Wir fuhren zum anderen Ende der Stadt, wo David und Steve sich eine Zweiraumwohnung in einem renovierten Neubaublock teilten. Inzwischen hatte ich mich so weit unter Kontrolle, dass ich nicht mehr heulen musste. Meine Augen brannten wie Feuer von dem Gemisch aus Tränen und Make Up. Halbblind und widerstandslos folgte ich Steve die Treppe hinauf zum ersten Stock. Er öffnete die Tür, ließ mich ein und drückte auf den Lichtschalter.
Das erste, was mir auffiel, waren zahlreiche Gepäckstücke, die in dem kleinen Flur herumstanden.
„Fall nicht über die Sachen“, warnte er mich. „David hat ja sicherlich erzählt, dass ich bald ausziehen werde.“
Ich nickte stumm.
„Komm rein und mach es dir bequem. Das Zimmer geradeaus ist das von David. Ich fahre mit den Kollegen nochmal zurück und versuche herauszubekommen, wo sie ihn hingebracht haben.“ Er wies auf das etwas nostalgisch wirkende Wandtelefon, das neben der Tür hing. „Wenn ich etwas erfahre, rufe ich dich an. Geh bitte nicht weg. Aber falls doch, wirf den Schlüssel in den Briefkasten. Ich bin so schnell wie möglich zurück.“
„Danke, Steve“, erwiderte ich mit tränenerstickter Stimme.
Als sich die Tür hinter ihm schloss, hatte ich das Gefühl, als sei ich allein auf der Welt.
Ich sah an mir herunter und bemerkte die Blutflecke auf meinem weißen Kleid.
Davids Blut… Vermutlich wäre ich jetzt an seiner Stelle, hätte er mich nicht geschützt.
Hoffentlich ging es ihm inzwischen wieder besser!
Mechanisch setzte ich mich in Richtung Badezimmer in Bewegung, wo ich vergeblich versuchte, die Flecken mit etwas kaltem Wasser aus dem Kleid zu waschen. Nach einer Weile gab ich auf und sank verzweifelt auf den Wannenrand, wo ich eine Weile sitzenblieb und apathisch vor mich hinstarrte.
Irgendwann später erhob ich mich und ging mit immer noch weichen Knien hinüber in Davids Zimmer.
Es war spärlich möbliert und wirkte auf den ersten Blick irgendwie unpersönlich, fast schon steril. Ein Raum, der vornehmlich dazu diente, ab und zu darin zu schlafen und zu wissen, dass man nach der Arbeit einen Platz hatte, an den man sich zurückziehen konnte. Es war eine Bleibe, kein wirkliches Zuhause. Kein Wunder, dass er mich nie mit hierher genommen hatte.
An der Wand neben der Tür stand ein schmaler, heller Anbauschrank, gegenüber ein kleiner runder Tisch, eine hell-dunkel karierte, breite Schlafcouch mit einem dazugehörigen Sessel, über dessen Lehne achtlos ein paar Jeans und Shirts hingen.
Ich ließ mich auf die Couch fallen, lehnte mich zurück und atmete tief durch.
Was war nur geschehen?
Warum musste dieser schöne Tag so tragisch enden?
Inzwischen war ich ziemlich sicher, dass dieser hinterhältige Angriff auf das Konto des unbekannten Drohbriefe-Schreibers ging. Die Beamten, die uns hergefahren hatten, waren über Sprechfunk informiert worden, dass einige Personen im VIP-Bereich durch umherfliegende Wurfgeschosse verletzt worden waren, man die Situation jedoch mittlerweile unter Kontrolle gebracht und mindestens zwei der Angreifer in Gewahrsam genommen hatte.
Trotzdem war das Stadtfest an dieser Stelle gelaufen. Kassandra Lance und ihre Crew hatten vermutlich fluchtartig die Stadt verlassen und würden mit Sicherheit unserer Region nicht so schnell wieder die Ehre geben. Na gut, darauf konnte man getrost verzichten, aber ein fader Nachgeschmack und eine Spur der Angst würde bleiben. Zumindest so lange, bis diese mysteriöse Sache aufgeklärt war.
Das Klingeln des Telefons im Flur riss mich abrupt aus meinen Gedanken.
