Wie Ihr wisst, war mein Sauhund ein weitgereister Mensch. Laut seiner Aussage, ist er etwa im Jahre 1300 nach Christi Geburt zur Welt gekommen. Ganz exakt wusste er es auch nicht, denn in der damaligen Zeit wurde noch nicht so genau Buch über Geburten geführt wie heutzutage. Meist wurde so etwas in den Kirchenbüchern vermerkt, öfters waren aber Eintragungen in den Familienbibeln zu finden. Viele Geistliche, die diese Register für die Kirche führen sollten, vernachlässigten ihre Pflichten und gaben sich lieber der Sünde hin. Deshalb gab es oft ein wahres Durcheinander bei den Geburten und Todesfällen. Aber gut, wie Ihr wisst, gab es den Sauhund wirklich, auch wenn seine Geburt nicht exakt belegt wurde.
Eines Tages erzählte mir mein Sauhund über eine Reise ins osmanische Reich. Als er diese antrat, war er bereits etwas über 300 Jahre alt. Viele können es sich nicht vorstellen, dass ein Mensch so alt werden konnte, doch der Sauhund war ja etwas ganz Besonderes.
Es verschlug ihn eines Tages nach Konstantinopel, das etwa 200 Jahren vorher in Istanbul umbenannt wurde. Er erzählte mir, sein Aufenthalt in der osmanischen Metropole wäre so um 1650 herum gewesen. Ganz genau konnte er sich auch nicht an das Jahr erinnern. Das kommt nun mal vor, wenn man schon so alt ist, dass einem die Erinnerungen davon fliegen wie lose Blätter im Wind.
Ich selber habe aber ein paar Recherchen gemacht, um etwas genauer über Istanbul Bescheid zu wissen. Ganz dumm will man ja auch nicht sterben. Im Jahre 1453 gelang es dem Sultan Mehmed II. mit einer etwa 80000 Mann starken Armee die Stadt zu erobern. Kaiser Konstantin XI., der bis dahin das byzantinische Reich von dort aus regierte, versuchte mit seiner mageren Streitmacht die Angriffe des Sultans abzuwehren. Doch es gelang ihm nicht. Was sollte man mit nicht einmal 10000 Mann gegen diese große Übermacht anstellen? Der arme Kaiser hauchte bei der letzten Schlacht um die Stadt sogar sein Leben aus. Damit war das byzantinische Reich Geschichte und eine neue Ära des osmanischen Reichs mit Sultan Mehmed an der Spitze begann.
Die Sultane, die von nun an in der Stadt residierten, hatten ein schönes Leben. Reichtum, Macht und Frauen in Hülle und Fülle. Wohin das Auge blickte, Schönheiten weiblicher Natur. Sie kamen aus vielen Ländern, wurden geraubt oder waren direkte Nachkommen des Herrschers. Oft kam es auch vor, dass Könige und Fürsten anderer Nationen ihre Töchter an die Sultane verkauften, um Verbindungen mit dem Herrscherhaus eingehen zu können. So war es damals oft genug, nicht nur im osmanischen Reich, sondern auch in den christlichen Regionen Europas. Macht bedeutete alles und so manch Einer ging dafür über Leichen. Die Frauen waren nichts wert und mussten tun, was ihnen befohlen wurde. Nur wenigen Frauen gelang es, sich gegen die allgegenwärtige Macht der Männer zu behaupten und ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen.
In der Nähe des Sultans durften sich nur einige, penibel ausgesuchte Frauen bewegen. Sie wurden zu den oftmals obskuren Praktiken der sexuellen Befriedigung des Herrschers herangezogen. Diese Damen hatten allerdings ein nicht so freies Leben wie die Sultane. Sie mussten im Harem leben, beherrscht von der Sultans-Mutter, die meist ein sehr strenges Regime führte. Sie wählte auch die Frauen aus, die ihr Sohn des Nachts begatten durfte. Da wurde nichts den Zufall überlassen. Allein eine einzige Frau hatte die Ehre, seine Hauptfrau zu sein. Diese bekleidete daraufhin einen besonderen Rang in der Hierarchie, gleich nach dem der Sultans-Mutter. Das durfte die Frau so lange sein, bis diese das Glück hatte, dem Machthaber einen männlichen Nachkommen zu gebären. Wenn dies geschah, wurde eine neue Hauptfrau ausgewählt. Wie Ihr seht, war so ein Harem also nicht nur ein Ort der sexuellen Gelüste, sondern auch ein Ort, an dem Politik betrieben und die Dynastie reproduziert wurde. Männliche Nachkommen waren in diesen kriegerischen Zeiten immer sehr wichtig.
