Dann war endlich der Tag gekommen, an dem das "Fest der tausend Lichter" stattfinden sollte. Heute Abend würde ich also den Einwohnern meiner Stadt als Lichterprinzessin vorgestellt werden und mein zwölfmonatiges Ehrenamt offiziell antreten.
Der Vormittag stand für mich ganz im Zeichen der Schönheit.
Wie schon vorab erwähnt bin ich kein sonderlich eitler Mensch. Als ich mich jedoch nach dem Besuch im Kosmetiksalon im Spiegel sah, war ich trotz aller Vorbehalte sehr angenehm überrascht. Dafür, dass sich insgesamt vier überaus engagierte Mitarbeiter stundenlang an meinem Kopf zu schaffen gemacht hatten, konnte sich das Ergebnis durchaus sehen lassen. Selbst meine Mum zeigte sich mit der Leistung der Konkurrenz zufrieden.
Meine schulterlangen Haare waren ein klein wenig aufgehellt worden, die eingefärbten Strähnchen leuchteten darin wie flüssiges Gold. Unter den geübten Händen der Stylisten war eine sehr elegante Hochsteckfrisur entstanden, aus der sich, gewollt zufällig, ein paar Locken gelöst hatten, um das Gesamtbild etwas aufzulockern und zugleich perfekt abzurunden. Einige an unsichtbaren Haarnadeln befestigte Perlen vervollkommneten die Frisur. Die Perlen sahen nicht nur super aus, ich hatte darüber hinaus auch noch die dazu passenden Ohrstecker zu Hause in meinem Schmuck-Reservoir.
Das Makeup war genau, wie ich es mochte: nicht zu glamourös, aber dennoch eines großen Auftritts würdig.
Blieb nur zu hoffen, dass alles so gut halten würde, wie das Wetter, denn die Sonne strahlte schon den ganzen Tag, als wolle sie mit ihrem Licht und ihrer Wärme ebenfalls ihren Beitrag zum bevorstehenden Fest leisten.
Pünktlich zu der mit Simone verabredeten Zeit war ich schließlich bereit für meinen ersten großen Auftritt. Erwartungsvoll hielt ich nach meinem „Taxi“ Ausschau. Ich brauchte nicht lange zu warten und fühlte mich wie eine wahre Märchenprinzessin, als vor meinem Haus eine prächtig geschmückte, weiße Kutsche hielt. Gezogen wurde sie von zwei schlanken, sehr gepflegt aussehenden Pferden. Der Kutscher trug dem feierlichen Anlass entsprechend Frack und Zylinder. Letzteren lüftete er galant und grüßte damit freundlich vom Kutschbock herunter, als ich aus der Haustür trat.
Mein Herz vollführte einen Salto, denn neben dem Kutscher saß – natürlich in Jeans und schwarzer Lederjacke - David.
Kaum hatte das verdecklose Gefährt angehalten, sprang er lässig von seinem Hochsitz und kam zu mir herüber.
Sein Blick und die wenigen Worte, die er sagte, als er mich ansah, waren Entschädigung genug für die lange Zeit, die ich heute im Kosmetiksalon verbracht hatte:
„Wow, Prinzessin… du siehst fantastisch aus!“ Er beugte sich etwas vor und raunte vertraulich: „Ob es dir gefällt oder nicht, ich werde dich heute keinen Augenblick aus den Augen lassen.“
Natürlich gefiel es mir, aber das hätte ich in diesem Augenblick keinesfalls zugeben.
Er hielt mir seine Hand hin, um mir beim Einsteigen behilflich zu sein, doch ich bat ihn, einen Moment zu warten. Dann ging ich nach vorn zu den Pferden.
„Wie heißen sie?“, fragte ich den Kutscher, während ich den beiden Tieren liebevoll über ihre Blesse strich. Die Pferde schienen meine Zuneigung sofort zu spüren, sie rieben abwechselnd ihre Köpfe an meiner Hand, hoben die Nüstern und schnaubten zufrieden.
