Springreiten – bei diesem Sport sollten Pferd und Reiter eine Einheit sein, denn der Reiter sitzt nicht nur einfach so auf dem Rücken des Pferdes, sondern meistert in aktiver Zusammenarbeit mit dem Pferd jeden einzelnen Sprung über die Hindernisse. Und wer sich nur ein ganz klein wenig im Pferdesport auskennt, der weiß, dass es einiges an Geschicklichkeit, Balance und den präzisen Einsatz der Reithilfen bedarf, um das Pferd zielgerichtet über den Parcour zu dirigieren. So etwas lernt man nicht von heute auf morgen, dazu gehört viel Ausdauer, regelmäßiges Training und vor allem das Vertrauensverhältnis zu dem Tier, mit dem man arbeitet.
Das alles war nichts Neues für mich. Um den sportlichen Teil meines streng geheimen Auftritts machte ich mir kaum Gedanken, denn Saphira war mir vertraut wie kein anderes Pferd. Und obwohl ich seit zwei Jahren nicht mehr offiziell im Verein mitarbeitete, war ich doch hin und wieder mit ihr ausgeritten, sofern es meine knapp bemessene Freizeit erlaubte. Außerdem hatte ich, wie vorab schon erwähnt, auf der Farm meiner Großeltern bereits im Sattel gesessen, noch bevor ich richtig laufen konnte.
Ich dachte also zunächst nicht weiter darüber nach, was bei dieser waghalsigen Aktion eventuell schiefgehen könnte, während ich mich in aller Eile in Anikas Reitanzug quetschte. Zum Glück passten mir ihre Klamotten einigermaßen. Wenn ich allerdings gehofft hatte, darin einige Zentimeter mehr Luft zu bekommen als in meinem Prinzessinnenkleid, so wurde ich enttäuscht. Anika war mindestens so schlank wie ich, und so konnte ich nur beten, dass alle Nähte, besonders die um mein Hinterteil herum, jeder meiner Bewegungen standhalten würden.
Dann, wie aus dem Nichts heraus, überkamen mich plötzlich Zweifel.
Was wäre, wenn ich durch irgendeinen leichtsinnigen Fehler den Mannschaftssieg verpatzen würde?
Was, wenn Saphira meine Signale missverstehen und falsch abspringen würde?
Was, wenn sie sich durch meine Schuld ernsthaft verletzte, mal ganz abgesehen davon, dass ich mir ebenfalls das Genick brechen könnte?
Was wäre, wenn mich jemand erkennen würde?
Was würde passieren, wenn herauskäme, dass nicht Anika, sondern ihre Vertretung am Start war?
Mitten in meiner selbstzerstörerischen Zweifel-Attacke dachte ich mit einem Mal an David, stellte mir sein undefinierbares Lächeln vor, während ich in Gedanken seine Stimme hörte:
„Du musst unbedingt an deinem Selbstwertgefühl arbeiten, Prinzessin!“
Selbstwertgefühl?
Oh ja, ich vermute, er hätte in diesem Augenblick seine wahre Freude an mir.
Ich straffte die Schultern und hob entschlossen das Kinn.
Nein, die Genugtuung, mit seiner Einschätzung Recht zu behalten, würde ich ihm nicht geben. Schließlich hatte ich auch meinen Stolz, und auf dem Rücken eines Pferdes machte mir so schnell keiner etwas vor!
