Das sonntägliche Mittagessen bei meinen Eltern war ein Ritual, dem ich nur allzu gern nachkam. Nach meinen anfänglichen mehr oder weniger glücklichen Kochversuchen in den eigenen vier Wänden wusste ich gutes, mit Liebe zubereitetes Essen recht schnell wieder zu schätzen. Außerdem genoss ich es, wenn wir zusammensaßen und in aller Ruhe die Ereignisse der vergangenen Woche Revue passieren ließen. Das waren die kostbaren Augenblicke, die mich an früher erinnerten, als ich noch zu Hause wohnte.
Meinen Dad sah ich ohnehin selten. Sein Beruf als Bauingenieur in einem großen Konzern nahm ihn von jeher voll in Anspruch, so dass meist nur an den Wochenenden Zeit fürs Familienleben war.
Trotzdem liebe ich ihn über alles. Seit ich denken kann, war er in unserer Familie immer der „Fels in der Brandung“, den so schnell nichts erschüttern konnte. Meine Mom ist das quirlige Gegenteil zu ihrem Ehemann, und da sich Gegensätze ja bekanntlich unwiderstehlich anziehen, sind die beiden auch nach vielen gemeinsamen Jahren noch immer unzertrennlich.
Meine Großeltern väterlicherseits hatte ich leider nie kennengelernt, sie starben noch vor meiner Geburt bei einem Autounfall. Dafür hat meine Mom eine beträchtliche Verwandtschaft hinter sich, allerdings leben alle drüben jenseits des „Großen Teiches“.
Ich weiß nicht, wie oft ich mir schon die Hochzeitsfotos meiner Eltern angesehen habe, wie sie vor über zwanzig Jahren einander im wunderschönen Sonnenstaat Kalifornien das Ja-Wort gaben und dann Arm in Arm das prächtige Rathaus in Santa Barbara verließen. Sie sahen beide so glücklich aus, und das sind sie auch heute noch. Granny, meine Großmutter, hält auf zahlreichen Fotos stolz einen pausbäckigen Säugling im Arm – mich.
Mom sah wunderschön aus in ihrem weißen Hochzeitskleid. Ich glaube, sie hat es nie bereut, meinem Vater nach Deutschland gefolgt zu sein. Aber manchmal packt sie die Sehnsucht, und dann ist es höchste Zeit für einen Urlaub im Westen.
„Hat Simone dir schon einen Terminplan für die nächsten Auftritte gegeben?“, unterbrach Mom meine Gedanken.
„Ich habe in knapp zwei Wochen einen Auftritt bei dem großen Reit- und Springturnier, bei dem auch Jessi mitmacht. Der Bürgermeister ist Schirmherr über diese Veranstaltung, und ich soll ihn begleiten“, erklärte ich. „Alles andere steht noch nicht fest.“
„Dann kannst du diesen Sommer vielleicht gar nicht bei Granny verbringen?“, mutmaßte Dad, während er sich das Dessert schmecken ließ.
„Doch, ich fliege auf jeden Fall rüber“, erklärte ich überzeugt. „Wenn ich die Prüfungen hinter mir habe, brauche ich garantiert eine Auszeit.“
„Richtig“, pflichtete Dad mir bei und wandte sich an Mom. „Was meinst du, Anny, brauchen wir auch eine Auszeit?“
„Unbedingt!“
Er lachte und zwinkerte uns zu.
„Dann werde ich mal noch ein wenig arbeiten, damit mein Boss das mit der Auszeit genauso sieht!“
„Wer war eigentlich dieser gutaussehende junge Mann, den ich die ganze Zeit über an deiner Seite gesehen habe?“, fragte Mom ganz beiläufig, während wir das Geschirr abräumten.
Uuuh... vor Fragen dieser Art hatte ich mich schon die ganze Zeit gefürchtet.
„Wer? Ach der… ja, das ist… der… ist Praktikant bei der Stadtverwaltung, das heißt, eigentlich beim… Ordnungsamt. Er achtet darauf, dass…“
„… alles in Ordnung ist“, vollendete Mom meinen völlig zerstotterten Satz und lächelte. „Hab` schon verstanden.“
Mit Sicherheit hatte sie das. Ich kannte meine Mutter und sie kannte mich. Wir konnten Geheimnisse noch nie lange voreinander verbergen. Sie hatte bestimmt etwas bemerkt und ich wollte sie auf keinen Fall anlügen. Ich mochte nur momentan weder über David reden, noch an ihn erinnert werden.
Doch bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, klingelte es an der Haustür.
