Ausgerechnet zum Anprobetermin im Hochzeitsunternehmen kam ich nicht pünktlich aus dem Krankenhaus weg. In der Notaufnahme wurden einige Neuzugänge eingeliefert, die dringend versorgt werden mussten. Leider hatte sich meine Ablösung kurzfristig krankgemeldet, so dass mein Feierabend in unbekannte Ferne rückte. Ich sprang herum wie auf glühenden Kohlen und versuchte mir dabei möglichst nichts von meiner inneren Unruhe anmerken zu lassen. Irgendwann war alles geschafft und ich durfte endlich gehen.
Den Weg ans andere Ende der Stadt schaffte mein kleiner Polo in Rekordzeit. Mit quietschenden Reifen bog ich um die Ecke und manövrierte mein Fahrzeug profimäßig in die einzige Parklücke vor dem Hochzeitsausstatter.
Herr Schmidt, der Chef des Unternehmens, erwartete mich bereits händeringend.
„Oh wie schön, da ist sie ja endlich! Wir hatten fast nicht mehr mit Ihnen gerechnet.“
„Sorry“, entschuldigte ich mich freundlich, während ich mich in fliegender Eile meiner Jacke entledigte. „Ich konnte nicht pünktlich von der Arbeit weg, wir hatten noch so viel zu tun.“
„Ja, die Arbeit“, nuschelte Herr Schmidt, nahm mir höflich die Jacke ab und hing sie sorgsam über einen Bügel. „Wohl dem, der welche hat.“ Er bedeutete mir, ihm in den angrenzenden Raum zu folgen. „Ich werde Ihnen gleich mehrere Modelle zeigen, die für Sie in Frage kämen. Wir wählen dann gemeinsam eines aus. Welche Größe tragen Sie?“
„XS, würde ich sagen“, nahm mir jemand die Antwort regelrecht aus dem Mund. Erschrocken fuhr ich herum und bemerkte erst jetzt, dass wir nicht allein im Raum waren.
Er saß – nein, besser gesagt - er fläzte in einem der Besuchersessel, die langen Beine in den verwaschenen Jeans lässig von sich gestreckt und grinste mich vielsagend an – David Brandt.
„Hallo Prinzessin!“
„Was tust du denn hier?“, brachte ich völlig überrascht heraus.
Er hob belustigt die Augenbrauen.
„Leidest du unter einem Kurzzeitgedächtnis?“
„Das nicht gerade, aber in diesem Laden hier hätte ich dich nun wirklich nicht erwartet.“
„Sobald Eure Hoheit im Dienst sind, muss ich zur Stelle sein.“
„So, musst du das“, erwiderte ich trocken und nickte ihm auffordernd zu. „Na dann los, worauf warten wir? Suchen wir ein Kleid für mich aus.“
„Wir?“ Zögernd und scheinbar noch immer belustigt erhob er sich.
„Natürlich wir. Eine moderne Prinzessin sollte gelegentlich Wert auf die Meinung des gemeinen Fußvolkes legen, findest du nicht auch?“
Ich wollte die Grübchen auf seinen Wangen sehen und hatte Erfolg. Er grinste breit und wies auf die Tür zum Nebenzimmer.
„Also dann, nach Ihnen, Hoheit!“
Die Kleider waren allesamt ein Traum in Weiß. Ich ließ mir Zeit, betrachtete jedes Model genau und wägte sorgsam ab, welches davon meiner Figur am meisten schmeicheln würde. Schließlich probierte ich sie alle nacheinander an und ertappte mich dabei, dass ich, noch bevor ich selbst einen Blick in den Wandspiegel außerhalb der Umkleidekabine werfen konnte, zuerst Davids Blick suchte.
Gefiel ihm, was er sah? Zustimmung oder Ablehnung?
Er musterte mich jedes Mal von oben bis unten, verriet jedoch mit keiner Regung, was er dachte.
Schließlich entschied ich mich für das Kleid, das meiner Meinung nach am wenigsten pompös wirkte. Es hatte weite, durchsichtige Ärmel, ein mit Perlen besticktes rund ausgeschnittenes Oberteil und brachte meine schlanke Taille sehr vorteilhaft zur Geltung. Das Rockteil war bodenlang und fiel in weichen Wellen von den Hüften abwärts. Die eingearbeitete Schleppe wurde bei Bedarf kunstvoll hochgebunden.
Ich fühlte mich fantastisch und drehte mich übermütig vor dem Spiegel.