Steve?
Ich sprang auf, lief hinaus auf den Flur und streckte schon die Hand nach dem Hörer aus, doch irgend ein eigenartiges Gefühl ließ mich im letzten Augenblick zögern. Nein, so schnell konnte Steve nicht zurück in der Stadt sein.
Sollte ich trotzdem abnehmen?
Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn in diesem Augenblick schaltete sich bereits der Anrufbeantworter ein.
Eine helle Frauenstimme erklang. Sie wirkte etwas schleppend, in einem merkwürdigen, aufgesetzt fröhlichen Singsang-Tonfall, der mich aufhorchen ließ:
„Hallo Policeman! Rate, wer hier spricht? Ich habe eine Überraschung für dich. Jaaaa, ich habe endlich Urlaub bekommen, einen seeeehr langen Urlaub! Freust du dich? Bald, seeeehr bald bin ich unterwegs zu dir, dann sind wir endlich wieder zusammen! Findest du nicht auch, dass uns nichts und niemand wieder trennen sollte? Lass uns einfach verschwinden, nur du und ich! Ich liebe dich! Bis morgen, mein Schatz!“
Ein Klicken und das Gespräch war beendet.
Ich starrte fassungslos auf das Telefon.
Was war das denn gewesen? Policeman? Urlaub? Auf dem Weg zu dir?
Findest du nicht auch, dass uns nichts und niemand wieder trennen sollte? Lass uns einfach verschwinden, nur du und ich!
Ich liebe dich!
Mit einem flauen Gefühl im Magen ging ich in die Küche und suchte nach einem Glas, das ich mit Wasser füllte. Gierig trank ich einen tiefen Schluck.
Dann plötzlich wurde mir schlagartig klar, dass dieser Anruf mit Sicherheit nicht für David, sondern für Steve gewesen war. Mit einem unsagbaren Gefühl der Erleichterung atmete ich tief durch.
Aber natürlich!
David hatte mir erzählt, dass Steve heiraten wollte und deshalb vorhatte, aus der Wohngemeinschaft auszuziehen. Die Frau am Telefon war sicher seine Zukünftige gewesen, die sich auf ihn und auf die gemeinsamen Flitterwochen freute! Und die am liebsten mit ihm durchbrennen wollte, um eine große Hochzeit mit der Verwandtschaft zu vermeiden!
Und ich dumme Kuh hatte doch wirklich gedacht…
Ich schlug mir hysterisch lachend mit der flachen Hand gegen die Stirn.
So ein Blödsinn!
Oder etwa doch nicht?
Das unangenehm flaue Gefühl hatte sich allen logischen Erklärungen zum Trotz in meiner Magengegend eingenistet und saß dort fest. Ich schob es auf die Tatsache, dass ich noch immer nicht wusste, wie es David inzwischen ergangen war. Momentan waren mir jedoch die Hände gebunden. Ich konnte nichts tun. Nichts – außer zu warten.
Also trollte ich mich wieder zurück auf die Couch, rollte mich zusammen wie eine Katze und fiel irgendwann in einen unruhigen Schlaf, bis mich erneut ein lautes Geräusch zusammenfahren ließ.
Es klingelte an der Wohnungstür.
In der festen Annahme, dass es Steve sei, der zurückgekommen war, sprang ich auf, lief zur Tür und betätigte ich die Wechselsprechanlage.
„Steve?“
„Security“, ertönte eine mir fremde Stimme. „Caitlin Jennings?“
„Ja?“
„Ich habe von Steve den Auftrag, Sie hier abzuholen und zu Ihren Eltern zu bringen.“
„Wo ist er?“, fragte ich verwundert.
„Er ist mitten in einem Einsatz und wird noch dringend gebraucht. “
Das war einleuchtend.
„Was ist mit David?“
Die Stimme zögerte kurz.
„Es geht ihm gut.“
„Okay.“
Ich löschte schnell das Licht, schloss die Wohnung ab und lief nach unten. Dort erwartete mich ein Mann mittleren Alters, der mir die Tür zu einem dunklen VW öffnete. Ich warf wie verabredet den Schlüssel in den Briefkasten und kletterte dann auf den Beifahrersitz, während ich dem Sicherheitsbeamten die Adresse meiner Eltern nannte.