Es lebten aber nicht nur Sklavinnen und Frauen des Sultans im Harem, sondern auch Prinzessinnen, die dort von der Sultans-Mutter und deren Untergebenen streng erzogen wurden. Die Hierarchie war genau geregelt. Die Möglichkeit, dort auszubrechen, sehr gering. War eine Frau einmal im Harem, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu beugen und sich ihrem Schicksal zu ergeben.
An solch einem Ort der Lust und Intrigen war nun unser Sauhund gelandet. Es gab Zeiten, da war er sehr umtriebig. Eigentlich war er das sein ganzes Leben lang. Ständig auf der Suche nach lustvoller Befriedigung. Nicht, dass Ihr nun denkt, er war ein Haderlump oder Schwerenöter. Nein, ganz im Gegenteil. Konnte eine Frau einmal seine Begierde zum Brennen bringen, war sie seine Königin, die er auf Händen trug.
Es war also so um 1650 herum, als unser Sauhund in Istanbul ankam. Die Stadt erblühte im Reichtum. Die Hagia Sophia war erneuert worden und jetzt anstatt ein byzantinisches Gotteshaus, eine Moschee, die Sultan Ahmed Moschee – auch Blaue Moschee genannt - wurde errichtet. Juden lebten in der Stadt und durften ihrer Religion nachgehen, Handel treiben – meist war das der Geldverleih mit dem sie ihren eigenen Reichtum mehrten. Der Sauhund verliebte sich sofort in die Metropole und beschloss, hier sein Glück zu suchen. Lange Zeit strich der durch die Gassen und Straßen, bestaunte die Menschen, die meist sehr gastfreundlich und Fremden gegenüber aufgeschlossen waren.
Eines Tages kam er auch am Topkapi-Palast vorbei, der vor vielen Jahren von einem mächtigen Herrscher erbaut und nun als Harem genutzt wurde. Der Sauhund wunderte sich, warum der Palast so streng bewacht wurde, wusste er doch noch nichts davon, was hinter den Mauern vor sich ging.
„Selam, werter Wächter“, wagte er sich nach einiger Zeit an einen streng aussehenden strammen Burschen heran, der an einem der Eingänge stand. „Sagt, was hat es mit diesem wundervollen Palast auf sich? Er wird bewacht, als wären Kleinode von unfassbarem Wert darinnen.“
Der Wächter sah herablassend auf die seltsame Gestalt mit den grünen Haaren und der Schweineschnauze herunter, die es gewagt hatte, ihn bei seiner wichtigen Mission zu stören.
„Du dämlicher Depp“, erwiderte er, „weißt du denn nicht, dass hinter diesen ehrwürdigen Mauern die schönsten Frauen des Reiches residieren? Darunter auch auf Mutter unseres hochwohlgeborenen Sultans, dem Herrscher über das allmächtige osmanische Reich.“
„Oh herzlichsten Dank für Eure Auskunft, werter Wächter“, sagte der Sauhund darauf. Dabei machte er eine tiefe Verbeugung in Richtung des Aufpassers. „Wäre es denn möglich, der Sultan-Mutter und ihren Damen meine Aufwartung zu machen?“, fragte er nach. Er sah sich schon inmitten dieser Schönheiten auf seidenen Kissen ruhen und die köstlichsten Speisen zu sich nehmen.
„Bist du von Sinnen, du Tölpel“, schimpfte die Schildwache. „Die Damen sind nur unserem Sultan vorbehalten. Nur er darf in ihre Nähe – und die Eunuchen. Solche wie du sind nicht erwünscht. Und nun gehe von dannen, sonst rufe ich meine Leute, die dich eigenhändig hier entfernen werden.“
Erschrocken sah der Sauhund den grimmigen Zerberus an. Solch Worte hatte er in dieser gastfreundlichen Stadt nicht erwartet. Rückwärts katzbuckelnd entfernte er sich aber sogleich, nachdem ihm nochmals ein sehr böser Blick zugeworfen wurde. Doch im Hinterkopf hatte unser Sauhund schon die Idee, mit einer dieser im Verborgenen lebenden Schönheiten in Kontakt zu kommen. Wie er das bewerkstelligen sollte, dazu hatte er noch keinen Plan. Doch es würde klappen, da war er sich sicher. Umsonst war er kein mit allen Wassern gewaschener Sauhund.