„Hi, Miss Jennings!“, hörte ich Jessis wohlbekannte Stimme. Seitdem ich sie kannte, gebrauchte sie diese liebevolle Anrede für meine Mom. „Wissen Sie zufällig, wo ich Caiti finden kann?“
Eine Minute später stand sie bereits mitten in der Küche. „Also hier steckst du! Ich muss unbedingt etwas mit dir besprechen. Hast du Zeit?“
„Ja klar, ich wollte sowieso wieder los.“ Ich warf meiner Mom einen entschuldigenden Blick zu. „Wir reden später, okay?“
„Na klar, Sweetie“, erwiderte sie mit einem Augenzwinkern und umarmte mich zum Abschied. „Pass auf dich auf.“
Ich schaute noch schnell in die Wohnstube, wo mein Vater bereits über irgendwelchen Lageplänen grübelte.
„Mach`s gut, Baulöwe, und arbeite nicht so viel! Heute ist Sonntag“, mahnte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Er grinste.
„Wem sagst du das, Prinzessin.“
Prinzessin? Nein, heute nicht… Bloß nicht!
„Was ist los?“, fragte ich Jessi, als wir unten in meinen Polo stiegen.
Sie sah mich mit ihrem typischen "Wie-kannst-du-nur-fragen"-Blick an.
„Was soll denn los sein? Ich sterbe vor Neugier, ich will Informationen!“
Ich startete den Wagen und fuhr los.
„Eiscafé oder meine Bude?“
„Eiscafé“, entschied sie spontan und musterte mich erneut erwartungsvoll von der Seite. „Nun erzähl schon, ich platze sonst. Das letzte Mal habe ich dich gestern gesehen, als dieser Betrunkene Ärger gemacht hat. Danach bist du Hand in Hand mit Damon davongeschwebt.“
Ich vollführte eine Vollbremsung vor der roten Ampel.
„Mit wem?“
„Damon, du weißt schon, der sexy Vampir aus dieser TV-Serie!“
„Er heißt David, und er ist garantiert kein Vampir, sondern…“
„Dein Bodyguard“, ergänzte Jessi. „Auch nicht schlecht. Da gab es mal einen Film…“
„Ich kenne den Film, und glaub mir, der hat rein gar nichts mit David zu tun.“ fiel ich ihr ins Wort und verhinderte damit eine ausführliche Zusammenfassung des Bestsellers.
Jessi war neben ihrer Liebe zu Pferden und ihrer Leidenschaft für Springreiten ein absoluter TV-Freak. Wenn es ihre durch das Training knapp bemessene Freizeit zuließ, ging sie für ihr Leben gern ins Kino oder schaute sich irgendwelche Serien im Fernsehen an. Ihr Freund Alex teilte diese Film-Leidenschaft. Allerdings vermochte ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal genau zu sagen, ob er überhaupt noch ihr Freund war, denn die beiden führten eine chaotische On-Off-Beziehung, basierend auf einer Art „Hassliebe“, die mir von jeher unverständlich war. Eben hatten sie sich getrennt und geschworen, nie wieder auch nur ein einziges Wort miteinander zu wechseln, und bereits nach wenigen Tagen hingen sie erneut zusammen wie die Kletten.
Jessi wies auf die Ampel, die inzwischen umgeschaltet hatte.
„Du kannst jetzt fahren. Grüner wird`s nicht!“
Im Eiscafé griff sie das leidige Thema von vorhin sofort wieder auf.
„Also los, was ist passiert, nachdem du gestern mit David verschwunden bist?“
Ich stocherte lustlos in meinem Eisbecher herum.
„Ich muss dich enttäuschen, es ist rein gar nichts passiert.“
„Bist du verrückt?“, rief sie so laut, dass sich mehrere Gäste nach uns umdrehten. Schnell senkte sie die Stimme. „Caiti, der Typ ist so heiß, dass man vom Hingucken schon Hitzewellen bekommt! Und du willst mir ernsthaft erzählen, dass nichts zwischen euch gelaufen ist?“
„Er war im Dienst“, erwiderte ich trocken.
Meine beste Freundin sah mich an, als hätte ich eben chinesisch mit ihr geredet.
„Häää?“
„Ach Jessi...“ Ich atmete tief durch und schob nun endgültig meinen Eisbecher weg. „Ich habe mich gestern vor David total zum Idioten gemacht.“
Dann erzählte ich ihr, wie der Rest des gestrigen Abends wirklich verlaufen war.
Jessi hörte schweigend zu. Genau das ist es, was ich so an ihr schätze. Sie kann laut, chaotisch und unbequem sein, aber wenn es darauf ankommt, ist sie eine echte Freundin, die zuhört, Geheimnisse für sich behält und in jeder Situation ehrlich ihre Meinung sagt. Was sie dann auch prompt tat.