„Gefällt es dir?“, fragte ich David, der noch immer wortlos dasaß und keinen Blick von mir ließ. Auf meine Frage hin erhob sich, kam zu mir herüber und stellte sich beunruhigend dicht hinter mich, so dass wir uns beide im Spiegel sehen konnten. Dann griff er mit seinen Händen nach meinem schulterlangen Haar und hielt es nach oben wie eine Hochsteckfrisur.
Er beugte den Kopf etwas vor und raunte mir ins Ohr:
„Du siehst heiß aus, Prinzessin, mega heiß. Ich werde sehr gut auf dich achtgeben müssen!“
Meine Herzfrequenz stieg in Sekundenschnelle bedrohlich an und in meinem Inneren machte sich eine Hitze breit, von der ich hoffte, dass sie nicht allzu schnell meine Wangen erreichte. Was hatte dieser Kerl nur an sich, dass er mich von einem Moment auf den anderen regelrecht zum Glühen brachte?
Leider - oder glücklicherweise? - unterbrach einer der städtischen Pressefotografen kurz darauf unsere kleine private Intimität. Der Mann hatte sich ebenfalls verspätet und platzte nun herein, um schnell noch ein Foto von unserer Anprobe zu schießen.
Blitzartig zog sich David in seinen Sessel zurück, während ich mich mit Herrn Schmidt an meiner Seite in Pose stellen und in die Kamera lächeln musste.
Als das geschafft war, äußerte Herr Schmidt schließlich die Meinung, dass mir das Kleid, das ich trug, noch viel zu weit sei. Geschäftig half er mir auf einen Hocker, bewaffnete seine beiden Mitarbeiterinnen mit einer Unmenge Stecknadeln und begann sie mit einem Schwall von bizarren Anweisungen um mich herum zu scheuchen und an meinem Kleid zu zupfen, bis mir fast schwindlig war.
„Bitte mal den Bauch einziehen“, sagte die eine Mitarbeiterin, worauf ich fragend nach unten sah.
„Das wird viel zu eng“, beschwerte ich mich schließlich schweratmend. „Ich kann nicht tausend Gäste begrüßen und gleichzeitig die ganze Zeit über die Luft anhalten!“
„Das muss richtig anliegen“, beharrte Herr Schmidt mit fachkundigem Blick.
„Okay, aber ich habe seit heute Morgen nichts gegessen“, gab ich mit jammervollem Gesicht zu bedenken.
„Na gut, dann geben wir einen Zentimeter nach“, stimmte er gnädig zu und gab seiner Mitarbeiterin einen Wink.
„Drei!“, versuchte ich zu handeln wie auf einem türkischen Basar, und wir einigten uns schließlich geschäftsmäßig auf zwei. Ich durfte also für ganze zwei Zentimeter Nahrung zu mir nehmen, welch erfreuliche Aussicht!
David lachte.
„Nicht so streng, Chef“, meinte er. „Sie wollen doch schließlich keinen Hungerhaken auf die Bühne stellen.“
Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu, worauf er unschuldig die Schultern hob. „Sorry Hoheit, ich wollte nur helfen.“
Schließlich war die Anprobe geschafft, und Herr Schmidt vereinbarte mit mir einen weiteren Termin, um das Kleid nach der Änderung noch ein letztes Mal anzuprobieren. Wenn dann alles saß, wie es sitzen sollte, durfte ich es mit nach Hause nehmen.
Aufatmend verließ ich mit David im Schlepptau das Geschäft.
Es war kühl draußen, wir hatten immerhin erst April, aber die Frühlingssonne tauchte den Nachmittag in ein angenehmes Licht.
David sah mich abwartend an.
„Hast du noch etwas Zeit?“
„Na ja, kommt drauf an…“, erwiderte ich etwas zögernd.
Was hatte er vor?
„Zwei Straßen weiter ist ein kleines Café. Wir könnten gleich zu Fuß hingehen. Die haben hausgebackenen Kuchen.“ Er grinste, als er mein Zögern bemerkte. „Na komm schon, Prinzessin, ich lade dich ein. Du hast doch Hunger, oder nicht?“
„Oh ja“, gab ich stöhnend zu. „Riesenhunger. Aber denk daran, ich darf nur für zwei Zentimeter essen.“
„Ein Glück“, gab er lachend zurück. „Für einen Augenblick hatte ich schon befürchtet, du sprengst mein Budget!“