In den drei Wochen zwischen den Abschlussprüfungen und der Zeugnisübergabe hatte ich plötzlich ungewohnt viel Freizeit. Leider konfrontierte mich David gerade in diesem Zeitraum damit, dass er kurzfristig ein paar Tage Urlaub genommen hätte und zu seiner Familie an die Küste fahren würde, um seinem Vater bei irgendetwas zu helfen.
Es wurmte mich insgeheim, dass er mich nicht gefragt hatte, ob ich mitfahren wollte, schließlich hatte ich frei und wäre wirklich gern mit ihm zusammen gewesen. Doch andererseits wollte ich ihn auch zu nichts drängen, dazu war unsere Beziehung einfach noch zu frisch. Und wenn ich ehrlich war, so hatte ich meinen Eltern auch noch nichts von der Existenz eines eventuell neuen Freundes erzählt.
Also schluckte ich meine Enttäuschung über Davids Verschwinden hinunter und nutzte die plötzlich so reichliche Freizeit, indem ich öfter tatkräftig in den Stallungen des Reitvereins aushalf und natürlich einige Ausflüge mit Saphira unternahm.
Außerdem begann ich meine Wohnung gründlich auf Vordermann zu bringen.
Mein kleines Badezimmer beispielsweise hatte eine Inventur dringend nötig. Also überprüfte ich zunächst meine Finanzen und fuhr dann mit Jessi zum Shoppen. Hoch motiviert suchten wir neue Accessoires und Rollos aus und hatten an diesem Nachmittag einen Riesenspaß zusammen.
Ich befand mich, reichlich mit Tüten und Taschen beladen, gerade auf der Treppe zu meiner Wohnung, als mein Handy klingelte. In der Hoffnung, nach Tagen vielleicht endlich wieder etwas von meinem geheimnisumworbenen Lover zu hören, kramte ich das Ding eilig hervor und nahm den Anruf erwartungsvoll entgegen.
Fehlanzeige!
Es war Simone, die mich mit ihrer ewig atemlos klingenden Stimme daran erinnerte, dass in knapp zwei Wochen das große Stadtfest stattfinden würde.
Wir verabredeten uns für den Anfang der kommenden Woche im Rathaus-Café, um alles Nötige für meinen Auftritt zu diesem Event zu besprechen.
Ergeben seufzend ließ ich das Handy zurück in die Tasche fallen, während ich nun wiederum nach dem Schlüssel suchte, den ich doch eben unten an der Haustür noch in der Hand gehabt hatte.
Verdammt nochmal…
„Soll ich dir helfen?“
Seine Stimme ließ mich derart überrascht zusammenfahren, dass sich gut die Hälfte meiner Shopping-Beute mehr oder weniger lautstark auf dem Flur vor meiner Tür verteilte, während mein armes Herz völlig außer Kontrolle gegen meinen Brustkorb hämmerte.
David saß, die langen Beine lässig von sich gestreckt, auf dem Treppenabsatz zur nächsten Etage und blinzelte mich vergnügt an.
„Warum kaufst du den Kram erst, wenn du ihn dann gleich wieder wegwirfst?“
„Verdammt nochmal!“, fluchte ich dieses Mal laut und vernehmlich und blitzte ihn wütend an. „Bist du bei Trost, mich so zu erschrecken?“
Entschuldigend hob er die Hände, doch sein Grinsen wirkte alles andere als reumütig.
Er erhob sich und kam zu mir herüber.
„Hallo Prinzessin! Ich finde das irgendwie süß.“
„Was?“, fragte ich, irritiert von seinen Worten und dem Blick, mit dem er mich ansah.
„Dass du jedes Mal, wenn wir uns sehen, etwas verlierst!“
„Ich habe doch…“, wollte ich widersprechen, doch er erstickte meinen Protest, indem er mich einfach an sich zog und küsste.
Es war kein normaler Begrüßungskuss, sondern einer von der Sorte, der meine Knie weich werden und meinen Kreislauf fast zusammenbrechen ließ, und bei dem meine neugierige Nachbarin, insofern sie hinter ihrem Spion hockte und die Szene beobachtete, mit Sicherheit voll auf ihre Kosten kam.
„Wow“, stammelte ich völlig außer Atem, lehnte mich an die Wohnungstür und wies mit zittrigen Fingern auf meine am Boden verstreut liegenden Einkäufe. „Jetzt kannst du den Kram da selber zusammenräumen.“
Die Grübchen kamen zum Vorschein.
„Mit dem größten Vergnügen, Hoheit.“
David brachte meine Einkauftüten in die Küche und stellte sie auf dem Tisch ab.