„An deiner Stelle würde ich mir überhaupt keine Gedanken machen“, meinte sie überzeugt. „Der Typ mag dich, soviel ist schon mal klar.“
„Und was macht dich da so verdammt sicher?“, fragte ich zerknirscht.
„Na überleg mal.“ Sie angelte sich meinen halbvollen Eisbecher und futterte munter weiter, während sie zwischendurch ihre logische Erklärung abgab: „Wenn er nichts für dich übrig hätte, dann wäre er gestern Abend an Ort und Stelle über dich hergefallen und hätte dich geküsst, einfach, weil die Gelegenheit günstig war. Ihm wäre völlig egal gewesen, ob er im Dienst ist oder nicht. Irgendwer hätte euch beim Knutschen beobachtet und wupps… Sofort hätten sie ihn als deinen Personenschutz abgezogen. Weil er aber total in dich verschossen ist, muss er sich an die Dienstvorschriften halten, um so lange wie möglich in deiner Nähe und für deinen Schutz verantwortlich sein zu können. Er will auf keinen Fall weg von dir.“
„Wer sollte ihn denn wegen einem Kuss versetzen?“, fragte ich mehr als skeptisch. Jessi verdrehte die Augen.
„Mann, Caiti, du schnallst es anscheinend immer noch nicht! Sexuelle Beziehung zu einer Schutzbefohlenen, sagt dir das was?“
Ich musste lachen.
„Ja, allerdings. Du guckst zu viele Filme!“
Das Treffen mit meiner besten Freundin hatte mich zwar wieder einigermaßen mit dem Rest der Welt versöhnt, aber Davids Zurückweisung und die persönliche Blamage, die damit einherging, wogen trotzdem noch schwer.
Jessis romantische Prophezeiung, mein Bodyguard würde möglicherweise schon reumütig vor meiner Tür schmachten, erfüllte sich ebenfalls nicht. Das hatte ich, ehrlich gesagt, auch nicht erwartet, höchstens insgeheim gehofft, aber zu so etwas war er nun wirklich nicht der Typ.
Um mich weiter abzulenken, beschloss ich, zu Hause noch ein wenig im Internet zu surfen. Ich öffnete meinen Account, den ich in der letzten Zeit sträflich vernachlässigt hatte, und staunte erst einmal nicht schlecht: Über fünfzig Freunde-Anfragen sprangen mir entgegen, die meisten davon waren unmittelbar nach der Wahl und dem gestrigen Fest eingegangen.
Tief beeindruckt von so viel plötzlicher Beliebtheit sah ich mir die Namen der „neuen Freunde" etwas genauer an. Einige davon waren mir gänzlich unbekannt, andere konnte ich zwar zuordnen, aber die hatten mich vor der Wahl zur Lichterprinzessin auf der Straße nicht einmal gegrüßt.
So ist das leider mit den lieben Mitmenschen: Bist du „niemand“, wollen sie nichts mit dir zu tun haben, aber kaum hast du einen Adelstitel, und sei er auch nur geborgt, bemühen sich mit einem Mal alle um deine Freundschaft.
Ich wollte durchweg schon auf „Ignorieren“ klicken, als ich den letzten Namen ganz unten in der Liste der „Antragsteller“ las. Eigentlich las ich ihn nicht, er sprang mich förmlich an: David Brandt.
Ohne mir dessen bewusst zu sein, umkreiste ich immer und immer wieder mit dem Cursor seinen Namenszug und starrte auf die Buchstaben, bis sie vor meinen Augen zu tanzen begannen.
David wollte Verbindung mit mir aufnehmen?
Meine Herzfrequenz stieg bedrohlich, doch die Sache von gestern saß noch zu tief.
„Ignorieren!“, schrie mein Verstand.
„Freundschaftsangebot annehmen!“, hielt mein Gefühl mit überraschender Willensstärke dagegen.
„Lass ihn wenigstens noch etwas zappeln“, gab mein Verstand ein bisschen nach.
„Wozu soll denn das gut sein?“, beschwerte sich mein Gefühl beleidigt.
„Denk an deinen Stolz!“, wies mich mein Verstand zurecht.
„Sch… auf deinen Stolz!“, kreischte mein Gefühl mit derart ungezügelter Ungeduld, dass mein Finger von ganz allein auf die Maustaste drückte.
„Freundschaftsangebot angenommen!“
Ich wartete atemlos, doch nichts geschah.
David war nicht online und meine Laune sank erneut auf den Gefrierpunkt.
