„Du hast… Was?“
Ich starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen erschrocken an.
Scheinbar gleichgültig hob er die Schultern.
„Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Aber ich wollte dir das mit der Strafversetzung unbedingt selbst sagen, bevor es irgendjemand anders tut.“
Ich setzte mich auf und schluckte.
„Ist schon okay. Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast.“
Er musterte mich herausfordernd.
„Und jetzt erwartest du eine Erklärung, habe ich Recht?“
„Na ja… nein…doch... irgendwie schon“, stotterte ich verwirrt. „Sicher wolltest du… dich selber oder jemand anderen verteidigen!“
„Nein, ganz so war es nicht.“
„Aber du hättest doch niemals…“
Er sah mich mit einem Blick an, der mich augenblicklich verstummen ließ.
„Caitlin, ich will dir nichts vormachen. Wenn mein Partner mich nicht zurückgehalten hätte, dann würde ich vermutlich jetzt im Gefängnis sitzen.“
Das passte nicht zu dem David, den ich kennengelernt hatte, überhaupt nicht.
Ich atmete tief durch und zwang mich zur Ruhe.
„Bitte erzähl mir, was passiert ist“, sagte ich leise, aber eindringlich. „Schließlich hast du davon angefangen, und jetzt will ich auch den Rest hören.“
Mit einem mühsam unterdrückten Fluch ließ er sich in die Kissen zurückfallen.
„Ich hätte bestimmt nicht davon angefangen, schon gar nicht an einem Morgen wie diesem. Aber es war ja nur eine Frage der Zeit, und du hättest mich wieder wie neulich Abend so herrlich zweideutig gefragt, warum ich hier bin. Und das alles, weil gewisse Leute einfach nicht den Mund halten können.“
Ich ahnte, worauf er hinauswollte. Irgendwie hatte er wohl von meinem Gespräch mit Simone erfahren. Etwas schuldbewusst hob ich die Schultern.
„Warum machst du aus einer Strafversetzung so ein Geheimnis?“
„Das tue ich doch gar nicht. Ich hatte nur noch keine passende Gelegenheit, um dir davon zu erzählen. Sollte ich etwa beim ersten Date sagen: Hey Süße, ich mag dich, aber Vorsicht!- man hat mich hierher strafversetzt, weil ich jemanden windelweich geprügelt habe, der es - ganz nebenbei - wirklich verdient hatte?“
Resigniert schüttelte ich den Kopf. So kamen wir irgendwie nicht weiter.
„Hör zu, David, ich werde dich nicht verurteilen, was auch immer der Grund für deine Versetzung war. Alles, was man tut, hat seine Gründe. Ich kann mir kein Urteil bilden, solange ich deine nicht kenne.“
Das schien ihm einleuchtend.
„Okay“, lenkte er ein und lächelte bitter. „Leider gibt es manchmal Situationen im Leben, da kennt man sich plötzlich selbst nicht mehr. Also, lange Rede, kurzer Sinn: Mein Partner und ich haben einen Drogendealer gestellt, der einen sehr guten Freund von mir auf dem Gewissen hatte. Der Typ wollte abhauen und ich habe ihn mir geschnappt. Er hat sich der Verhaftung widersetzt und mir eine verpasst. Das habe ich persönlich genommen, sehr persönlich. Als Polizist darf ich mich zwar wehren, wenn ich angegriffen werde, und mein Partner hat auch vor unseren Vorgesetzten versucht, die Angelegenheit herunterzuspielen, aber die aufgeschlagenen Knöchel an meinen Händen und der Zustand von dem Dreckskerl zeigten ziemlich deutlich, wer von uns beiden mehr ausgeteilt hat. Also haben sie mich erst einmal aus dem Verkehr gezogen und hübsch weit weg versetzt, vornehmlich in den Personenschutz, wo ich aktiv an meiner Selbstbeherrschung arbeiten soll. Nun weißt du auch, dass ich nicht nur hier aufgetaucht bin, weil ich Sehnsucht nach meinen Großeltern verspürte. Sie leben zwar in der Nähe, das war nicht gelogen, aber sie haben nichts damit zu tun, dass ich meinen Arbeitsplatz wechseln musste.“ Er sah mich mit dem Anflug eines Lächelns abwartend an. „So, das war`s. Bist du jetzt enttäuscht, Prinzessin?“
„Was ist mit deinem Freund?“, fragte ich unbeirrt.