Ich trat zu Saphira und strich ihr liebevoll über die Nase. Während ich meine Steigbügel einstellte und in den Sattel stieg, spürte ich, wie die innere Unruhe verschwand und einem derart vertrauten Gefühl Platz machte, dass mir für einen Augenblick richtig warm ums Herz wurde. Es war, als hätte eine unsichtbare Kraft in meinem Kopf einen Schalter betätigt. Voller ungewohnter Selbstsicherheit beugte ich mich nach vorn, klopfte Saphira den Hals und flüsterte ihr ins Ohr:
„Komm altes Mädchen, zeigen wir ihnen, wie man siegt!“
Ich dirigierte meine Stute in die Reihe der drei anderen Pferde und ihrer Reiter und richtete meinen Helm noch einmal aus, in der Hoffnung, dass keiner von den anwesenden Zuschauern auch nur im Entferntesten auf die Idee käme, dass sich unter diesem Outfit die amtierende Lichterprinzessin befand, die sich zu diesem Zeitpunkt eigentlich auf der hochherrschaftlichen Tribüne in Gesellschaft der städtischen Prominenz befinden sollte. Zu meiner Sicherheit hatte ich mich zusätzlich für eine der Schutzbrillen entschieden und fühlte mich dadurch einigermaßen inkognito.
Gleich darauf durchfuhr mich jedoch noch einmal ein heißer Schrecken:
Was, wenn David bereits nach mir suchte und mir gefolgt war? Schließlich war er mein Bodyguard!
Vorsichtig schielte ich hinüber zur Tribüne und atmete erleichtert auf. Er saß nach wie vor dort, war auf meinen Platz gerückt und unterhielt sich mit dem Bürgermeister. Hoffentlich diskutierten sie nicht über meinen Verbleib, denn die Sache hier würde noch eine Weile dauern, obwohl ich in Kürze bereits an den Start gehen sollte.
Dann war unsere Staffel an der Reihe.
Jessi ging als erste an den Start. Souverän und zügig meisterte meine Freundin mit ihrem schwarzen Hengst Dragon den Parcour und kam fehlerfrei ins Ziel. Als sie an mir vorbeiritt, hob sie den Daumen und nickte mir zu.
Sekunden später erklang Anikas Name. Mit sanftem Schenkeldruck führte ich mein Pferd an die Linie.
Das Startsignal ertönte und Saphira preschte los. Weit vorgebeugt feuerte ich sie zusätzlich mit meinen Zurufen an, während wir in gestrecktem Galopp auf das erste Hindernis zusteuerten.
Die Schwierigkeit beim Springreiten besteht darin, ein Pferd an den Sprung so heranzuführen, dass es weder zu nah am Hindernis, noch zu weit davon abspringt. Der Abstand vom Hindernis beim Absprung sollte etwa der Höhe des Hindernisses entsprechen.
Saphira reagierte sekundenschnell auf jedes Zeichen von mir, sie sprang elegant und kraftvoll zugleich, und ich spürte mit jeder Faser meines Körpers, dass wir beide uns in völligem Einklang bewegten.
Erst, als wir wenig später durchs Ziel schossen und ich den Beifall der Zuschauer hörte, wurde mir bewusst, dass ich mein Pferd soeben ohne Fehler über den Parcour geführt hatte. Stolz und glücklich liebkoste ich die Stute und dirigierte sie zum Stall zurück, wo Jessi bereits wartete.
Ich hatte keine Zeit mehr, auf die verbleibenden beiden Teilnehmer unserer Staffel zu warten. Anika schien sich von ihrer Panikattacke einigermaßen erholt zu haben und sprang schnellstmöglich in ihren Reitanzug, während mir Jessi wieder in mein Kleid half.
Das größte Problem war meine Frisur, die durch den Helm gelitten hatte und völlig ruiniert war.
Aber Jessi wusste sich zu helfen. Mit ein paar Haarnadeln und den Schmuckperlen gelang es ihr in Rekordzeit, die Locken wieder einigermaßen akzeptabel zusammenzustecken. Dann wurde noch das Makeup notdürftig aufgefrischt, so dass ich, noch bevor unsere Staffel fertig war, hoheitsvoll und dank meines heimlichen Sieges voller Stolz zur Tribüne zurückkehrte.
David saß da, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und maß mich mit einem Blick, der alles Mögliche bedeuten konnte. Ich schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln und schob mich wortlos an ihm vorbei auf meinen Platz.
