Das Springreiten fand alljährlich in einer extra dafür angelegten Außenanlage etwa vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt statt. Die Schirmherrschaft über diesen beliebten Wettbewerb hatte vor Jahren der damalige Bürgermeister übernommen und diese Tradition an seine Nachfolger weitergegeben.
In diesem Jahr nun war man in der Rathaus-Etage auf die glorreiche Idee gekommen, das Stadtoberhaupt in adliger Begleitung zu diesem Event zu schicken. Wozu hatte man denn schließlich seit kurzem eine Lichterprinzessin? Adel verpflichtet, also hatten sie das Turnier kurzerhand auf meinen hoheitlichen Dienstplan gesetzt.
Ich freute mich auf das Springreiten, zumal mein ehemaliger Reit-Verein mit von der Partie sein würde.
Jessi und ihre Mannschaft traten in der Anfänger-Kategorie E gegen vier andere Mannschaften an. Es war ihr erster Wettkampf dieser Art, denn sie hatten zwei Neulinge dabei, die erst seit einem halben Jahr der Gruppe angehörten.
Nachdem meine Mom mich an der Reitanlage abgesetzt und versprochen hatte, später nochmal vorbeizuschauen, war ich zuerst zu den Stallungen hinübergegangen, um Jessi und ihren Kommilitonen viel Glück zu wünschen. Ganz nebenbei wollte ich meiner ehemaligen Stute Saphira ein paar liebevolle Streicheleinheiten zukommen lassen. Saphira war zwei Jahre lang mein zu betreuendes Pferd gewesen, ich kannte sie, seitdem sie an einem heißen Augusttag das Licht der Welt erblickt hatte. Ihre Geburt war eines meiner schönsten und bewegendsten Erlebnisse gewesen. So etwas verbindet, und mein mangels Freizeit begründeter Ausstieg aus dem Verein wäre mir sicher um einiges schwerer gefallen, wenn ich mein Pferd nicht in die liebevollen Hände meiner besten Freundin hätte geben können. Jessi sorgte wirklich gut für sie. Neben ihrem Job als Helferin in einer ortsansässigen Tierarztpraxis leistete sie in ihrer Freizeit viele soziale Stunden im Reitverein und wartete noch immer auf einen der wenigen heißbegehrten Studienplätze für Veterinärmedizin.
In diesem Wettkampf würde sie Saphira jedoch nicht selbst reiten, Neuling Anika war stattdessen dafür eingeteilt, weil die Stute als sehr ruhig und zuverlässig galt, und die beiden fleißig zusammen trainiert hatten.
Allerdings wirkte Anika an diesem Tag alles andere als ruhig. Sie vibrierte förmlich vor Lampenfieber. Das war kein gutes Zeichen, denn die Unruhe des Jockeys überträgt sich für gewöhnlich sofort auf das Pferd.
„Weshalb setzt der Trainer einen Neuling wie sie für so einen wichtigen Wettbewerb ein?“, fragte ich Jessi leise, so dass uns niemand hören konnte. „Sie ist doch noch viel zu unerfahren!“
Meine Freundin wirkte zwar nach außen hin ruhig und sicher, doch ich kannte sie zu gut und konnte ihre innere Anspannung förmlich spüren.
„Es ist ja sonst keiner da. Manu liegt mit einer Blinddarmreizung im Krankenhaus, und Lina hat eine schwere Bronchitis“, erklärte sie und hob hilflos die Schultern. „Aber wir sind nun einmal angemeldet und wollen das hier unbedingt durchziehen.“
„Sehr mutig!“
„Du hältst uns beide Daumen?“
„Na klar, was denkst du denn!“
Wir umarmten uns kurz und ich wünschte ihr viel Glück.
Dann ging ich hinüber zu Saphira, strich liebevoll über ihr hellbraunes Fell und tätschelte ihr den Hals. Sofort legte die Stute ihren Kopf auf meinen Arm und schnaubte zufrieden.
Anika trat zu uns und begrüßte mich mit einem gezwungenen Lächeln.
„Pass auf, dass sie dir nicht dein Kleid besabbert“, warnte sie beunruhigt.
„Keine Sorge“, entgegnete ich und streichelte Saphiras feuchte, weiche Nüstern. „Wir sind schließlich auf dem Reitplatz, da darf sogar die Prinzessin ein klein wenig nach Pferd riechen.“
„Verdammt, Caiti, ich bin total fertig“, gestand Anika plötzlich leise. „Ich habe letzte Nacht kein Auge zugemacht.“
„Das ist okay, würde mir sicher genauso gehen", log ich, um sie einigermaßen aufzumuntern, wies dann jedoch auf Saphira und fügte eindringlich hinzu: „Aber ganz egal wie du dich fühlst, sie darf das nicht spüren. Tu euch beiden einen Gefallen und versuche genauso zu sein wie immer, dann kann gar nichts schiefgehen. Ihr seid ein unschlagbares Team, ihr schafft das schon!“
Anika nickte und klopfte der Stute liebevoll auf die Flanken.
