Als ich am nächsten Morgen neben David erwachte, glaubte ich für einen Augenblick, nur schlecht geträumt zu haben. Dann jedoch sah ich den Verband über seiner Schläfe.
Das Stadtfest, der Angriff hinter der Bühne und die versuchte Entführung, das alles war kein Traum gewesen. Es war wirklich passiert.
Vorsichtig richtete ich mich auf. Mein Blick fiel auf das Prinzessinnenkleid, das über der Stuhllehne hing. Die Blutflecke darin waren zwar durch meinen Versuch, sie auszuspülen, etwas verblasst, aber noch immer deutlich sichtbar. Ich beschloss, das kostbare Stück so bald wie möglich zu Herrn Schmidt zu bringen, dessen Hochzeitsausstatter über eine eigene Reinigung verfügte. Vielleicht war ja noch etwas zu retten.
Vorsichtig strich ich mit den Fingerspitzen über Davids Verband.
„Nur eine kleine Platzwunde, nichts von Bedeutung“, hatte er mir beiläufig erzählt, als sei das nichts Besonderes.
Von Steve bekam ich eine etwas andere Erklärung:
„Sie haben die Wunde geklammert und wollten ihn mit Verdacht auf eine Gehirnerschütterung in der Klinik behalten, doch er hat sich strikt geweigert. Also falls er dir heute Nacht noch einen Heiratsantrag macht, nimm es am besten nicht allzu ernst.“
Gut, er hatte mir keinen Antrag gemacht und auch sonst keine Ungereimtheiten von sich gegeben, auf Grund derer ich Anlass zur Sorge gehabt hätte. Allerdings hatte er hartnäckig darauf bestanden, mich in dieser Nacht nicht mehr allein zu lassen und war ansonsten, während uns Steve zu meiner Wohnung fuhr, ungewöhnlich schweigsam gewesen. Oben angekommen, hatte er sich recht schnell zu Bett begeben und war sofort eingeschlafen.
Ich konnte mir jedoch gut vorstellen, dass ihm der massive Schlag gegen den Kopf auch noch im Nachhinein Schmerzen bereitete.
Als hätte er meine Gedanken erraten, erwachte David, blinzelte und hob den Kopf. Aufstöhnend griff er sich an die Stirn und ließ sich wieder in die Kissen fallen.
„Meine Güte, mir brummt vielleicht der Schädel!“
„Kein Wunder, nach der Attacke gestern“, erwiderte ich lächelnd. „Du hast mich heldenhaft beschützt!“
Er sah mich an, als hätte ich ihn beleidigt.
„Wie war das?“, knurrte er verächtlich. „Heldenhaft? Meine Aufgabe ist es, so etwas abzuwenden, und nicht, mich heldenhaft treffen zu lassen.“
Trotz der Sorge um ihn musste ich lachen.
„Ach komm schon, David, was hättest du denn tun sollen? Damit konnte nun wirklich niemand rechnen.“
„Es gehört aber zu meinem Beruf, mit so etwas zu rechnen“, haderte er noch immer mit sich selbst.
„Ich geb`s auf“, resignierte ich kopfschüttelnd und schmunzelte dann. „Okay, wenn dich das beruhigt: du allein bist an allem schuld, was passiert ist. Deshalb liegst du jetzt mit einer weichgeklopften Birne hier in meinem Bett.“
Er grinste, hob die Hand und strich mir liebevoll übers Haar.
„Hattest du große Angst?“
„Vor dem Mann mit den Drohbriefen?“ Ich zögerte einen Augenblick und schüttelte dann entschieden den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Er hat mir erzählt, warum er das alles getan hat. Ehrlich gesagt tat er mir fast schon ein bisschen Leid. Nur als er losfahren wollte, da bekam ich Panik.“
„Ich hatte eine Scheißangst um dich“, gab David ehrlich zu. „Als mich Steve anrief und mir sagte, dass sie einen Verdächtigen beschatten, der es vielleicht auf dich abgesehen hat, da wollte ich nur noch raus aus der Klinik und habe ihm böse zugesetzt, damit er mich sofort abholt.“
Ich küsste ihn sanft und vorsichtig auf die unverletzte Seite.