Wortlos stieg er ein, schloss die Tür und betätigte die Zentralverrieglung.
Irritiert sah ich ihn an.
„Was tun Sie da?“
„Was glaubst du wohl?“
Ich starrte in sein Gesicht, und was ich in diesem Moment in seinen Augen sah, gefiel mir nicht. Die Erkenntnis war wie ein Schlag in den Magen.
„Sie sind gar nicht vom Sicherheitsdienst!“
Er grinste diabolisch.
„Nein.“
„Was… Was wollen Sie von mir?“
„Keine Sorge, meine Liebe. Das ist nur ein Test. Ich möchte gern herausfinden, wieviel dieser verdammten Stadt ihre Lichterprinzessin wert ist!“
„Sie sind…“
Er hob scheinbar amüsiert die Augenbrauen.
„Jetzt bin ich gespannt.“
Ich schätzte ihn auf Mitte Fünfzig, vielleicht auch sechzig, er wirkte etwas untersetzt, aber gepflegt, mit dichtem, graumeliertem Haar, das sehr kurz geschnitten war. Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Sie wirkten leer, wie bei einem Menschen, der keine Träume mehr zu haben schien, traurig und – entschlossen.
„Sie haben die Briefe an die Stadtverwaltung geschrieben“, flüsterte ich entsetzt.
„Richtig. Bist ein kluges Mädchen.“
„Warum haben Sie das getan?“
„Haben sie dir die Briefe nicht gezeigt?“ Er sah mich an und nickte dann. „Natürlich nicht. Ist ja klar.“ Er beugte sich vor und trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad. „Aber immerhin haben sie meine Zeilen ernst genommen. Ich habe sie aufgescheucht wie einen Schwarm dummer Vögel!“
„Was wollen Sie?“, wiederholte ich in banger Erwartung.
„Von dir? Eigentlich gar nichts, du bist gewissermaßen nur ein Mittel zum Zweck.“
„Aber… Wieso?“
„Um mich zu rächen.“
„Wofür?“
Er starrte durch die Windschutzscheibe, hinaus auf den von Straßenlaternen schwach beleuchteten Asphalt. Dann begann er zu erzählen.
„Wir hatten einen kleinen Laden in der Innenstadt. Und ein schönes kleines Häuschen. Unser ganzes Leben haben wir ehrlich dafür gearbeitet.“
„Was ist passiert?“, fragte ich vorsichtig.
Er schnaufte verächtlich.
„Jetzt steht dort ein verdammter Supermarkt, den eigentlich keiner braucht. Sie haben uns alles genommen, unsere gesamte Existenz. Eine Entschädigung haben wir nie bekommen. Sie faselten etwas von missachteten Gesetzen, und dass wir das Grundstück, auf dem unser Haus stand, damals unrechtmäßig erworben hätten. Der Anwalt, der uns vertrat, konnte nichts ausrichten.“ Er lachte bitter und lehnte sich zurück. „Ich hatte sowieso das Gefühl, dass der Vogel gekauft war und von Anfang an gegen uns arbeitete. Den Prozess hätten wir uns sparen können, der hat nur unsere restlichen Finanzen gefressen. Zum Schluss hatten wir unseren Laden verloren, unser Haus war weg, und wir bekamen eine Entschädigung, von der wir uns gerade mal eine Wohnung in einem Plattenbau leisten konnten. Mehr stand uns sowieso nicht zu, da wir ja nun erwerbsunfähig waren. Meine Frau hat das alles nicht verkraftet und sich das Leben genommen.“ Er sah mich an und seine Augen funkelten böse. „Allein dafür sollen sie büßen!“
Für einen Moment war es still im Auto. Der Mann starrte er wütend geradeaus. Dann lachte er, doch sein Lachen klang nicht echt. Irgendwie unnatürlich, fast schon irre. Ich bekam eine Gänsehaut.