Lange Zeit strich unser Sauhund durch Istanbuls Straßen. Überall sah er sich um, knüpfte Kontakte, verrichtete hier und da kleine Arbeiten, denn von irgendwas musste auch er leben. Kieselsteine rollten über den Ladentisch und Hosenknöpfe nahmen die Händler nicht.
Eines Tages strich er wieder durch die Gassen und sah sich um, wo er ein paar Taler verdienen konnte. Da bemerkte er auf einmal eine Menschenmenge, die sich an den Straßenrand drängte und neugierig eine Kolonne bestaunte, die dort entlang ging. Vorne, hinten und an den Seiten schritten schwer bewaffnete Männer. Mehrere kräftig aussehende Kerle mit Turbanen, nackten Oberkörpern und Pluderhosen trugen eine Sänfte, hinter der noch einige wunderhübsche, verschleierte Mädchen herliefen. Doch leider war der Blick in die Sänfte hinein verwehrt.
„Wer wird denn da entlang getragen?“, fragte der Sauhund einen neben ihm stehenden Mann.
„Ach, das ist nur eine Prinzessin des Harems mit ihrem Gefolge“, erwiderte dieser. „Aber schau nicht zu genau hin, das mögen die nicht. Daher ist am Fenster der Sänfte auch ein Behang angebracht, um die Frauen vor den Blicken gieriger Männer zu schützen.“ Mit vor Stolz geschwollener Brust gab der Mann sein Wissen preis.
„Vielen Dank, werter Herr Nachbar, gehabt euch wohl“, bedankte sich unser Sauhund. Doch damit war seine Neugier noch längst nicht befriedigt. Unbemerkt schlich er der Sänfte hinterher, immer darauf bedacht, doch einen einzigen Blick auf die Dame darinnen erhaschen zu können. Das Glück schien im hold zu sein, denn nur wenige Straßen weiter hielten die Männer an. Sie befanden sich inzwischen am Eingang des Großen Basars. Das kleine Türchen wurde geöffnet, der Vorhang entfernt. Dann kam eine zarte Hand aus dem dunklen Inneren hervor, die von einem der Wächter ergriffen wurde. Sauhund hielt den Atem an. Endlich bekam er die Prinzessin zu Gesicht. Mit einer grazilen Bewegung entstieg sie der Sänfte, keusch ihr Antlitz mit einem Schleier verhüllt. Lange, seiden glänzende Haare fielen ihren Rücken hernieder. Ihr Gewand schimmerte golden und bedeckte das ganze Mädchen von oben bis unten. Den Blick scheu nach unten gewandt, schritt sie zwischen den Wachen auf den Basar zu. Ihr folgten Sklavinnen, die genau wie sie verhüllt waren.
Fasziniert schaute der Sauhund den weiblichen Geschöpfen nach. Eine war schöner als die andere. Vor allem die letzte befand er noch sehr viel schöner als die Prinzessin selbst. Zarte Fesseln lugten bei jedem Schritt ihrer nackten Füße unter ihrem Gewand hervor. Doch leider war auch hier kein Blick in das entzückende Antlitz möglich. So stellte sich unser Sauhund in seiner Fantasie das Mädchen als Schönste aller Schönen vor. Ihre Schritte folgten in noch grazilerer Abfolge der Prinzessin, die dem Sauhund auf einmal wie ein grobes Bauernmädchen aus seiner Heimat vorkam.
„Die muss ich haben“, schoss ihm durch den Kopf. Am liebsten wäre er dem Mädchen sofort gefolgt, um es in seine Arme zu schließen. Doch die Menge, die sich neugierig um das Gefolge der Prinzessin scharte, drängte ihn zurück. Sauhund wäre nicht Sauhund gewesen, wenn er auch hier keine Lösung parat hatte. Inzwischen kannte er sich gut in den engen Gassen aus und wusste, wie er unbemerkt von den wachsamen Blicken der Aufpasser folgen konnte. Sein Ziel immer vor Augen, lief er schnurstracks zum Eingang des Großen Basars und erwartete dort das Gefolge der Prinzessin.