Das Lächeln verschwand. Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich, bevor er leise erwiderte:
„Den gibt es nicht mehr.“
Ich schluckte.
„David, das tut mir leid…“
„Lass gut sein.“
Eine Weile lag er stumm da und starrte gedankenverloren an die Zimmerdecke, während ich betreten schwieg. Was sollte ich in diesem Moment auch anderes tun? Von der Last seiner Vergangenheit vermochte ich ihn nicht zu befreien, das musste er selbst schaffen. Aber ich würde ihm zu gern dabei helfen, diese Vergangenheit zu bewältigen. Ich würde für ihn da sein, wenn er es zuließ.
Als hätte er meine Gedanken gespürt, suchte er meinen Blick, richtete sich wieder auf und nahm mein Gesicht zärtlich zwischen seine Hände.
„Das ist alles Schnee von gestern. Ich bin froh, dass ich es dir erzählt habe. Aber jetzt zählt nur noch der Augenblick. Ich bin hier, bei dir. Besser kann ein Sonntagmorgen gar nicht beginnen.“
Jetzt war ich es, die lächelte.
„Ja, das ist wahr. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich da bin, wenn du mich brauchst. Und nun lass uns über angenehmere Dinge reden.“
„Okay.“ Er küsste mich liebevoll auf die Wange und setzte dann sein Grübchen-Grinsen auf. „Gibt es in deinem Palast eigentlich schon fließend Wasser?“
„Ja, stell dir vor, das gibt es. Warmes und kaltes, ganz nach Belieben.“
„Wow, Hoheit sind ja supermodern eingerichtet! Dann lass uns duschen.“
Ich stand auf, öffnete den Schrank und zog zwei flauschige Duschtücher hervor. Während ich ihm eines davon zuwarf, wickelte ich mich in das andere und wies ihm den Weg zum Bad.
Als er mich kurz darauf in der engen Duschkabine dicht an sich zog, und ich meine Arme um seinen Hals schlang, während das angenehm warme Wasser unsere Haut verwöhnte, hoffte ich, dieses grenzenlose Glücksgefühl von heute Morgen würde zurückkehren, doch ich wartete vergebens.
Etwas tief in meinem Inneren sagte mir, dass das, was David mir erzählt hatte, noch nicht die ganze Wahrheit war.
Trotzdem wollte ich mir das Beisammensein mit ihm nicht verderben lassen.
Er hatte in seiner Vergangenheit einen Fehler gemacht, okay, aber im Grunde konnten wir beide dankbar dafür sein, dass er für dieses Vergehen hierher strafversetzt worden war, sonst wären wir einander wahrscheinlich nie im Leben begegnet. Und ich für meinen Teil fand es geradezu fantastisch, David Brandt begegnet zu sein. Was ihn betraf, so war ich mir fast sicher, dass es ihm ähnlich erging. Er schien sich in meiner Nähe jedenfalls nicht unwohl zu fühlen.
Also beschloss ich, den Augenblick und alle weiteren Momente mit ihm zu genießen, solange es möglich war und zu versuchen, einfach ganz relaxt abzuwarten, was die Zukunft noch bringen würde, ohne mir zu viele Gedanken um alles zu machen. Ob mir das allerdings so einfach gelingen würde, stand auf einem anderen Blatt, denn wie David bereits treffend bemerkt hatte, war ich ein Mensch, der gern auf „Nummer Sicher“ ging. Daran würde ich arbeiten müssen, wenn ich mich auf mein spontanes Vorhaben einließ, ihm einfach blind zu vertrauen, und die Zeit mit ihm bedingungslos zu genießen.
„Was machen wir mit dem Rest des Tages?“, holte mich David aus meinen Gedanken, als wir gemeinsam in meiner kleinen Küche frühstückten. „Es ist schönes Wetter, wie wär`s mit einem Ausflug ins Grüne?“
„Hast du den ganzen Tag Zeit?“, fragte ich erfreut.
Er hob die Hände und schmunzelte.
