Ich war todmüde, ausgelaugt und heilfroh, als ich mich nach der Wahl irgendwann endlich in meinem Bett fallen ließ. Trotzdem war an Schlaf nicht zu denken. Ich lag da und starrte in die Dunkelheit, während mein Kopf den vergangenen Abend Revue passieren ließ.
Was für ein Ereignis!
Vor meinen Augen tanzten noch immer Sterne von dem enormen Blitzlichtgewitter, das inmitten der Stadtobrigkeit über mich hereingebrochen war. Alle hatten mir gratuliert, ich wurde bekannten und unbekannten Leuten vorgestellt, musste unzählige Hände schütteln und dabei jedes Mal so liebenswürdig in die Kamera lächeln, dass meine Kiefer schmerzten, und ich irgendwann die Befürchtung hegte, dieses Lächeln nie wieder aus dem Gesicht zu bekommen.
Sie hatten mich gewählt, zuerst aus unzähligen Bewerberinnen, dann von zehn Kandidatinnen - ausgerechnet mich! Irgendwie konnte ich es noch immer nicht fassen. Dabei war meine Bewerbung doch wirklich nicht mehr als ein dummer Spaß gewesen!
Wie auch immer, wegen diesem „Spaß“ hatte ich nun für ein ganzes Jahr ein Ehrenamt am Hals, dessen Bedeutung mir noch immer nicht so richtig klar war.
Lichterprinzessin!
Klang ja wirklich verheißungsvoll, aber man hatte mir auch gleich von Seiten des zuständigen Fördervereins mit auf den Weg gegeben, dass ich nun in meiner Rolle als Majestät für Veranstaltungen aller Art zur Verfügung zu stehen hatte. Wo und wann auch immer man in der oberen Rathaus-Etage der Meinung war, dass sich eine Lichterprinzessin als schmückendes Beiwerk gut verkaufen würde, hatte ich mich einzufinden und - was dann?
Was tut eine Prinzessin auf einem Fest, einem Empfang oder irgendeinem anderen Event?
Gute Frage…
Sie zeigt sich und sie sieht immer bezaubernd aus.
Okay, dachte ich im Stillen, das bekomme ich hin, schließlich haben die mich gewählt. Demzufolge müssen sie auch damit klarkommen, wie die „Hoheit ihrer Herzen“ aussieht.
Zu allererst jedoch brauchte ich ein Kleid, das einer Prinzessin würdig war. Zuständig dafür war ein stadtbekanntes Hochzeitsunternehmen, das als offizieller Sponsor fungierte und ein Kleid extra für mich anfertigen würde.
Der erste Anprobetermin war bereits auf die kommende Woche festgesetzt. Klar, sie mussten sich beeilen, denn das „Fest der tausend Lichter“ stand unmittelbar bevor. Bereits in drei Wochen war es soweit, und bis dahin gab es noch viel zu tun.
Ich würde mich außerdem mit Simone, der für mich verantwortlichen Dame vom Förderverein, treffen und alle Einzelheiten des bevorstehenden Festes besprechen. Schließlich sollte ich gemeinsam mit dem Landrat und dem Bürgermeister unserer Stadt in einer Kutsche den großen Festumzug anführen.
Anschließend würde es meine Aufgabe sein, von der Bühne unseres Schlossparkes aus das Fest offiziell zu eröffnen. Das und noch einige andere Dinge wollte Simone vorher genau mit mir absprechen.
Als ich mir die Bühne und eine sich dicht davor drängende, gigantische Menschenmenge vorstellte, bekam ich sofort Magendrücken. Doch Jessi beruhigte mich und meinte, ich solle an die Zeugnisausgabe beim Abi-Ball denken. Schlimmer könnte das hier auch nicht werden.
Überhaupt, Jessi…
Ich hatte trotz des Trubels, der unmittelbar nach der Wahl um meine Person herrschte, bemerkt, dass meiner besten Freundin etwas unter den Nägeln brannte, und ich konnte mir sehr gut vorstellen, was es war. Kaum waren wir nach der Veranstaltung allein, platzte sie auch schon heraus:
„Na los, erzähl! Wer ist er?“
„Wen meinst du?“
Sie sah mich mit einem Blick an, als sei ich nicht von dieser Welt.
„Na, wen meine ich wohl? Ich habe nur einen Typen gesehen, der das Hingucken wert war. Und den hattest du am Arm, als du hinter der Bühne hervorkamst.“
„Ach der“, sagte ich betont beiläufig und musste über ihre vor Neugier funkelnden Augen lachen. „Ich habe keine Ahnung, wer er ist. Er war plötzlich da, als ich meinen Schuh verlor.“
„Du hast deinen Schuh verloren? Mh…“ Sie musterte mich nachdenklich und spielte mit dem Piercing in ihrer rechten Augenbraue. „Die Masche kannte ich noch gar nicht.“
Während sie so dastand, fiel mir wieder einmal auf, wie hübsch sie war. Dunkles, kurzes Haar, durchwirkt mit grell pinkfarbenen Strähnchen, ein ebenmäßiges, schmales Gesicht mit wunderschönen braunen Augen, und eine Figur, um die jedes Topmodel sie beneidet hätte.
