Hände hastig Halt an seinen breiten Schultern suchten.
Voller Begierde vergrub ich meine Finger in seinem Haar, und während seine Arme mich sicher hielten, öffnete ich meine Lippen und gab mich mit einem leisen Stöhnen diesem übersinnlichen Vergnügen hin, das sein Mund und seine Zunge mir bereiteten.
Unsere wunderbare Illusion, ganz allein auf der Welt zu sein, war leider nur von kurzer Dauer.
Einige Teenager zogen lautstark durch den nächtlichen Park und beendeten mit ihrem Lärm abrupt diesen magischen Augenblick zwischen uns.
Nur widerwillig lösten wir uns voneinander und hatten einen Moment lang Mühe, in die Wirklichkeit zurückzufinden.
David sah mich an und lächelte.
„Na komm, Zauberfee, lass uns gehen, sonst kann ich für den Rest des Abends nicht mehr klar denken.“
Sein letzter Satz ging mir, während wir schweigend zurückfuhren, nicht mehr aus dem Sinn. Es war offensichtlich, wie dieser Abend enden würde, enden musste, wenn ich es zuließ.
Aber… konnte ich selbst eigentlich noch klar denken? Wenn schon ein einfacher Kuss eine solche Wirkung auf mich ausübte, wie würde es dann sein, wenn ich mich ganz auf David einließ?
Seitdem ich ihm zum ersten Mal begegnet war, damals hinter der Bühne der Wahlveranstaltung, hatte ich mir in meinen geheimsten Fantasien unzählige Male in den schillerndsten Farben ausgemalt, ihn in meiner engen Zweiraumwohnung, bei Kerzenschein, einem Glas Wein und leiser Musik ganz für mich allein zu haben.
Schon der bloße Gedanke daran verursachte mir jedes Mal ein wunderbar chaotisches Gefühl der Schwerelosigkeit in meinem Kopf. Er und ich allein – Erbarmen! - die Erfüllung schlechthin.
Nun sollten diese Fantasien Wirklichkeit werden. Ich hatte ihn, hier und jetzt. Und er war nicht im Dienst…
Aber da war noch etwas, das in meinem Inneren nagte, etwas, was vorher unbedingt geklärt werden sollte. Was auch immer sich da zwischen ihm und mir entwickelte, es sollte nicht auf Lügen oder Halbwahrheiten aufgebaut sein.
„David?“
„Mh…“
„Warum bist du hier?“
Er musterte mich kurz von der Seite und grinste.
„Ist das jetzt eine Fangfrage?“
„Nein. Ich will nur wissen, wieso ein Typ wie du, der an der Küste zu Hause ist, sich freiwillig in eine Kleinstadt wie diese versetzen lässt.“
Wir hielten vor meinem Haus. David stellte den Motor ab und lehnte sich zurück.
„Das habe ich dir doch erzählt, ich wollte hierher, wegen meiner Großeltern.“
„Nur deswegen?“
„Ja klar. Ist das so ungewöhnlich?“
„Nein“, erwiderte ich zögernd. „Eigentlich nicht. Ich dachte nur… Hat dir deine Arbeit dort nicht gefallen?“
Er sah mich irritiert an.
„Worauf willst du eigentlich hinaus?“
„Auf… gegenseitiges Vertrauen.“
„Und was hat das mit meiner Arbeit zu tun?“
„Sag du es mir!“
„Sorry Prinzessin, aber ich kann dir momentan nicht ganz folgen.“
Ich spürte, wie sich die Enttäuschung in meinem Inneren ausbreitete und alles Schöne dieses Abends verdrängte. David hatte kein Vertrauen zu mir. Er wollte mich, das war mir klar, ich wollte ihn ja auch. Aber was kam danach?
Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit eine sehr schwierige Beziehung beendet, und die Hauptgründe für diese Trennung waren Lügen gewesen, die mich sehr verletzt hatten.
Meine erotischen Fantasien zerbrachen in tausend Scherben aus Selbstzweifeln und Misstrauen.
Wortlos stieg ich aus dem Wagen und hörte, wie David mir folgte.
Meine Gedanken arbeiteten fieberhaft und lieferten sich ein fieberhaftes Gefecht mit meinem Verstand.
Vor meiner Tür angekommen, zog ich den Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf.
Als ich mich ihm danach zuwandte, atmete ich tief durch.
Mit den Worten „Danke für den schönen Abend“, hauchte ich ihm einen Kuss auf die Wange, drehte mich blitzschnell auf dem Absatz um und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
Ich glaube, er war viel zu überrascht von meiner Reaktion, um in diesem Moment irgendetwas dagegen tun zu können.
Wenn mich jemand fragen würde, warum zum Geier ich das getan habe, ich könnte heute noch nicht eindeutig darauf antworten.
Weil ich enttäuscht war über sein scheinbar mangelndes Vertrauen mir gegenüber?
Weil er mir nicht einfach erzählt hatte, weshalb er strafversetzt worden war?
Weil Männer wie er sowieso nur auf ein schnelles Abenteuer aus waren, um die Auserwählte danach zu einer langen Liste abgehakter erledigter Liebschaften hinzuzufügen?
Weil ich von solchen Idioten selbst schon zwei auf meiner Liste für „Auf ewig aus dem Gedächtnis zu entfernen“ stehen hatte?
Weil ich keine Lust auf neuen Liebeskummer verspürte?
Weil ich – laut Davids Aussage - einfach nicht genug Selbstvertrauen besaß, um mir sicher zu sein, dass er sich vom ersten Augenblick an vorbehaltlos in mich verschossen hatte?
Egal warum, ich hatte dieses abrupte Ende eines wunderschönen, verheißungsvollen Abends selbst heraufbeschworen und musste nun damit klarkommen, die Nacht allein zu verbringen, denn eines wusste ich genau:
David war viel zu stolz, um in diesem Augenblick noch einmal an meine Tür zu klopfen.