Die folgenden Tage waren die Hölle.
Ich stürzte mich frustriert in die Arbeit und die damit verbundenen Vorbereitungen auf meine unmittelbar bevorstehende praktische Abschlussprüfung.
Um Überstunden musste ich in diesen Tagen nicht extra bitten, die ergaben sich von allein, denn die Notaufnahme war wie so oft leider viel zu gut besucht.
Jedes Mal, wenn ich abends endlich nach Hause kam, schaltete ich zuerst den Computer ein, in der Hoffnung, dass David mir eine Nachricht hinterlassen hatte, doch nichts dergleichen geschah.
Er blieb stumm, und irgendwie konnte ich ihm das nicht einmal verübeln, so, wie ich unseren schönen gemeinsamen Abend beendet hatte. Mein schlechtes Gewissen setzte mir unermüdlich zu, so dass ich schließlich meinen Stolz bekämpfte und David übers Internet eine Nachricht schrieb, er möge sich doch bitte bei mir melden.
Gleichzeitig schimpfte ich mich unzählige Male eine dämliche Kuh, weil ich im Zeitalter des Handys nicht irgendwann auf die Idee gekommen war, mir seine Nummer geben zu lassen. Aber vielleicht wollte er das ja gar nicht, sonst hätte er mich sicher schon nach meiner gefragt.
Verflixt, da waren sie schon wieder, diese Selbstzweifel!
Ich knallte meinen Praxishefter geräuschvoll auf den Tisch.
Schluss damit, in meinen Kopf ging eh nichts mehr hinein, es war, als würden ganze fünf Buchstaben mein gesamtes Gedächtnis blockieren:
D A V I D
Die Buchstaben schienen sofort grellrot aufzuleuchten, als mein Handy klingelte.
Unbekannter Anrufer!
Oh bitte, bitte…
Mein stilles Gebet wurde nicht erhört.
„Caitlin? Hier ist Simone. Bitte entschuldige die Störung, aber ich musste dich unbedingt heute noch erreichen. Wir haben ein großes Problem. Kannst du morgen Nachmittag um 16 Uhr zu einem Auftritt ins Rathaus kommen?“
„Morgen?“, wiederholte ich entsetzt. „Das ist aber echt kurzfristig!“
„Ja Süße, ich weiß“, gab Simone mit vor Schuldbewusstsein triefender Stimme zu. „Vertreter unserer Partnerstadt in Kanada haben sich zu einem Überraschungsbesuch angesagt. Der Termin steht erst seit zwei Tagen, und es gab noch so viel zu organisieren. Da habe ich total vergessen, dich anzurufen.“
„Ich habe morgen Abschlussprüfung“, verriet ich vorsichtig und sie stieß am anderen Ende der Leitung einen äußerst undamenhaften Fluch aus.
„Na ja, ich denke, das bekomme ich trotzdem hin“, versuchte ich sie sogleich zu beschwichtigen. „Die Prüfung dauert ja nicht den ganzen Tag, und wenn ich als amtierende Prinzessin mal ohne frisch geföhnte Hochsteckfrisur erscheine, wird das die Kanadier auch nicht gleich umhauen.“
„Caitlin!“, schrie mir Simone enthusiastisch ins Ohr. „Du bist ein Goldschatz!“
Das hätte ich ja nun lieber von jemand ganz anderem gehört, aber egal, für den Augenblick musste ich mich mit der Aussicht begnügen, morgen meine praktische Prüfung einigermaßen gut zu bestehen und danach zu meinem ehrenamtlichen Auftritt zu eilen, denn dann würde ich garantiert David wiedersehen und konnte endlich mit ihm über alles reden.
Den ersten Punkt auf der Tagesordnung konnte ich zu meiner großen Freude unter „Sehr gut bestanden“ abhaken. Die Prüfung verlief optimal, ich machte alles richtig und hatte dabei noch riesiges Glück, denn die mir zugeteilten Patienten waren kooperativ und bereiteten mir keinerlei Schwierigkeiten im Umgang mit ihnen.
Die Prüfungskommission, bestehend aus zwei Oberärzten, unserer Oberschwester und zwei von meinen Lehrern, war einstimmig sehr zufrieden mit den von mir erbrachten Leistungen.