„Wenn du als Hoheit keine Termine hast, dann habe ich als dein Aufpasser auch keine.“
„Super!“, rief ich begeistert, doch bereits Sekunden später erhielt meine ehrliche Vorfreude auf einen ganzen Sonntag mit David einen Dämpfer. „So`n Mist!“
„Was ist los? Hast du doch noch einen Termin?“
„Allerdings“, seufzte ich frustriert. „Einen Termin mit meinen Schulbüchern. Morgen habe ich meine mündliche Abschlussprüfung. Jessi wollte mich heute in verschiedenen Dingen nochmal abfragen.“
David verzog enttäuscht das Gesicht, nickte jedoch.
„Okay, ich sehe ein, Prüfung geht vor.“
„Ich bin bestimmt kein Streber“, betonte ich, „Aber „Gut“ bis „Sehr gut“ als Gesamtnote auf dem Zeugnis wäre wünschenswert, wenn ich mich für ein Studium bewerben will.“
David sah mich erstaunt an. Anscheinend hatte er die Entschlossenheit in meiner Stimme bemerkt.
„Willst du das denn?“
Ich nickte.
„Ja, inzwischen bin ich mir ganz sicher.“
„Kinderärztin?“
Ich zog nachdenklich die Augenbrauen hoch.
„Da bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher. Erstmal Allgemeinmedizin, alles andere findet sich.“
Ein breites Grinsen zog über Davids Gesicht.
„Ich bin ein wahres Naturtalent im Abfragen. Ruf Jessi an und frag sie, ob sie einverstanden ist, wenn ich das an ihrer Stelle übernehme.“
Irritiert sah ich ihn an.
„Das würdest du tun?“
„Na, klar. Wie nennt sie mich gleich nochmal?“
Ich überlegte kurz.
„Damon, glaube ich.“
„Okay, dann ruf sie an und sag ihr, du hast ein Date mit Damon. Er will mit dir die Anatomie durchgehen, theoretisch und bei dieser Gelegenheit vielleicht auch ein bisschen praktisch.“
Noch heute höre ich in Gedanken Jessis fröhliches Lachen, als ich sie anrief und Davids Vorschlag wortgenau wiedergab. Natürlich war sie einverstanden und wünschte mir einen wunderschönen und produktiven Tag mit „Damon“, vor allem aber viel Erfolg in der praktischen Anatomie.
Jessi war und ist eben eine echte Freundin, die immer ganz genau weiß, worauf es im Leben ankommt.
Ich meldete mich zum Mittagessen meiner Eltern mit einer kunstvollen Ausrede ab und fuhr mit David hinaus ins Grüne. Wir suchten uns ein ruhiges Plätzchen und arbeiteten ernsthaft an meiner bevorstehenden Abschlussprüfung.
David war sehr streng. Ich musste die Fragen, die er sich anhand meiner schriftlichen Aufzeichnungen ausdachte, exakt beantworten. Zehn richtige Antworten bedeuteten zehn Punkte, und für zehn Punkte gab es einen Kuss…
Ich schwöre, ich habe niemals derart begeistert für eine Prüfung gelernt wie an diesem Nachmittag!
Das wiederum hatte zur Folge, dass ich die Prüfung am nächsten Tag hervorragend abschloss, denn ich war in Höchstform und beantwortete die nach meinen themenbezogenen Ausführungen anfallenden Fragen allesamt richtig.
„Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie die heutige Abschlussprüfung mit einem „Sehr gut“ bestanden haben. Aus der Gesamtheit der von Ihnen absolvierten schriftlichen, praktischen und mündlichen Prüfungen ergibt sich laut unserer Unterlagen ein Gesamtpunktestand von zehn Punkten – die zu erreichende Höchstpunktzahl.“
Zehn Punkte?
Die zu erreichende Höchstpunktzahl?
War das zu fassen?
Ich dachte an meine Prüfungsvorbereitungen mit David, sah den grauhaarigen Rektor vor mir und befürchtete unwillkürlich, dass der mich jetzt auch küssen würde.
Ich konnte mich nicht mehr halten und fing vor der gesamten Prüfungskommission laut an zu lachen.
Die Prüfer haben das damals wohl als Freudenausbruch meinerseits gewertet, doch ich wusste es besser.