Er zog mich fest an sich.
„Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn dir was passiert wäre“, raunte er und suchte meine Lippen. Es war wieder einer von seinen Küssen, die mir den Atem nahmen, die Sinne raubten und mich von Kopf bis Fuß zu heißem Wachs in seinen Armen werden ließen.
Nach einigen Sekunden jedoch stöhnte er auf und ließ sich schweratmend in die Kissen zurückfallen.
„Verdammt, in meinem Schädel tobt ein Vorschlaghammer.“
„Kein Wunder“, erwiderte ich mit bebenden Lippen und versuchte meinen Blutdruck wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Sanft befreite ich mich aus seinen Armen. „Vielleicht solltest du erst einmal ordentlich frühstücken. Das tut deinem Kopf bestimmt gut.“
Er grinste schmerzlich.
„Wenn du das sagst… Hast du Aspirin im Haus?“
„Im Badschrank. Ich nehme an, der Arzt hat dir Bettruhe verordnet?“
„Wer sollte mir Bettruhe verordnen, so schnell wie ich dort abgehauen bin? Außerdem ist das nur eine kleine Beule. Bis meine Schicht beginnt, bin ich wieder fit.“
„David!“, rief ich entsetzt und er hob lachend die Hände.
„Okay, Steve und ich werden heute sowieso nur am Schreibtisch sitzen. Unser Boss besteht auf einen exakten Bericht über gestern Abend.“
„Was Steve betrifft, so sollte er sich damit beeilen“, rief ich, während ich in der Küche begann, das Frühstück zu bereiten. „Er hat nicht mehr viel Zeit.“
David kam, sich den schmerzenden Kopf haltend, mit freiem Oberkörper und noch immer etwas blass um die Nase aus dem Schlafzimmer geschlurft und lehnte sich in den Türrahmen.
„Wie kommst du darauf?“
„Seine zukünftige Frau hat Urlaub bekommen und wird voraussichtlich heute bei euch eintreffen. Wann ist denn eigentlich die große Hochzeit?“
Er sah mich an, als käme ich von einem anderen Stern.
„Welche Hochzeit?“
„Na die von Steve! Du hast mir doch erzählt, dass er auszieht, weil er heiraten will!“
„Ja irgendwann sicher, aber nicht sofort. Die beiden ziehen nur zusammen.“
Ich lachte.
„Das klang aber in ihrem Anruf etwas anders.“
„Sie hat angerufen?“
„Ja, als ich in eurer Wohnung gewartet habe. Ich bin nicht rangegangen, aber sie hat eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie nannte ihn Policeman und meinte, sie habe große Sehnsucht nach ihm und würde am liebsten mit ihm durchbrennen. Ach ja, und sie sagte noch, sie sei unterwegs zu ihm. Die beiden müssen sehr verliebt sein. Hoffentlich hat er die Nachricht abgehört.“
David sah mich etwas komisch an und wirkte plötzlich noch einen Schein blasser als vorher. Dann räusperte er sich und nickte.
„Wann sagtest du, kommt sie her? Heute?“ Mit einem Mal schien er es sehr eilig zu haben. „Ich denke, ich sollte Steve gleich mal anrufen.“
„Tu das. Und dann komm frühstücken!“
Ich hörte, wie David nebenan leise telefonierte, konnte aber nichts verstehen.
Der Anruf dauerte nicht lange.
Kurz darauf kam er zurück in die Küche, die Packung mit dem Aspirin in der Hand.