Sofort nach Dienstschluss rief ich meine Eltern und Jessi an und teilte ihnen meinen Erfolg mit.
Mom und Dad waren natürlich total happy, und auch Jessi freute sich so lautstark an meinem Ohr, als wäre es ihre eigene bestandene Prüfung gewesen.
Als ich kurze Zeit später vor meiner Wohnung eilig nach dem Schlüssel in meiner Tasche suchte, öffnete sich hinter mir die Tür zur Nachbarwohnung und Frau Krüger, eine nette, alleinstehende Rentnerin, steckte ihren ewig mit Lockenwickeln bestückten Kopf heraus.
„Oh, Caitlin, schön, dass Sie endlich da sind“, begrüßte sie mich aufgeregt. „Warten Sie einen Augenblick, da hat jemand etwas für Sie abgegeben.“ Sie verschwand in ihrer Wohnung und kam kurz darauf mit einem großen Blumenstrauß zurück. „Ist über Fleurop gekommen“, erklärte sie mir wichtig. „Ich habe dem Boten zwei Euro Trinkgeld gegeben!“
Die Blumen waren wunderschön. Dunkelrote Rosen waren mit weißen Margeriten zu einem herrlichen Arrangement zusammengefügt worden.
Zwischen den Blüten steckte ein verschlossener Umschlag.
Ich hatte keine Ahnung, von wem diese Blumen sein konnten. Von meiner Prüfung wusste kaum jemand, und mein Geburtstag war erst in ein paar Monaten.
„Wer auch immer Ihnen die geschickt hat, er hat Geschmack“, ließ sich Frau Krüger vernehmen, während ich eilig die zwei Euro aus meinem Portemonnaie kramte.
Ich bedankte mich bei meiner hilfsbereiten Nachbarin und verschwand schnell in meiner Wohnung, wo ich gespannt den Umschlag aufriss.
„Glückwunsch zur bestandenen Abschlussprüfung, Prinzessin! David“
Vor lauter Glück schossen mir die Tränen in die Augen. Ich wusste nicht einmal genau, ob und wann ich ihm von der Prüfung erzählt hatte, aber das war mir momentan auch völlig egal.
Er hatte an mich gedacht! Er war mir nicht böse!
Ich arrangierte die Blumen sorgsam in eine Vase, zupfte, ordnete, strich vorsichtig über die zarten, duftenden Blüten und freute mich wie ein kleines Kind an Weihnachten.
Auch später, als ich mich für meinen Auftritt zurechtmachte, bekam ich dieses einfältige Grinsen einfach nicht aus meinem Gesicht.
Da ich mit dem langen Kleid und den hochhackigen Pumps nicht sonderlich gern selbst Auto fuhr, hatte ich Jessi gebeten, mich zum Rathaus zu fahren.
Sie hielt natürlich direkt vor dem Eingang, mitten im Parkverbot. Als ich sie diskret darauf hinwies, dass ihre Aktion unter Umständen teuer werden könnte, lachte sie und angelte ein sehr professionell aussehendes Schild vom Rücksitz, das sie dann gut sichtbar hinter der Windschutzscheibe drapierte.
„LICHTERPRINZESSIN IM EINSATZ“ stand darauf.
„Habe ich extra in deinem Namen drucken lassen“, verkündete sie, sprang aus dem Wagen und hielt mir die Tür auf. „Na los, Hoheit, beeil dich, wir sind spät dran!“
Vor dem großen Sitzungssaal waren schon jede Menge Leute versammelt.
Simone hatte mich jedoch sogleich entdeckt und kam mir aufgeregt entgegengelaufen. Erleichtert umarmte sie mich und erklärte mir im Schnelldurchlauf, was ich während meines Auftritts zu tun hätte.
„Der Bürgermeister hält eine kurze Begrüßungsrede. Danach überreichst du den Gästen die Blumen.“
„Mehr nicht?“, fragte ich sicherheitshalber.
„Nein, das ist alles. Du musst nur danebenstehen und gut aussehen.“
„Das kriegt sie locker hin“, prophezeite Jessi zuversichtlich und zog mich etwas zur Seite. „Wo zum Teufel ist Damon?“
Ich verkniff mir eine Bemerkung wegen des Namens, denn ich wusste nur zu gut, wen sie meinte.