„Scher dich weg, die Prinzessin will hier hindurch. Ungläubige, wie du, dürfen mit Ihrer Hoheit nicht in Berührung kommen“, sprach ihn einer der Wächter an, der die Prinzessin bewachte. Dabei wedelte er heftig mit den Armen, als wolle er eine Wolke böswiller Fliegen verscheuchen. Um nicht noch Schläge einzusammeln, zog sich der Sauhund in eine Ecke zurück, von wo aus der das Ziel seiner Begierde beobachten konnte. Das Glück war ihm hold und er konnte unbeachtet hinter den Frauen in den Basar schlüpfen, wo ihn nur von Laternen erhellte Gänge erwarteten.
Vorsichtig schlich der Sauhund hinter den Frauen her. An einem Stand mit kostbarem Geschmeide ließ die Prinzessin ihr Gefolge halten. Sofort scharten sich die Wächter erneut um die Frauen herum, um sie vor möglichen Übergriffen zu schützen. Dessen unbeachtet gelang es dem Sauhund trotzdem, sich dem Mädchen seiner Begierde zu nähern. Sie stand ganz am Ende des Gefolges. Sie war dafür verantwortlich, die Einkäufe der Prinzessin in ihre Obhut zu nehmen. Eine Prinzessin trägt ihre Einkäufe ja nicht selber, sondern hat dafür Bedienstete.
„Pst, Fräulein“, machte sich der Sauhund bemerkbar. Er näherte sich ganz vorsichtig. „Pst“, machte er wieder, um auf sie aufmerksam zu machen. Doch das Mädchen reagierte nicht, sondern war darauf bedacht, der Prinzessin sofort zu Diensten zu sein, wenn sie nach ihr verlangte. Die Prinzessin konnte sehr ungehalten werden, wenn man sie zu lange warten ließ.
Nach einigen erfolglosen Versuchen, auf sich aufmerksam zu machen, gelang es dem Sauhund endlich, das Mädchen zu erreichen. Dunkle Augen, umfasst von noch dunkleren Wimpern blickten ihm neugierig entgegen.
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“, fragte sie schüchtern.
„Mein Name ist Sauhund“, stellte er sich vor. Dabei machte er eine tiefe Verbeugung. „Ich sah Euch und war sofort hin und weg“, sprach er weiter.
„Seid still, werter Herr. Man darf Euch nicht bemerken. Uns Sklavinnen ist es nicht erlaubt, außerhalb der Mauern des Harems mit Männern zu sprechen“, erklärte sie aufgeregt. „Die Prinzessin lässt mich auspeitschen, wenn sie etwas bemerkt.“
„Wie ist Euer Name, holdes Mädchen“, fragte der Sauhund. „Ich will Euch gerne kennenlernen.“
„Seid endlich still“, sagte das Mädchen wieder. „Mein Name ist Suleika. Doch nun muss ich weiter. Die Prinzessin wird gleich nach mir verlangen.“ Sie wandte sich ab, um näher zur Prinzessin zu treten, die eben ihre Einkäufe bezahlte.
„Wartet doch, holde Schönheit. Kann ich Euch wiedersehen? Ich verzehre mich nach Euch!“
„Seid doch endlich still!“, schimpfte Suleika erneut. Sie war neugierig auf den mutigen Burschen geworden. „Kommt heute Abend zum Sonnenuntergang an die kleine Pforte am westlichen Ende des Harems. Dort erwarte ich Euch. Doch seid vorsichtig.“ Kaum hatte sie die letzten Worte gesprochen, rief die Prinzessin schon nach ihr. „Ich muss nun eilen“, verabschiedete sie sich schnell, zog ihren Schleier fester und schlüpfte zwischen den anderen Frauen hindurch zur Prinzessin.
Der Sauhund stand wie vom Blitz getroffen hinter dem Gefolge und starrte auf Suleika, die ergeben den Kopf vor ihrer Herrin senkte und deren Befehle entgegen nahm.