Doch ich wusste, sie selbst sah sich nicht so. Sie liebte Piercings, trug gern grelle Farben und verrückte Klamotten und dachte gerade über ihr erstes Tattoo nach. Jessi war eine, die sich nicht verbiegen ließ. Egal, wie oft sie wegen ihrer großen Klappe bei anderen aneckte, sie war immer ehrlich und blieb sich stets selber treu. Ich liebte ihre direkte Art und konnte mich nicht erinnern, dass wir einander in den vielen Jahren jemals ernsthaft böse gewesen waren. Manchmal stritten wir, dass die Fetzen flogen, aber gerade solche "Diskussionen" machten unsere Freundschaft zu etwas ganz Besonderem. Wir beide waren einfach ein unschlagbares Team.
„Hey!“ Ohne jegliche Vorwarnung kniff sie mich ziemlich unsanft in den Arm.
„Au!“, beschwerte ich mich erschrocken. „Was soll denn das?“
„Du bist meine beste Freundin“, meinte sie, als habe sie meine Gedanken erraten. „Warum zum Geier verrätst du mir solche Tricks nicht?“
Ich schüttelnde lachend den Kopf.
„Das war kein Trick, Jessi. Ich bin mit dem Absatz in der Treppe steckengeblieben und wäre schwer gestürzt, wenn er mich nicht aufgefangen hätte.“
Sie verzog nachdenklich den Mund.
„Kommt mir bekannt vor. Nur, dass in meiner Story das arme Mädchen ohne Schuh weitergelaufen ist und der blaublütige Kerl sie danach erst suchen musste.“
„Er hat gesagt, er sei mein Schutzengel.“
„Wow“, nickte sie anerkennend und grinste. „Also mit dem Engel würde ich zu gern mal eine Runde fliegen.“
„Du bist unverbesserlich!“
„Ich bin unverbesserlich?", wiederholte sie und verdrehte theatralisch die Augen. "Wer hat denn hier quasi mit links diese Wahl gewonnen, und danach den tollsten Typen im Saal aufgerissen?“
„Ich habe ihn nicht aufgerissen.“
„Nö, du bist ihm in die Arme gestürzt. Auch nicht schlecht.“
Ich konnte ihr noch nie etwas vormachen. Also erzählte ich ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit, was ich über meinen "Retter" erfahren hatte.
Simone hatte ihn mir nach der Wahl offiziell vorgestellt:
David Brandt, der Mann, der während meiner Amtszeit für meine Sicherheit verantwortlich sein würde. Mein Schutzengel, mein Bodyguard, was auch immer. Der Gedanke an ihn reichte aus, und die Ameisenarmee in meinem Bauch setzte sich sofort wieder in Bewegung.
Im Rathaus hatte es in letzter Zeit einige anonyme Drohungen gegeben, die man zwar der Öffentlichkeit bislang vorenthielt, um niemanden unnötig zu verunsichern, die aber dennoch sehr ernst genommen wurden. Einige Polizisten aus den umliegenden Städten wurden für den Personenschutz eingeteilt. Einer davon war David.
„David…“ Jessi ließ sich den Namen förmlich auf der Zunge zergehen. Sie überlegte einen Augenblick und nickte dann. „Ich habe die ganze Zeit überlegt, mit wem er Ähnlichkeit hat. Jetzt fällt`s mir ein. Er erinnert mich an diesen absolut heißen Vampir aus der neuen TV-Serie, die mit den beiden Brüdern. Einer ist gut, einer böse.“
„Aha. Und welchen der Brüder meinst du?“
Sie knuffte mich erneut und grinste.
„Na was glaubst du wohl? Bad Boys sind die wahren Helden!“
Nun lag ich hier und konnte nicht verhindern, dass meine Gedanken unaufhörlich um ihn kreisten.
Ob ich ihm vor dem Fest noch einmal begegnen würde?
Als die Feier zu Ende war, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Einerseits war ich etwas enttäuscht darüber, dass er ohne ein Wort verschwunden war. Andererseits wiederum war ich froh, ihn nicht in meiner Nähe zu wissen, denn dieser Abend hatte mir genug Aufregung und Verwirrung beschert. Für den Augenblick gab ich mich mit der Gewissheit zufrieden, ihn bald wiederzusehen.
Und wenn nicht?
Wenn zu jedem Auftritt ein anderer Polizist für meinen Schutz sorgen würde?
Die Ameisen in meinem Bauch ballten sich zu einer schmerzhaften Kugel zusammen.
Nein, das würde nicht passieren! Immerhin hatte Simone ihn mir als meinen Schutzbeauftragten vorgestellt.
Also entspannt euch, Ameisen! Ich würde David Brandt wiedersehen, schon sehr bald, und dann würde ich – im Gegensatz zu heute - auf diese Begegnung vorbereitet sein.
Mit einem verheißungsvollen Lächeln auf den Lippen schlief ich endlich ein.