„Alles in Ordnung?“, fragte mich der Bürgermeister freundlich. Ich nickte und fühlte mich genötigt, eine halbwegs plausible Erklärung für mein Verschwinden abzuliefern.
„Ich war früher selbst Mitglied im Reitverein, und deshalb habe ich vor dem entscheidenden Durchgang einfach nochmal reingeschaut und den Mädels Glück gewünscht.“
„Das ist wirklich nett von Ihnen, Caitlin“, erwiderte das Stadtoberhaupt anerkennend und fügte sogleich geschäftstüchtig hinzu: „Sie hätten das natürlich auch öffentlich übers Mikrofon tun können.“
„Oh… nein, soviel Aufwand ist wirklich nicht nötig“, beeilte ich mich zu sagen. „Meine Freundinnen wollten viel lieber persönlich umarmt werden.“
Während sich der Bürgermeister wieder auf das Springreiten konzentrierte, beugte sich David diskret zu mir herüber.
„Habt ihr euch bei dieser Umarmung im Heu gewälzt?“
Ich sah ihn irritiert an.
„Was?“
Statt einer Antwort griff er in mein Haar und brachte einen Strohhalm zum Vorschein.
„Oh…“ Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. „Das… na ja… ich war nochmal bei den Pferden.“
Er grinste.
„Die Viecher müssen dich ja total gern haben.“
Sein amüsierter Blick verunsicherte mich.
„Wie kommst du darauf?“
„Sieht aus, als hätten sie versucht, deine Frisur zu fressen.“
In diesem Moment brandete erneut Beifall für die Teilnehmer des Turniers auf.
Ich lehnte mich mit dem vagen Gefühl, durchschaut worden zu sein, zurück und konzentrierte mich auf das Geschehen auf dem Reitplatz.
Das heißt, ich gab vor, mich zu konzentrieren, doch in Gedanken durchlebte ich noch einmal die letzten Minuten mit Saphira. Die Erinnerung an dieses einmalige, wunderbare Hochgefühl, auf dem Rücken des Pferdes sekundenlang wie schwerelos über die Hindernisse zu fliegen, zauberte mir nachträglich ein Lächeln aufs Gesicht. Ich hatte sie in der Vergangenheit schon so oft erlebt, diese unschlagbare Einheit von Mensch und Tier, kaum zu übertreffen an Kraft und Eleganz und nur gemeinsam in der Lage, derartige sportliche Höchstleistungen zu vollbringen, und doch war es jedes Mal wieder ein unvergleichliches Erlebnis.
Wie hatte ich es nur die ganze Zeit ohne meine Pferde ausgehalten?
„Wieso bist du nicht mehr dabei?“, fragte David leise, als hätte er meine Gedanken erraten.
„Ich hatte mit meiner Ausbildung zu tun“, antwortete ich wahrheitsgetreu. „Die Schule, das Krankenhaus, da blieb kaum noch Freizeit.“
Als er nichts erwiderte, drehte ich mich zu ihm um und suchte in seinen Augen nach einer Art von Bestätigung für das eben Gesagte.
„Ich hasse halbherzige Sachen. Entweder mache ich etwas mit ganzem Einsatz, oder ich lasse es.“
„Genau das mag ich so an dir.“
„Du kennst mich doch noch gar nicht lange genug, um das zu wissen.“
Er sah mich mit diesem unergründlichen Blick an, der mir jedes Mal, wenn er mich damit musterte, ein wohliges Kribbeln auf der Haut bescherte.
„Oh doch, Süße, das wusste ich vom ersten Augenblick an.“
„Und findest du, dass das ein Fehler ist?“
„Etwas ganz zu wollen oder die Finger davon zu lassen? Nein, das ist kein Fehler, das ist ein Zeichen von Charakterstärke.“
„Danke.“
„Keine Ursache, Prinzessin.“
Ganz oder gar nicht…
Irgendetwas tief in meinem Inneren sagte mir in diesem Augenblick, dass David Brandt zu den „Dingen“ in meinem Leben gehörte, die ich auf jeden Fall ganz wollte.