„Danke Caiti“, sagte sie und atmete tief durch. „Ich werde mein Bestes geben.“
Trotzdem hatte ich kein besonders gutes Gefühl, als ich den Stall verließ.
Kurz darauf tauchte der Organisator auf und bat mich mit ihm zu kommen.
Am Eingang warteten mehrere dem Anlass entsprechend geschmückte offene Pferdekutschen. Alle aus dem Umkreis waren extra angereist, um sich hier zu präsentieren.
In einer der Kutschen davon saß bereits der Bürgermeister, und nun sah ich auch David. Er lehnte unweit von uns am Koppelzaun und unterhielt sich mit seinem Kollegen. Ich winkte ihm zu und er grüßte lächelnd zurück.
Dann stieg ich zu unserem Stadtoberhaupt in die Kutsche und wir hielten zur beschwingten Musik einer Schalmeien- Kapelle Einzug auf den Reitplatz.
Nachdem wir auf der Tribüne Platz genommen hatten - der Bürgermeister und ich in der Mitte und unsere beiden „Beschützer" seitlich von uns - gesellten sich noch der Amtstierarzt und der amtierende Leiter des Pferdesportbundes zu uns und verwickelten das Stadtoberhaupt sogleich in eifrige Fachgespräche, so dass ich Gelegenheit hatte, mich ein wenig mit David zu unterhalten.
„Alles wieder okay bei dir zu Hause?“
„Aber sicher.“ Damit schien das Thema für ihn abgehakt zu sein. Er sah mich an und nickte anerkennend. „Siehst toll aus!“
„Danke.“
Das Kompliment war, zumindest, was meine Frisur betraf, vollkommen berechtigt, denn meine Mom hatte sich die allergrößte Mühe gegeben und mein Haar fachmännisch aufgesteckt. Sogar die Perlen von der Lichternacht hatte sie darin befestigt.
David selbst sah heute aber auch zum Anbeißen aus. Er trug ein weißes Shirt unter einem ebenso weißen Jeanshemd und darüber seine schwarze Lederjacke. Die Bluejeans und die weißen Sneakers rundeten das sexy Outfit ab.
„Du hast dich aber heute auch ordentlich in Schale geworfen“, bemerkte ich augenzwinkernd. David grinste und die Grübchen kamen zum Vorschein.
Egal, wie oft ich mir vornahm, mich von diesem Lächeln nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, er schaffte es jedes Mal, mich damit zu verunsichern, weil ich mir bei ihm nie ganz sicher war, ob er mich an- oder auslachte.
„Was ist?“, fragte ich leicht gereizt.
„Danke.“
„Wofür?“
„Man bekommt schließlich nicht jeden Tag Komplimente von einer schönen Frau.“
„Gewöhn` dich gar nicht erst daran.“
„Schade.“ Er musterte mich einen Augenblick lang von der Seite. „Mein Kollege hat mir von deinem letzten Auftritt im Rathaus erzählt.“
„Ah ja.“
„Wie ich hörte, steigst du langsam zur rechten Hand des Bürgermeisters auf und wirst regelrecht zum Liebling der Nation! Ich muss gestehen, das macht mich allmählich doch ein wenig eifersüchtig!“
Jetzt war ich es, die grinste.
„Tja, mein Lieber, wenn du nicht da bist, muss eine arme Prinzessin wie ich eben sehen, wo sie bleibt.“
Er zog ein gespielt finsteres Gesicht und raunte:
„Darüber müssen wir unbedingt nochmal unter vier Augen sprechen.“
Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme.
„Gerne.“
Obwohl ich nicht hinsah, konnte ich seinen Blick förmlich spüren. Während der Organisator offiziell die anwesenden Gäste des Spring-Reit-Turniers begrüßte und die einzelnen teilnehmenden Reitclubs vorstellte, beugte sich David diskret zu mir herüber, strich vertraulich mit den Fingern über die Seitennaht meines Kleides und raunte mir zu:
„Was ich dich immer schon mal fragen wollte: Trägt man unter so einem engen Teil eigentlich noch Unterwäsche?“
Wenn er erwartet hatte, dass ich geschockt reagieren würde, dann hatte er sich getäuscht. Ich hielt seinem Blick stand und lächelte geheimnisvoll.
„Was glaubst du wohl?“
„Ich würde ja nachsehen, aber wir wollen doch nicht zum öffentliches Ärgernis werden, oder?“
„Nein, das wollen wir nicht“, gab ich zurück und wies auf den Kommentator am Mikrofon. „Also sei still und hör zu!“
Er lehnte sich mit verhaltenem Grinsen zurück.