Nach einer chaotischen Spätschicht in der Notaufnahme, in der mindestens so viel Blut geflossen war, dass man die örtliche Blutbank locker damit hätte auffüllen können, kehrte ich am nächsten Tag geschafft und ausgehungert in mein kleines Reich zurück. Lustlos betrat ich die Küche. Nach einem Blick in den Kühlschrank verbesserte sich meine Laune schlagartig. Meine Mom war hier gewesen und hatte mir ein reichhaltiges, absolut lecker aussehendes Mittagessen hinterlassen. Mit einem Seufzer der Erleichterung darüber, dass ich mir nicht selbst etwas zubereiten musste, schob ich den Teller in die Mikrowelle und suchte nebenbei in der Zeitung, die sie auf den Küchen-Tresen gelegt hatte, den Bericht über das "Fest der tausend Lichter".
Überraschenderweise nahm dieser ganze zwei Seiten ein. Ein großes Bild zeigte mich mit dem Mikrofon auf der Bühne, ein anderes beim Fotoshooting inmitten der unzähligen Lichter im Park. Das Bild ganz unten gefiel mir besonders gut:
Ich hockte auf der Rathaustreppe und zündete die Laterne der kleinen Hannah an, während sie mich mit ihren großen, staunenden Kinderaugen ansah.
In dem Artikel stand unter anderem, dass das Fest ein voller Erfolg gewesen war, und dass die Lichterprinzessin ihre Rolle sehr gut gespielt und dabei die Herzen der Leute im Sturm erobert hatte.
„Na, was willst du noch mehr?“, fragte mein Verstand lauernd.
„Frag nicht so dumm! Das weißt du ganz genau“, hielt mein Gefühl hartnäckig dagegen.
Ich für meinen Teil versuchte sowohl Gefühl, als auch Verstand zu ignorieren und verstaute die Zeitung sorgfältig in dem Schubfach mit den Bildern vom Fotoshooting und den Zeitungsartikeln über die Anprobe und
die Prinzessinnenwahl.
Kaum war ich mit dem Essen fertig, schaltete ich den Computer ein. Als ich jedoch voller Erwartung meine Seite öffnete, machte sich erneut Enttäuschung breit. Trotz des angenommenen Freundschaftsangebotes hatte mir David keine Nachricht hinterlassen.
Ich wollte mich bereits wieder abwenden, als plötzlich das Kontaktfenster blinkte.
david: hallo prinzessin! habe eben gesehen, dass du online bist
Ups – oh Gott, ich würde noch an Herzrhythmus-Störungen verenden wegen dem Kerl!
Ein Klick, und wir waren virtuell miteinander verbunden…
caitlin: wie hast du mich gefunden?
Meine Güte, was für eine absolut blöde Frage, Caiti!
david: ich habe deinen Namen eingegeben
Na toll, ich konnte ihn förmlich grinsen sehen.
caitlin: was willst du?
david: ich möchte mich entschuldigen
caitlin: wofür?
david: das weißt du genau
caitlin: nicht wirklich
david: du warst neulich abend sauer auf mich
Jaaaa genau, stinksauer, um ehrlich zu sein...
caitlin: war ich nicht
david: das war mehr als offensichtlich, und es tut mir leid
caitlin: okay, wenn du meinst
david: ich möchte es wieder gutmachen
Oh ja... ja!
caitlin: nicht nötig
david: oh doch. ich würde dich gern sehen
Ich dich auch...
caitlin: dann schlag` die tageszeitung auf
david: die bilder hängen bereits über meinem bett
caitlin: sehr witzig! du kennst meinen terminkalender besser als ich. mein nächster auftritt ist in zwei wochen
david: kein auftritt. ich lade dich ein. zum essen, ganz privat
caitlin: ein date?
david: du hast es erfasst, prinzessin
Ein date mit david? ja, ja, jaaaa...
caitlin: nein
david: nein?
caitlin: ich habe auch meine prinzipien, musst du wissen
david: bin gespannt…
caitlin: solange ich prinzessin bin, und du mein bodyguard, sollten wir uns nicht privat treffen
david: okay… dann sehen wir uns nächstes jahr im mai, nach deiner amtsübergabe
caitlin: du findest das lustig?
david: ja, klar. ich hole dich morgen abend um 20 uhr vor deiner wohnung ab
caitlin: nein, das kannst …
DER TEILNEHMER HAT SICH ABGEMELDET
Na ganz toll, dieser Mistkerl!
Ich würde mich natürlich auf gar keinen Fall mit ihm treffen!
Nicht in diesem Leben!
Der konnte von mir aus vor meiner Tür warten, bis er schwarz würde…
Was zum Geier sollte ich morgen Abend nur anziehen?