Die restliche Zeit des Tages verging nicht wie sonst wie im Fluge, sondern zog sich maßlos in die Länge. Unserem Sauhund war es, als hätte der Tag nicht vierundzwanzig, sondern achtundvierzig Stunden. Als endlich der Abend dämmerte und die Sonne über dem Bosporus unterging, schlich sich unser Verliebter zu der Pforte, die ihm Suleika genannt hatte. Noch war dort alles ruhig. Kein Mensch war zu sehen, auch in der Umgebung war niemand zu entdecken. Doch um nicht selbst entdeckt zu werden, schlug sich der Sauhund in die Büsche, um dort auf Suleika zu warten. Die Zeit schien still zu stehen. Es wurde immer dunkler und endlich versank die Sonne vollends in den Fluten. Unruhig trat der Sauhund von einem auf das andere Bein. Er wünschte sich Suleika herbei, der er hoffnungsvoll entgegenfieberte.
Endlich wurde die Pforte von innen geöffnet. Sauhund lugte hinter den Büschen hervor, um den Ankömmling erkennen zu können. Der eben aufgegangene Mond spendete gerade mal so viel Licht, dass er die Person erkennen konnte. Es war Suleika, die er bereits sehnsüchtig erwartet hatte. Erfreut sprang der Sauhund aus dem Gebüsch und lief auf das junge Mädchen zu.
„Oh Suleika, Geliebte“, rief er erfreut aus und wollte sie in seine Arme schließen. Doch das Mädchen wies ihn zurück.
„Was macht Ihr für einen Lärm, werter Herr“, mokierte sie sich. „Was denkt Ihr, wenn wir hier entdeckt werden? Wir wären des Todes!“ Dabei sah sie ihn mit ihren großen dunklen Augen böse an.
„Entschuldigt, das wollte ich nicht“, entschuldigte sich der Sauhund. „Mein Herz machte freudige Sprünge, als ich Euch erblickte. Eure Schönheit blendet mich und macht mich von Sinnen.“
„Kommt, gehen wir an ein ruhiges Plätzchen, an dem wir nicht entdeckt werden können“, entgegnete Suleika und zog den Sauhund an seiner Hand von der Pforte weg. Schnellen Schrittes lief sie auf eine Ansammlung mehrerer Büsche zu und verschwand direkt vor seiner Nase im Dickicht.
Es dauerte einige Zeit, bis Suleika das Versteck angenehm war. Sie ließ sich auf dem Boden nieder und schaute dem Sauhund neugierig entgegen, der sich neben sie setzte.
„Wie kommt Ihr hierher in unser Land und warum ist Euer Aussehen so eigenartig“, fragte sie nach Minuten absoluter Stille zwischen ihnen.
„Ach, das ist eine sehr lange Geschichte. Wenn Ihr wollt, dann erzähle ich sie Euch“, antwortete der Sauhund. Er ahnte, die absolute Wahrheit war der beste Weg, bei seiner Angebeteten Punkte zu machen.
„Dann erzählt…“, forderte Suleika ihn auf… und der Sauhund begann mit ruhiger Stimme zu berichten. Suleika hörte ihm zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Erst als er an der Stelle ihrer ersten Begegnung angekommen war, seufzte sie leise auf.
„Was ist Euch?“, fragte der Sauhund besorgt. „Ihr seht so aus, als würde Euch etwas auf dem Herzen liegen.“
„Da habt Ihr Recht“, erwiderte das Mädchen. Dabei lief ihr eine Träne die Wange hinab. „Ich vermisse meine Familie so sehr. Mein Herz wird schwer, wenn ich an meine Mutter und den Vater denke, die alt und arm zurückbleiben mussten, ohne mich jeweils wiedersehen zu dürfen.“
„Aber, könnt Ihr sie denn nicht besuchen?“, fragte der Sauhund. Er erinnerte sich noch gut daran, wie ihm zumute war, als er vom Ableben seiner geliebten Eltern erfuhr.
„Niemals!“, fuhr Suleika auf. „Ich wurde geraubt, dem Schoß meiner Familie und meiner Heimat entrissen und hier eingesperrt. Mein weiteres Leben wird hier sein, als Sklavin der Prinzessin. Immer den Launen des Sultans und seiner Hauptfrau ausgeliefert.“ Suleika schluchzte leise. „Eigentlich wurde ich geraubt, um dem Sultan Liebesdienste zu leisten. Doch der hatte, außer mich meiner Jungfräulichkeit zu berauben, kein weiteres Interesse an mir. Deshalb fiel ich in den Rang einer niedrigen Sklavin zurück.“ Suleika fühlte, wie es ihr leichter ums Herz wurde, als sie dem Sauhund ihre Geschichte erzählte. „Ihr aber seid ein freier Mann, könnt tun und lassen, was Ihr wollt. Niemand bestimmt über Euch… aber ich…“, Suleika seufzte wieder, dass es dem Sauhund schwer ums Herz wurde. Zärtlich strich er mit einem Finger über Suleikas tränennasse Wange.