„Ist er nicht da?“
„Nein, aber wenn mich mein Erinnerungsvermögen nicht im Stich lässt, steht dort drüben sein Kollege von neulich.“
Sie hatte Recht, und momentan war mir alles egal. Ich wollte nur David finden. Zielgerichtet steuerte ich auf den jungen Mann zu.
„Hallo! Ist Dam… ähm, David heute nicht da?“
Er sah mich an, lächelte und reichte mir die Hand zur Begrüßung.
„Ich bin Steve. Caitlin, richtig?“
„Ja, genau. David ist für gewöhnlich als Personenschutz für mich eingeteilt.“
„Heute bin ich für die Sicherheit zuständig.“ erklärte er mir. „Unser Vorgesetzter hielt es für unnötig, mehrere Leute dafür abzustellen, da die Veranstaltung in einem geschlossenen Raum mit ausschließlich geladenen Gästen stattfindet. In der Öffentlichkeit gilt eine andere Sicherheitsstufe.“
„Ah ja. Okay. Na dann…“ Mühsam würgte ich meine Enttäuschung hinunter und wollte mich bereits wieder abwenden, als er mich diskret zurückhielt. „Ich soll dir liebe Grüße von ihm bestellen. Er ist für ein paar Tage nach Hause zu seiner Familie gefahren, wegen irgendeines Notfalls. Aber zum nächsten Termin am kommenden Samstag ist er wieder mit dabei.“
Ich atmete tief durch und rang mir ein Lächeln ab.
„Das ist schön. Danke.“
Ich sah mich nach Simone um und erreichte sie glücklicherweise noch, bevor sie in der Menge verschwand, die soeben in den Saal strömte.
„Was für einen Termin haben wir kommenden Samstag?“
„Ähm…“ Sie überlegte angestrengt. „Da muss ich erst nachsehen.“
„Nein, ich muss das sofort wissen!“
„Springreiten“, meldete sich Jessi, die sich wieder an meiner Seite eingefunden hatte. „Nächsten Samstag ist das Turnier! Da bist du mit dabei. Ich hab`s gehört, als der Trainer davon sprach.“
„Ja, genau“, erinnerte ich mich. Simone nickte erleichtert und griff sich zerstreut an die Stirn. „Ich muss dir mal einen Plan geben.“
„Das wäre wirklich schön“, erwiderte ich ein wenig vorwurfsvoll und wies dann auf Jessi. „Meine beste Freundin muss unbedingt mit in den Saal, wo doch mein Bodyguard heute nicht da ist!“
Jessi, gepierct, gesteilt, ganz in Jeans und mit leuchtend bunten Strähnchen im Haar, wirkte angesichts der zahlreichen sorgfältig gekleideten Herrschaften der Rathausetage wie ein Paradiesvogel im Entengehege und fühlte sich nun doch etwas unbehaglich.
„Meinst du wirklich? Ich kann auch…“
Simone nahm sie am Arm und zog sie kurzerhand mit sich fort.
„Na los, beste Freundin, rein mit dir, wir sind spät dran!“
Alles war auf bis ins kleinste Detail organisiert.
Im Nebenraum befand sich, neben eisgekühltem Sekt und anderen vielfältigen Getränken, ein reichhaltiges Buffet, geschmückt mit kanadischen Fähnchen und bestehend aus warmen und kalten Speisen und Desserts vom Feinsten. Die eigens für diesen Empfang eingestellten Kellner standen startbereit. Kurz gesagt, die stolzen Gastgeber präsentierten sich von ihrer besten Seite und hatten an alles gedacht, um die Gäste aus der kanadischen Partnerstadt in Würde willkommen zu heißen.
Als jedoch der Bürgermeister in Begleitung seines Stellvertreters und meiner Wenigkeit das Podium betrat, um mit seiner Begrüßungsrede zu beginnen, wurde plötzlich allen Anwesenden klar, dass man in der Eile etwas wirklich Wichtiges völlig vergessen hatte.