„Das sind Apollo und Luis“, erwiderte ihr Besitzer und nickte mir wohlwollend zu. „Die beiden sind sehr zuverlässig.“
Pferde sind mir nicht fremd, meine Großeltern besitzen eine recht ansehnliche Farm in den Bergen von Santa Monica, und ich saß schon sicher im Sattel, seit ich mich zurückerinnern kann. Deshalb bedauerte ich es mitunter wirklich sehr, nicht mehr als aktives Mitglied im Reitverein tätig zu sein. Allerdings musste man mit so knapp bemessener Freizeit eben Prioritäten setzen.
Reitverein hin oder her, in solch einer prächtigen Kutsche war ich bisher noch nie gefahren.
David hielt mir mit einer übertrieben galanten Bewegung die Tür auf und half mir hinein. Zu meinem Leidwesen nahm er selbst danach wieder vorn neben dem Kutscher Platz. Aber schon allein den Gedanken, ihn in meiner Nähe zu wissen, empfand ich als überaus angenehm.
Dann fuhren wir los, in Richtung Stadtzentrum. Ich genoss es, wie der leichte Fahrtwind mein vor Aufregung heißes Gesicht kühlte und die Hufe der trabenden Pferde auf dem Asphalt widerhallten. Die zahlreichen Leute, die zu Fuß unterwegs waren und schätzungsweise dasselbe Ziel hatten wie wir, sahen sich interessiert nach uns um, und viele von ihnen winkten uns zu. Meine Aufregung legte sich allmählich, und ich winkte fröhlich zurück.
Ich fand, dass David da oben auf dem Kutschbock eine sehr gute Figur abgab. Aber das war ja nichts Neues, der Kerl machte irgendwie überall, wo er auftauchte, eine gute Figur.
Als hätte er meinen Blick gespürt, drehte er sich um und zwinkerte mir zu.
„Alles gut, Prinzessin?“
Ich zwinkerte zurück.
„Alles bestens.“
Vor dem Rathaus hatte sich bereits eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt, denn von hier aus sollte der große Festumzug in Richtung Schlosspark starten. Ich sah Leute aller Altersklassen, Jüngere, Ältere, Jugendliche, Omas und Opas, vor allem aber viele Kinder mit Fackeln und bunten Lampions.
Neugierig wurde unsere Ankunft verfolgt, ich hörte vereinzelte Ausrufe wie "Da kommen sie endlich…“, "Das ist sie, die Lichterprinzessin…“, "Tolles Kleid...", "Prächtige Kutsche…“
Mitglieder einer Schalmeien-Kapelle waren in ihren schicken Uniformen angetreten und begrüßten uns sogleich spontan mit einem lauten Tusch, worauf eine Vielzahl der Leute begeistert Beifall spendete. Verschiedene Vereine hatten sich postiert, einige davon in edlen historischen Gewändern. Ich sah die großen, staunenden Augen der Kinder und fühlte mich für einen Moment wirklich wie ein Star.
Auf der Rathaustreppe wartete Simone. Aufgeregt winkte sie uns schon von weitem zu. Kaum hatte die Kutsche angehalten, kam sie herbeigeeilt.
„Du musst noch einmal kurz mit hinein“, teilte sie mir aufgeregt mit, während David von seinem Hochsitz sprang und mir beim Aussteigen behilflich war. Simone nickte ihm freundlich zu, nahm meinen Arm und lotste mich in Richtung Eingang.
„Siehst super aus“, flüsterte sie mir anerkennend zu.
Vor der ersten Treppenstufe raffte ich schnell mein Kleid etwas hoch, um den bodenlangen Saum nicht zu beschmutzen.
Da plötzlich spürte ich, wie eine kleine Hand meinen Arm berührte und vernahm ein schüchternes Stimmchen:
„Hallo?“
Ich sah mich um und blickte geradewegs in zwei staunende blaue Kinderaugen. Das kleine Mädchen mit den blonden Locken mochte nicht viel älter als vier oder fünf Jahre sein. Sie hielt eine buntbemalte Laterne in der Hand und blickte erwartungsvoll zu mir auf.
Ich lächelte sie an.