„Sehr wohl, Majestät.“
Ein paar Sekunden später jedoch beugte er sich wieder vor und flüsterte mir ins Ohr:
„Darf ich später nachsehen?“
In diesem Augenblick begann das Springreiten, und ich blieb ihm die Antwort schuldig.
Der erste Durchgang in der Gruppe E verlief reibungslos. Ich saß, drückte beide Daumen und fieberte bei jedem Sprung förmlich mit.
Saphira sprang unter Anikas Regie fehlerfrei, und nach dem ersten Durchgang war ich unendlich erleichtert darüber, dass das Mädchen ihre Aufregung nun anscheinend doch noch in den Griff bekommen hatte.
In der Pause kam Jessi in ihrem schmucken Reitdress kurz zu uns herüber. Sie sah wunderschön aus, auch ohne Makeup und ihr sonstiges Styling, doch sie schien die bewundernden Blicke um sich herum gar nicht wahrzunehmen. Ungezwungen lachend kam sie näher und nickte David mit einem „Hi Damon!“ im Vorübergehen freundlich zu. Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch.
„Wie bitte?“
„Sie vergleicht dich mit einem ihrer Filmtypen“, erklärte ich schnell und warf meiner besten Freundin einen strafenden Blick zu.
David lachte.
„Heldenhaft und unverschämt gutaussehend?“, wandte er sich an Jessi.
„Aber sicher“, erwiderte sie schlagfertig und verdrehte genüsslich die Augen. „Absolut incredible!“
„Dann darfst du mich gerne weiter so nennen.“
Jessi quetschte sich einen Augenblick lang neben mich auf die Bank.
„Na, zufrieden?“, fragte ich sie leise.
„Klar, bisher läuft doch alles super.“
„Ich bin überzeugt davon, dass ihr euch den Pokal holt“, prophezeite ich optimistisch. Sie nickte zuversichtlich und wies dann mit einer kurzen Kopfbewegung in Davids Richtung.
„Der ist sooo süß!“, raunte sie mir begeistert zu, obwohl er direkt neben ihr saß. „Und außerdem nicht auf den Mund gefallen, das gefällt mir. Den musst du unbedingt behalten!“
Ich räusperte mich verlegen und hoffte inbrünstig, dass David ihre Bemerkung nicht gehört hatte. Doch sein amüsiertes Grinsen belehrte mich sofort eines Besseren.
Kaum war Jessi weg, beugte er sich abermals zu mir herüber und meinte beifällig:
„Deine Freundin gefällt mir. Sie vertritt eine sehr gesunde Meinung. Du solltest auf sie hören. Also…“
„Also… Was?“
„Behalt mich, Prinzessin. Unbedingt!“
Auch der zweite Durchgang verlief für Jessis Gruppe optimal. Mit viel Geschick nahmen alle vier Teilnehmer den Parcour ohne Fehler. Sie konnten wirklich stolz auf sich sein.
Dann, in der Pause kurz vor dem dritten und entscheidenden Durchgang, erschien Jessi erneut an der Tribüne. Sie lächelte zwar, doch ich kannte meine Freundin zu gut, um nicht sofort zu wissen, dass etwas nicht stimmte.
„Darf ich die Prinzessin einen Augenblick entführen?“, fragte sie charmant in die Runde der mehr oder weniger prominenten Anwesenden. Allerdings wartete sie die Antwort des Bürgermeisters gar nicht erst ab, sondern ergriff meine Hand und zog mich energisch mit sich fort. „Sie ist gleich zurück, versprochen!“
„Anika sitzt im Heu, heult und kotzt sich die Seele aus dem Leib“, berichtete sie total genervt, als wir bei den Stallungen ankamen. „Wenn ich sie in diesem Zustand mit Saphira rausschicke, geht die Stute glatt durch!“
„Kannst du nicht zweimal…“
Jessi verdrehte die Augen.
„Du weißt doch genau, dass das nicht geht. Wir haben alle eine Startnummer und stehen mit unseren Pferden gleichzeitig nebeneinander draußen am Start."
„Verdammt, ihr seid bisher die ersten in der Wertung!“
„Wem sagst du das.“
„Und was nun?“
Jessi starrte mich an und ich starrte zurück. Manchmal sind wir beide wie Seelenverwandte, wir denken und fühlen das gleiche. So wie in diesem Moment.
Ich atmete tief durch.
„Na los, bringen wir es hinter uns. Hilf mir aus dem Kleid!“
Jessi fiel mir um den Hals.
„Caiti, du bist…“
„Absolut verrückt, ich weiß.“