Der Bürgermeister beugte sich in böser Vorahnung zu seinem Stellvertreter und flüsterte ihm hastig zu:
„Wo ist der Dolmetscher?“
Der Stellvertreter, sichtlich überfordert mit dieser Frage, eilte hinunter zu den Vertretern des Stadtrates, wo in Sekundenschnelle eine hitzige Diskussion entstand.
Ich verstand zwar kein Wort von dem, was da unten getuschelt wurde, doch der Sinn dieses streng vertraulichen, panikartigen Streitgespräches war mir trotzdem sehr schnell klar:
Sie hatten schlichtweg vergessen, einen Dolmetscher zu bestellen.
Ich musste lächeln, denn ich konnte die Schlagzeile förmlich vor meinem geistigen Auge sehen, die morgen auf der Titelseite der Lokalzeitung zu lesen sein würde:
„Freundschaftsbesuch an simplen Verständigungsproblemen gescheitert!“
Nein, das war nun wirklich keine gute Werbung für meine Stadt.
Ich zupfte das Stadtoberhaupt diskret am Ärmel.
„Ähm… Ich übersetze für Sie, wenn das okay ist.“
Er sah mich sekundenlang irritiert an, als hätte er meine Worte nicht verstanden, dann jedoch flog ein breites Lächeln über sein Gesicht. Erleichtert nickte er.
„Aber natürlich ist das okay! Das ist großartig!“
Er trat ans Mikrofon und bat höflich um Ruhe im Saal.
Als ich am Abend nach Hause kam, setzte ich mich an den Computer und rief meine Seite auf.
Ich klickte Davids Namen an und schrieb ihm eine neue Nachricht, in der ich mich für die Blumen bedankte. Sekunden später öffnete sich ein Chatfenster.
david: gefallen sie dir?
Er war online! Mein Herz wechselte sofort in eine wesentlich schnellere Gangart.
caitlin: sie sind wunderschön!
david: so wie du, prinzessin! nochmals meinen glückwunsch zur bestandenen prüfung!
caitlin: danke. ich wusste gar nicht, dass ich dir davon erzählt hatte
david: hattest du nicht. Ich habe in der klinik angerufen
Sieh einer an…
caitlin: ach so. ich hatte heute einen auftritt im rathaus und war etwas enttäuscht, weil du nicht da warst
david: hat mein kollege mich nicht würdig vertreten?
caitlin: er hat mir gesagt, dass du nach hause gefahren bist
david: ja, familiärer notfall
caitlin: ich hoffe, nichts schlimmes?
david: nichts, was sich nicht klären lässt
Aha, er will mir nichts darüber erzählen.
david: ich erzähle es dir später
Auch gut…
caitlin: am kommenden samstag habe ich den nächsten termin
david: ich werde da sein
caitlin: schön. Gibst du mir deine handynummer?
david: warum?
Warum? Blöde Frage…
caitlin: nur für den notfall
david: was für ein notfall?
caitlin: keine ahnung, man kann ja nie wissen
david: ah ja, verstehe, sicherheitshalber - like caitlin
erwischt…
caitlin: quatsch
david: ja genau, ich finde es so viel romantischer
caitlin: ach wirklich?
david: na klar
Schweigen. Ja, das geht auch im Chat… Und es verursacht keine Kosten, im Gegensatz zum Handy, in der Beziehung hatte David recht.
david: soll ich dich zu deinem nächsten auftritt abholen?
caitlin: Nein, nicht nötig, meine mutter fährt mich hin
Ich kam mir mit dieser dämlichen Antwort vor wie ein bockiges Kind. Nein, das war nicht gut, gar nicht gut…
caitlin: aber du könntest mich hinterher nach hause bringen, wenn es dir nichts ausmacht
david: liebend gern. Aber nur unter einer bedingung
caitlin: und die wäre?
david: dass du mir nicht wieder irgendeine tür vor der nase zuknallst. ich hasse das!
caitlin: entschuldige
david: kein problem. also dann, süße, bis samstag
caitlin: ja, bis dann
david: weißt du, was ich jetzt verdammt gern tun würde?
caitlin: was?
david: denk mal drüber nach…
DER TEILNEHMER HAT SICH ABGEMELDET.