„Da hat ja jemand ganz ordentlich zugeschlagen“, meinte er schmunzelnd und zog ausgerechnet die neue Toilettenbürste, deren Griff aus einer der Taschen ragte, hervor. Das Teil von allen Seiten betrachtend stellte er fachmännisch fest: „Sieht fast so aus, als wolltest du das Badezimmer renovieren.“
Ich atmete tief durch, lehnte mich an den Rand der Spüle und verschränkte mit vorwurfsvollem Blick die Arme vor der Brust.
„Stimmt. Ich bin mitten drin im Aufräumen und Renovieren, meine Wohnung sieht aus wie nach einem mittleren Bombenangriff, und ich habe eigentlich überhaupt keine Zeit. Hättest du nicht anrufen und mir sagen können, dass du heute vorbeikommst?“
Ungerührt warf er die Toilettenbürste in die Luft, so dass sie sich einmal überschlug, und fing sie kunstvoll wieder auf.
„Wenn ich dich angerufen hätte, was ich übrigens nicht kann, weil ich deine Handynummer nicht habe, dann wärst du nicht überrascht gewesen. Und dabei siehst du so unheimlich sexy aus, wenn du überrascht oder wütend bist. Das wollte ich mir keinesfalls entgehen lassen.“
Mit zwei Schritten war ich bei ihm, riss ihm die Toilettenbürste aus der Hand und warf sie wutentbrannt zwischen die Taschen mit den anderen Sachen.
„Du bist ein…“
Blitzschnell fasste er nach meinen Armen und zog mich erneut dicht zu sich heran.
„Da ist er wieder, dieser Blick von dir“, raunte er. „Mmmh, der macht mich total an…“
„David!“, warnte ich, doch er schüttelte nur grinsend den Kopf und schob mich mit sanftem Druck in Richtung Schlafzimmer.
„Keine Chance, Prinzessin!“
Was soll ich dazu sagen…
Das Bad renovierten wir letztendlich gemeinsam – am nächsten Tag.
Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Er brachte meinen Körper zum Glühen und meine Seele zum Tanzen, ich war glücklich, wenn ich mit ihm zusammen war. Doch irgendwie ließ er mich dabei nicht in sein Leben. Ich schlief mit ihm, hatte mich längst in ihn verliebt, aber eigentlich wusste ich immer noch viel zu wenig von ihm. Wenn ich ihn nach seiner Vergangenheit, seiner Familie oder seinen Freunden fragte, erhielt ich zwar Antworten, aber die waren eher ungenau und vage, nichts Konkretes.
Einmal wollte ich wissen, ob er vor mir eine feste Beziehung gehabt hatte.
„Ja klar“, meinte er ohne Umschweife. „Was denkst du denn?
„Und wie war sie?“
„Anders als du, ganz anders. Aber ich denke nicht über Beziehungen nach, wenn sie vorbei sind. Das bringt nichts.“
Damit war das Thema für ihn erledigt gewesen.
„Hinter Sarkasmus und Verschwiegenheit verbirgt sich meistens eine ernst zu nehmende Depression“, hatte mir Jessi hoch psychologisch erklärt, als ich mit ihr über meine diesbezüglichen Gefühle sprach. „Vielleicht hat er in seiner Kindheit etwas Schlimmes erlebt und verdrängt es.“
„Aber sicher“, nickte ich und verdrehte theatralisch die Augen. „Du guckst zu viele Damon-Serien.“
„Damon ist ein Vampir“, belehrte sie mich. „Und Vampire haben höchst selten Depressionen.“
Ich musste lachen.
„Vielleicht ist David ja auch einer und traut sich nicht, mir zu sagen, dass er schon lange einen Riesenappetit auf meine Halsschlagader verspürt.“
„Du nimmst mich nicht ernst“, beschwerte sie sich und tippte mir mit dem Zeigefinger bedeutungsvoll an die Stirn. „Diese Geheimniskrämerei ist ein Killer für jede Beziehung! Das müsstest du doch am besten wissen.“
Oh ja, da hatte sie allerdings Recht. Meine letzte Beziehung war genau daran kaputt gegangen.
Tom Neumann, mein Verflossener, hatte auch seine kleinen Geheimnisse gehabt. Sie waren blond und brünett, sehr jung, sehr willig und derart kostspielig, dass er sich zuletzt nicht einmal mehr an der Miete für unsere gemeinsame Wohnung beteiligen konnte. Ich bekomme heute noch eine Gänsehaut, wenn ich an den Mistkerl denke.