„Wer bist du denn?“
„Hannah“, hauchte sie kaum hörbar und schluckte aufgeregt. „Bist du eine richtige Prinzessin?“
Ich war so gerührt, dass ich nicht weiter auf mein Kleid achtete, sondern kurzerhand vor ihr in die Hocke ging und ihr mit einem liebevollen Lächeln meine Hand reichte.
„Weißt du, Hannah, heute ist ein ganz besonderer Tag, und deshalb bin ich auch heute eine richtige Prinzessin.“
Sie lächelte mich an.
„Ich will auch mal so hübsch werden wie du!“
„Aber das bist du doch jetzt schon.“
„Kannst du Wünsche erfüllen?“
Oh weh, was nun?
Zum Glück fiel mir etwas ein.
„Nein, Wünsche kann ich leider nicht erfüllen. Aber warte, ich habe eine andere Idee…“
Ich stand auf und blickte mich nach Simone um, die diese Szene, genauso wie alle anderen Anwesenden, höchst interessiert beobachtete.
„Hast du ein Feuerzeug?“
„Moment…“ Sie kramte hektisch in ihrer Tasche und wurde glücklicherweise schnell fündig. Ich nahm das Feuerzeug und beugte mich damit wieder hinunter zu der kleinen Hannah, die mit großen, erwartungsvollen Augen jede meiner Bewegungen verfolgte.
„Ich werde jetzt das Licht in deiner Laterne anzünden“, erklärte ich ihr. „Damit gehst du dann zu deiner Mama zurück und hast den ganzen Abend ein echtes Zauberlicht.“
Hannahs Augen glänzten.
„Au ja!“
Als das Lichtlein in ihrer Laterne brannte, strahlte sie mich an.
„Danke!“, flüsterte sie beeindruckt und betrachtete zufrieden mein Werk. Dann drehte sie sich um und huschte zu ihrer Mutter zurück. „Guck mal, Mama, ich habe ein Prinzessin-Licht!“
Erst jetzt bemerkte ich den Pressefotografen, der mit einsatzbereiter Kamera ganz in der Nähe stand. Er grinste mich zufrieden an und hob anerkennend den Daumen.
„Sehr schön, Majestät! Weiter so!“
Im Rathaussaal waren neben anderen prominenten und weniger prominenten Gästen bereits der Bürgermeister, sein Stellvertreter und der Landrat versammelt. Es wurde Sekt gereicht und dazu passend gab es exquisite Häppchen.
`Na toll, die Obrigkeit wird verwöhnt, während das Volk draußen geduldig wartet`, dachte ich insgeheim und reichte mein halbvolles Glas bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit diskret an Simone weiter, denn ich befürchtete, dass sich der Alkohol nicht unbedingt gut mit meiner inneren Aufregung vertragen würde. Und eine auf der Bühne zusammenhanglos vor sich hin lallende Lichterprinzessin wollte ich meiner Stadt dann doch lieber ersparen.
Nach ein paar Minuten, die mir wie eine Ewigkeit erschienen, setzte sich die Prominenz endlich in Richtung Ausgang in Bewegung.
Danach ging alles recht zügig von statten.
Eskortiert von zwei niedlichen kleinen Blumenmädchen bestieg ich draußen gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Landrat erneut die Kutsche – und erstarrte.
David saß nicht mehr vorn auf dem Kutschbock, seinen Platz hatte ein mir fremder junger Mann eingenommen.
Irritiert lehnte ich mich zurück und konzentrierte mich mit ganzer Kraft auf die freundliche Konversation mit den beiden anwesenden Herren.
Der Umzug begann.
Die Schalmeien spielten auf und der Tross setzte sich langsam in Bewegung.
Die Leute winkten uns zu und wir winkten fröhlich zurück, doch immer wieder wanderten meine Augen heimlich suchend herum.
Wo zum Geier war mein Bodyguard?
Dabei hatte er mir doch vorhin vor meiner Haustür noch versprochen, er würde mich heute keinen Augenblick aus den Augen lassen!
Doch sooft ich mich auch umsah, ich konnte ihn nirgends entdecken.