Der Sauhund spürte instinktiv, dass er etwas tun musste. Das Schicksal des Mädchens wog ihm schwer. Nachdenklich schaute er sie an. Ihre dunklen Augen blitzten im Mondlicht wie Sterne, ihre vollen Lippen begehrten, geküsst zu werden. Ihr kleiner Busen, bedeckt mit einer Tunika aus einfachem Linnen, hob und senkte sich. Suleika schürte sein Begehren. Doch erst musste er sie aus ihrer misslichen Lage befreien.
„Suleika, hör mir zu“, begann der Sauhund nach einiger Zeit des Überlegens leise auf das Mädchen einzusprechen. Er ging einfach in ein vertrauteres Du über. Suleika ließ ihn gewähren. „Ich werde dich hier wegbringen. Bitte gedulde dich aber ein wenig. Ich muss erst genau überlegen. Treffen wir uns jeden zweiten Abend kurz nach Sonnenuntergang hier an der Pforte. Eines Tages wird es so weit sein, dass du diesen für dich so grauslichen Ort verlassen kannst.“
„Sauhund“, rief Suleika aus. Erschrocken schlug sie sich sogleich mit der flachen Hand auf den Mund, da sie zu laut gesprochen hatte. „Sauhund“, flüsterte sie nun, „ich werde bereit sein, wann immer du es auch bist. Ein schöneres Geschenk kannst du mir gar nicht machen. Auch wenn wir uns erst seit dem heutigen Tag kennen, weiß ich, dass du es gut mit mir meinst. Bringe mich hier weg, bitte.“
„Das werde ich, Geliebte“, erwiderte der Sauhund und beugte sich über das Mädchen, um ihre vollen Lippen zu küssen. Suleika zog ihn an sich und küsste zurück. Der Sauhund verspürte heißes Begehren. Doch er hielt sich zurück, um Suleika nicht zu verschrecken. Dazu hatten sie später immer noch genug Zeit. „Ich komme wieder, das schwöre ich dir“, sagte der Sauhund zwischen zwei Küssen.
„Ich weiß“, flüsterte Suleika, „ich werde auf dich warten und jeden Tag bereit sein, um dir zu folgen. Nur noch dafür werde ich leben. Doch nun muss ich zurück in den Harem, ehe mein Verschwinden entdeckt wird. Ich bin zwar nur für die Einkäufe der Prinzessin verantwortlich, doch manchmal verlangt sie auch nachts nach meinen Diensten.“
„Dann geh, geliebte Suleika. Ich bin bald wieder an deiner Seite“, erwiderte der Sauhund und führte das Mädchen zurück zu der Pforte, hinter der sie schnell verschwand. Als sie ins Schloss fiel, blickte er noch einige Zeit versonnen auf die Tür, der den Zugang zum Harem versperrte.
Die Tage gingen ins Land. Der Sauhund war rastlos und dachte angestrengt nach, wie er Suleika aus dem Harem befreien konnte. Doch es fiel ihm kein Weg ein, sie in die Freiheit zu führen. So traf er sich aller zwei Tage mit seiner Liebsten an der Pforte, doch gute Nachrichten konnte er ihr lange Zeit nicht überbringen.
Der Sauhund war immer noch fremd in der Stadt und nur von ganz wenigen Menschen konnte er sagen, dass er ihnen vertraute. Dazu gehörte auch der Jude Jeremia, für den er ab und zu Botengänge erledigte. Genau an diesen wendete er sich nun mit seinem Problem.
„Du bist wahnsinnig, Sauhund“, sagte Jeremia nur, als er das Anliegen angehört hatte. „Wenn die euch gefangen nehmen, hängt ihr am Galgen.“ Er schüttelte entsetzt mit dem Kopf.
„Ich muss aber“, erwiderte der Sauhund. „Ich liebe Suleika über alles, sie ist unglücklich im Harem. Das muss ein Ende haben. Bitte, hilf mir.“
„Ich sehe, du lässt dich nicht von deinem Vorhaben abbringen. Ich bin dein Freund und helfe dir. Egal, was passieren wird“, antwortete Jeremia. „Sei vorsichtig und handle voller Umsicht“, warnte er seinen Freund. „Doch nun sag, wie soll ich dir helfen?“
„Ich brauche Geld, um reisen zu können, und ein Pferd, am besten sogar noch zwei“, sprach der Sauhund aus.