Sein Auszug aus unserer Wohnung war dann auch unter aktiver Mithilfe meines Vaters und einiger guter Freunde dementsprechend unspektakulär verlaufen:
kurz und schmerzlos, Koffer fertig gepackt vor der Haustür, Schlösser ausgewechselt, Handynummer geändert. Der Mietvertrag für die Wohnung lief glücklicherweise nur auf meinen Namen und die Einrichtung hatte ich sowieso komplett allein bezahlt.
Mein „Abschiedsgeschenk“ an Tom bestand darin, dass ich seine beiden aktuellen „Geheimnisse“ dann fairerweise noch voneinander in Kenntnis setzte, was ihm mit Sicherheit mehr Stress einbrachte als der Rauswurf und die Trennung von mir.
Hat echt weh getan, so betrogen zu werden. Aber mit der Unterstützung von meinen Eltern, meinen Freunden und vor allem von Jessi war ich dann irgendwann darüber hinweggekommen. Heute frage ich mich, wie ich es überhaupt so lange mit einem Typen wie Tom aushalten konnte. Er war verlogen, arrogant und verschwenderisch, und er sah nicht einmal halb so gut aus wie David.
Nein, ich war kein „gebranntes Kind“, was Männer anging, aber ich hatte dazugelernt.
Und aufgrund genau dieser Erfahrungswerte war ich ziemlich sicher, dass ich nichts überstürzen durfte. David würde irgendwann von ganz allein auf die Idee kommen, mich seiner Familie vorzustellen und mich an seinem Leben teilhaben zu lassen. Vorausgesetzt, dass das, was wir momentan miteinander teilten, nicht nur ein Strohfeuer für ihn war.
Während der Renovierung meiner Wohnung zeigten sich bei David noch andere positive Fähigkeiten, von denen ich bisher nichts geahnt hatte. Er war handwerklich äußerst begabt und hatte wirklich gute Ideen in der Umsetzung meiner „Aufräumarbeiten“.
So bekam der kleine Flur einen neuen sonnengelben Anstrich, was den Raum sogleich freundlicher und größer erscheinen ließ. Dann überredete er mich zu einer leuchtend orangefarbenen Wand in der Wohnstube. Ich hatte das Zimmer zwar sehr modern eingerichtet, aber mir fehlte von Anfang an das gewisse „Etwas“, denn die weißen Wände wirkten auf mich steril und langweilig. Doch irgendwie hatte ich nie den Elan oder die Zeit gehabt, etwas grundlegend zu ändern. Jetzt war die Gelegenheit günstig. Wir kauften Farbe, malerten und erneuerten und waren mit Riesenspaß bei der Sache.
Die Zeit verging wie im Fluge, und es störte mich überhaupt nicht, dass David wie selbstverständlich bei mir blieb. Im Gegenteil, es gefiel mir. Fast schien es so, als ob wir uns hier gemeinsam unser eigenes „Nest“ einrichten würden.
Wir waren ein unschlagbares Team: Ich hatte die Ideen und er den Mut sie umzusetzen.
Am Ende war mein Konto um einiges leichter, aber meine Bude konnte sich durchaus sehen lassen. Modern, fröhlich und supergemütlich, ein Ort zum Wohlfühlen.
Es gab nur einen einzigen Haken an der Sache:
Wie würde es sein, wenn David irgendwann vielleicht nicht mehr da war? Alles in dieser Wohnung würde mich schmerzlich an ihn erinnern.
Zum Teufel nochmal, war ich noch ganz dicht? Wieso dachte ich eigentlich über so etwas nach? Jetzt zählte einzig der Moment.
Er war hier, ich war hier, wir waren glücklich und alles war gut.
Wir waren gerade fertig mit dem Streichen der Wohnstube, alles ringsum war mit Folie ausgelegt, die kleine Anbauwand stand in allen Einzelteilen in der Mitte des Zimmers, der Inhalt aus den Schubladen lag bunt verstreut auf Couch und Esstisch.
Mitten in diesem Chaos ließ ich mich dann doch zu einer mehr oder weniger waghalsigen Frage hinreißen:
„Wirst du mich wieder verlassen, wenn wir hier fertig sind?“
Er war dabei, die Pinsel und Bürsten, die wir zum Streichen benutzt hatten, zu säubern. Kaum hatte er meine Worte vernommen, hielt er inne und sah sich erstaunt nach mir um.
„Willst du mich loswerden?“
„Natürlich nicht“, beeilte ich mich zu sagen. „Ich will nur wissen, was ich zu erwarten habe. Ob du eines Tages einfach verschwindest und nicht zurückkommst.“
Er schien einen Moment lang nachzudenken, dann stand er auf, ließ die Farbutensilien einfach liegen und wischte sich, während er auf mich zukam, die Hände an seinen alten Jeans ab. Dicht vor mir blieb er stehen und sah mich mit einem seiner nicht zu deutenden Blicke an.