„Tut mir leid, Caiti, aus unserem gemütlichen Frühstück wird wohl nichts. Der Boss will umgehend unseren Bericht.“
„Oh…“ Enttäuscht hielt ich mit meinen Vorbereitungen inne und sah ihn besorgt an. „Soll ich dich hinbringen?“
„Nein, nicht nötig. Steve holt mich ab. Mein Auto steht ja noch vor dem Rathaus.“
Er duschte, zog sich in aller Eile an und kam dann zurück in die Küche. Hungrig biss er in die soeben aufgebackene Semmel und trank vorsichtig einen Schluck vom frisch gebrühten Kaffee. Seine Wangen hatten wieder etwas Farbe bekommen.
„Dir scheint es besser zu gehen“, stellte ich erleichtert fest.
„Ich sag ja, mir fehlt nichts.“
„Du solltest dich trotzdem nochmal untersuchen lassen. Nur zur Sicherheit.“
„Mal sehen, vielleicht mache ich das“, lenkte er ein und küsste mich zum Abschied.
„Bis später. Ich ruf dich an, okay?“
Dann nahm er seine Jacke und weg war er.
Aufseufzend setzte ich mich an den Tisch und frühstückte allein. Doch irgendwie wollte nicht einmal der Kaffee schmecken. Seit dem Gespräch mit David vorhin hatte ich erneut ein flaues Gefühl im Magen, das ich mir nicht erklären konnte. Warum hatte er mich so komisch angesehen, als ich ihm von dem Anruf erzählte? Irgendwas stimmte nicht, das konnte ich fühlen.
Aber was?
Der gestrige Tag hat uns alle durcheinandergebracht, versuchte ich mich schließlich zu beruhigen.
Ich griff zum Telefon, rief meine Eltern an und ließ sie wissen, dass mit mir alles in bester Ordnung war. Nachdem sie mir das Versprechen abgerungen hatten, mich pünktlich zum Mittagessen bei ihnen einzufinden, musste ich unbedingt nach Jessi sehen. Wir hatten uns gestern in dem Durcheinander total aus den Augen verloren, und ich hoffte, dass ihr nichts geschehen war.
Der Umstand, dass heute Sonntag war, sowie ein Blick zur Uhr bestätigten mir, wo ich hinfahren musste, um meine beste Freundin zu finden.
Ich holte die alten Jeans aus dem Schrank und machte mich kurze Zeit danach auf den Weg zum Gestüt.
Eine gute Stunde später trabten Jessi und ich auf dem Rücken unserer Pferde Saphira und Starlett einen abgelegenen Feldweg am Stadtrand entlang. Trotz der morgendlichen Kühle versprach der Tag recht schön zu werden, die Sonne schien und in den Gräsern, die ein leichter Frühlingswind sacht hin und her wiegte, hingen glitzernde Tautropfen.
Ich war erleichtert, dass es Jessi gut ging. Sie hatte sich, nachdem die ersten Flaschen und Steine flogen, geistesgegenwärtig hinter einem der Caravans versteckt, und der Typ vom Stadtrat, mit dem sie vorher getanzt hatte, war dann mit ihr zusammen irgendwie durch den seitlichen Bühnenausgang nach draußen gelangt.
„Hoffentlich rechnet der sich keine Chancen bei mir aus“, lachte sie und verdrehte die Augen.
„Wieso sollte er?“
„Er wollte meine Handynummer und…“
„Du hast sie ihm gegeben? Jessi!“, rief ich entsetzt.
„Ich stand unter Schock“, versuchte sie sich zu verteidigen. „Außerdem ist er doch ganz süß.“
„Und mindestens fünfzehn Jahre älter als du!“
„Zehn“, verbesserte sie und grinste. „Geschieden mit Klein-Kind. Da hätte ich gleich eine Familie und müsste nicht erst eine machen.“
„Wow“, lachte ich kopfschüttelnd. „Trotz deines gestrigen Schock-Zustandes bist du erstaunlich gut informiert. Lass das mal den Alex nicht hören!“
„Ach der“, wehrte Jessi resigniert ab. „Das wird doch nie was Richtiges mit uns. Ich glaube, ich werde langsam zu alt für diese On-Off-Beziehung.“
Ich starrte sie fassungslos an.