„Es war so verdammt einfach“, sagte er kopfschüttelnd. „Wie leicht man Menschen doch kaufen kann! Für ein paar Geldscheine haben sie die wunderschöne, saubere Stadtfete aufgemischt. Ich bin diesen Typen echt dankbar. Es war herrlich, eine winzig kleine Genugtuung!“
Er drehte den Kopf und sah mich an. „Du warst doch auch da. Auf dieser VIP-Party hinter der Bühne, he?“
„Ja“, erwiderte ich und versuchte meiner Stimme einen einigermaßen festen Klang zu geben. „Mein Freund hat eine schlimme Kopfverletzung von einem der Wurfgeschosse. Er hatte niemandem etwas getan!“
„Ich hatte auch niemandem etwas getan, verstehst du?“, fauchte er mich an. „Wie sagt man so schön? Ut pur pari respondeas, Auge um Auge.“
Ich schluckte.
„Hören Sie… Lassen sie mich einfach wieder aussteigen. Ich werde niemandem erzählen, dass Sie mich entführen wollten! Mein Vater kann Ihnen helfen, er hat in seiner Firma gute Kontakte zu allen möglichen Leuten. Er kann vielleicht dafür sorgen, dass Sie eine angemessene Entschädigung bekommen!“
Er starrte mich sekundenlang an und schnaubte dann verächtlich.
„Hat dein Vater auch gute Kontakte ins Jenseits?“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, ich wollte nur wissen, ob er mir meine verstorbene Frau wieder zurückbringen kann!“
Ich senkte beschämt den Kopf. Darauf hatte ich keine Antwort.
Er schien nichts anderes erwartet zu haben und nickte nur mit verbittert zusammengepressten Lippen, während er den Motor startete.
„Dann wollen wir mal…“
Mein Herz krampfte sich angstvoll zusammen. Wohin würde er mich bringen?
In diesem Augenblick ertönten rings um uns herum Polizeisirenen.
Dann ging alles rasend schnell.
Einsatzwagen der Polizei verstellten uns den Weg. Polizeibeamte forderten den Entführer mit vorgehaltenen Waffen auf, aus dem Wagen zu steigen und sich zu ergeben.
„Bitte... machen Sie, was die sagen“ versuchte ich ihn mit zitternder Stimme zu beschwichtigen, aber er schien mich gar nicht zu hören.
Nach kurzem Zögern, das mir wie eine Ewigkeit erschien, atmete er schließlich tief durch, griff nach dem Zündschlüssel und stellte den Motor wieder ab.
„Tja, das war`s dann wohl endgültig“, sagte er heiser und nickte wie zur Bestätigung.
"Was wollen Sie jetzt tun?" flüsterte ich in banger Erwartung.
"Was wohl..." Wieder dieses bittere, hoffnungslose Lachen. "Ich hatte doch sowieso keine Chance. Aber wenigstens haben sie einen kleinen Denkzettel bekommen. So sollte man nicht mit Menschen umgehen. Vielleicht denkt tatsächlich irgendwann mal jemand in der Chefetage darüber nach.“ Er drehte erneut den Kopf und sah mich an. Seine Augen wirkten nur noch traurig und resigniert. „War angenehm, mit dir zu plaudern. Nimm`s nicht persönlich. Bist ein nettes Mädchen.“
Er ließ die Zentralverrieglung aufschnappen, öffnete die Tür und stieg mit erhobenen Händen aus.
Sie nahmen ihn sofort fest und legten ihm Handschellen an.
Ich saß im Wagen, unfähig mich zu rühren, als die Beifahrertür aufgerissen wurde.
„Caitlin!“
„David!“
„Bist du okay?“
Er trug einen dicken Druckverband über dem linken Auge, die Stelle, an der die Flasche ihn getroffen hatte.
„Mir fehlt nichts“, erwiderte ich mit zitternder Stimme und stieg mit immer noch zitternden Knien aus dem Wagen. „Aber was ist mit dir?“
„Er sollte in der Klinik bleiben, aber er war nicht zu halten“, erklärte Steve, der soeben hinter David auftauchte. „Die Verletzung hat ihm anscheinend nicht weiter geschadet, er ist stur wie eh und je.“
Ungeachtet dessen umfasste ich Davids Schultern und sah in seine Augen.
„Ich hatte wahnsinnige Angst um dich!“
Er lachte bitter und zog mich in eine innige Umarmung.
„Wem sagst du das, Prinzessin! Die letzten Minuten haben mich fast um den Verstand gebracht!“