„Suchst du mal wieder nach deinem Nummer-Sicher-Weg?“
Ich war verunsichert, doch ich hielt seinem Blick stand.
„Ich habe dir doch nur eine Frage gestellt. Was ist denn daran so verkehrt?“
Er lachte, und es hörte sich verdammt sarkastisch an.
„Hör zu, Caiti, wenn ich bisher eines im Leben gelernt habe, dann ist es die Gewissheit, dass nichts ganz sicher ist. Nichts, auch wenn es noch so sicher scheint. Also tu dir selbst einen Gefallen, genieß den Augenblick und hör auf damit, alles planen zu wollen.“
„Aber man muss doch wissen, was man im Leben erreichen will!“
„Klar muss man das. Und wenn ich etwas will, dann kämpfe ich dafür. Wenn es sein muss, mit aller Kraft. Aber sicher habe ich es trotzdem noch lange nicht.“
„Dann glaubst du also auch nicht an die eine große Liebe?“
„Nein“, erwiderte er spontan. Eine Sekunde später zog ein Lächeln über sein Gesicht, während er seine Hand hob und zärtlich über meine Wange strich. „Aber ich arbeite ernsthaft daran.“
Einem inneren Impuls folgend schlang ich die Arme um seinen Hals und küsste ihn mit aller Leidenschaft, die ich in diesem Moment fühlte. Einen Augenblick lang spürte ich sein erstauntes Zögern, doch dann zog er mich fest an sich und erwiderte mit unbändiger Begierde meine Zärtlichkeit.
Mir wurde fast schwindlig vor Glück und ich wünschte, dieser Kuss würde nie enden, denn zwei, die sich so küssen, wie wir beide das taten, die gehörten doch einfach zusammen.
An diesem Abend beschlossen wir spontan, alle anfallenden Arbeiten auf den nächsten Tag zu verschieben und uns selbst ein wenig Luxus zu gönnen.
Ein gemeinsames heißes Bad und danach vielleicht noch ein Besuch in dem gemütlichen Restaurant von Davids mexikanischem Freund Ricardo schien uns dafür gerade richtig.
Kurz darauf setzten wir die erste Phase unseres Plans in die Tat um und ließen uns in der Wanne mit einem herrlich duftenden Schaumbad nieder, als plötzlich jemand laut und vernehmlich an die Wohnungstür klopfte.
David unterdrückte einen Fluch, während ich energisch den Kopf schüttelte.
„Rühr dich nicht von der Stelle, wir sind einfach nicht da, basta!“
Leider half das gar nichts. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und die besorgte Stimme meiner Mom erklang draußen im Flur:
„Caitlin, Sweetie, bist du da?“
Mit Schrecken fiel mir ein, dass ich mich in den letzten drei Tagen, in denen David hier bei mir war, nicht ein einziges Mal zu Hause gemeldet hatte. Das waren meine Eltern nun gar nicht von mir gewöhnt.
Draußen unterbrach ein erschrockener Aufschrei meine Gedanken.
„Wie sieht es denn hier aus?“
„Ähm, sorry Mom, ich renoviere nur ein wenig die Wohnung!“
Anscheinend konnte sie nicht glauben, was sie sah.
„Caitlin?“
Etwas überfordert suchte ich Davids Blick, doch der lehnte sich nur gemütlich in der Wanne zurück und beobachtete die ganze Sache mit bewundernswerter Ruhe.
Na gut…
„Ich nehme gerade ein Bad, Mom!“
Schritte kamen näher.
„Darf ich reinkommen?“
David, immer noch grinsend und völlig entspannt in unveränderter Position, verschränkte abwartend die Arme vor der Brust und warf mir einen herausfordernden Blick zu.
Naaa gut…
Ich versank sicherheitshalber noch etwas tiefer in dem dichten, im Kerzenlicht glitzernden Badeschaum.
„Ooookay…“
Schwungvoll öffnete meine Mom die Tür, stutzte und musterte uns beide erstaunt. Allerdings kann sie ziemlich cool sein, wenn es darum geht, brisante Situationen gekonnt zu überspielen.
„Oh, sorry, Sweetheart, ich wusste nicht, dass du Besuch hast.“
„Hi Mom“, brachte ich etwas kleinlaut heraus.
Davids Stimme klang gar nicht verlegen.
„Hallo Misses Jennings! Freut mich, Sie kennenzulernen.“
Meine Mom lehnte sich an den Türrahmen und lächelte ihn entwaffnend an.
„Wer hätte das gedacht, der nette Praktikant vom Ordnungsamt! Freut mich auch, dich endlich einmal persönlich kennenzulernen!“