„Bist du sicher, dass du gestern keines von diesen Geschossen vor den Kopf bekommen hast?“
Sie lachte übermütig.
„Los, gönnen wir uns und unseren Pferden einen kleinen Wettlauf! Wer zuerst an der Quelle ist…“
Sie gab Starlett die Sporen und ließ die Stute laufen.
Auf mein Zeichen setzte Saphira ihr nach.
Wir jagten wie der Wind über die Wiesen. Ich saß fest im Sattel, verlagerte mein Gewicht etwas nach vorn und feuerte mein Pferd an, alles andere um mich herum vergessend. Ein herrliches, fast schwereloses Gefühl erfasste mich, als Saphira scheinbar mühelos an Starlett vorbeizog und als erste bei der Quelle ankam.
„Braves Mädchen“, lobte ich und klopfte ihr anerkennend den Hals.
„Eins zu null für dich, Prinzessin!“, rief Jessi und lachte. „Mensch, wie in alten Zeiten!“
„Prinzessin…“, wiederholte ich nachdenklich, als wir nebeneinander zurückritten. „Seitdem ich diesen Titel habe, ist ziemlich viel passiert.“
„Du hast dich verliebt“, stellte Jessi fest, als sei das die natürlichste Sache der Welt. „Du hast dir den tollsten Typen geangelt, der seit Urzeiten hier aufgetaucht ist. Er ist…“ Sie suchte genießerisch nach den richtigen Worten „…mega heiß!“
Ich musste plötzlich wieder an den eigenartigen Anruf denken.
„Kann sein, aber im Grunde weiß ich noch immer sehr wenig über ihn.“
„Du weißt, dass es im Bett zwischen euch klappt. Was willst du mehr?“
„Na das kann aber auf Dauer auch nicht alles sein.“
Jessi grinste.
„Alles vielleicht nicht, aber immerhin...“ Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. „Was willst du denn von ihm wissen?“
„Na ja, so alles Mögliche eben. Persönliche Dinge. Was man sich so voneinander erzählt, wenn man sich eine Weile kennt. Seine Familie, Exfreundinnen, sein Leben, bevor er versetzt wurde…“
„Hast du ihn danach gefragt?“
„Ich habe es gelegentlich versucht, und er antwortet mir auch auf meine Fragen, aber irgendwie bin ich hinterher so schlau wie vorher.“
Jessi lächelte weise.
„Ich glaube, dein David ist ein Typ, der sich nicht gern in die Karten schauen lässt. Aber er scheint ehrlich zu sein. Er sagt, was er denkt. Der ist einer von der Sorte „Ganz oder gar nicht“. Für wen er sich einmal entschieden hat, dem ist er garantiert treu bis zum bitteren Ende.“
„Und du glaubst, er hat sich für mich entschieden?“
Sie hob die Schultern.
„Tja Caiti, das ist eine Sache, die du ganz allein herausfinden musst.“
An diesem Tag wartete ich vergebens, dass David nach seiner Schicht bei mir auftauchte. Er rief nur kurz an und erklärte mir, er habe noch immer starke Kopfschmerzen und würde sich erst einmal richtig ausschlafen. Dafür hatte ich, trotz meiner heimlichen Enttäuschung, doch vollstes Verständnis.
Kurzentschlossen rief ich Jessi an und verabredete mich mit ihr zu einem Kinobesuch. Sie brachte noch Charlie und Jette, zwei unserer Freundinnen aus unserer Clique mit, und wider Erwarten wurde es ein fröhlicher Mädelsabend, der im Stadt-Café endete, genauso wie damals, als alles begann.
Nur eben mit dem kleinen Unterschied, dass ich an diesem Abend keine Bewerbung mehr schrieb, sondern mir vielmehr eine förmliche Absage für den nächsten Tag in meinem Kopf zurechtzulegen begann.