„Geld ist kein Problem“, sagte Jeremia. „Zwei Pferde kann ich auch besorgen. Ein Geschäftsfreund züchtet Araber, bestes Geblüt, ausdauernd und schnell.“
„Denkst du nicht, es fällt auf, wenn Suleika und ich auf edlen Arabern durch das Land ziehen. Das passt gar nicht zu uns. Schau mich doch mal an. Meine Kleidung, mein Auftreten ist nicht das eines Mannes in hoher Position.“
„Auch dazu weiß ich Rat. Ich kleide dich ein, nur edelster Zwirn. Genau so Suleika. Ihr werdet als frisch verheiratetes Ehepaar ziehen, mit Gefolge und veränderten Namen“, ließ Jeremia die Katze aus dem Sack. Eine plötzliche Eingabe hatte ihn erfasst und ließ seine Ideen zu Suleikas Flucht aus ihm heraus sprudeln wie aus einem Springbrunnen. „Du reitest als Jude in meinem Auftrag, das fällt nicht auf. Ich stelle öfters Karawanen zusammen, die Waren ins Landesinnere und noch sehr viel weiter weg bringen. Ihr reitet weiter bis Jerusalem. Dort könnt ihr so lange ihr wollt in meinem Haus leben, ohne erkannt zu werden.“
Der Sauhund schaute seinen jüdischen Freund erfreut an. „Wenn das gelingen sollte. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.“
„Das musst du nicht. Mache nur deine Suleika glücklich. Das ist mir des Dankes genug“, erwiderte Jeremia. Dann besprachen sie noch den Ablauf der Flucht, die schon am nächsten Tag vonstatten gehen sollte.
Am nächsten Tag kurz nach Sonnenuntergang war wieder Zeit, sich mit Suleika zu treffen. Der Sauhund ging diesmal mit seiner neuen Kleidung zur Pforte, an der er seine Geliebte erwartete. Erschrocken wollte Suleika flüchten, als sie des Fremden ansichtig wurde, der ihr plötzlich gegenüber stand.
„Lasst mich los“, flehte sie verzweifelt und versuchte, sich aus dem Griff des Sauhunds zu entwinden. Dabei blieb sie mit ihrem Schleier an einem Dornenbusch hängen. Sie riss daran und zerfetzte den zarten Stoff des Schleiers. Wütend riss sie sich den Gesichtsschutz herunter und warf ihn achtlos zu Boden.
„Suleika, ich bin es, dein Sauhund“, gab er sich zu erkennen. Da erst erkannte sie den Mann, der sie festhielt.
„Du?“, rief sie aus, „wie siehst du denn aus? Solch edle Kleidung.“
„Es ist so weit, heute ist der Tag deiner Freiheit gekommen“, erklärte ihr der Sauhund. „Komm, schnell. Ehe uns jemand entdeckt.“
Suleika wusste gar nicht, wie ihr geschah. Von Jetzt auf Gleich in der Freiheit, gerade noch eine Sklavin und jetzt eine freie Frau. Sie konnte es nicht fassen.
„Wo gehen wir hin?“, fragte sie, während sie dem Sauhund folgte. Der Stadtteil, in den er sie führte, war ihr nicht bekannt.
„Ich habe hier Freunde“, erklärte er ihr. „Du bekommst nachher neue Kleidung. Morgen bei den ersten Strahlen der Sonne wird uns eine Karawane in die Nähe deiner Heimat bringen. Dort holen wir deine Eltern. Danach geht es weiter in unsere neue Heimat.“
Schweigend gingen sie den restlichen Weg zu Jeremia weiter. Suleika wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Ereignisse überschlugen sich.
„Ich hoffe, wir können ohne erkannt zu werden, die Stadt verlassen. Spätestens morgen früh wird die Prinzessin meine Abwesenheit bemerken und dann wird im Harem die Hölle los sein“, sagte Suleika leise, so dass der Sauhund sie kaum verstehen konnte.
„Bis die Suche nach dir losgehen wird, sind wir längst aus der Stadt. Niemand wird uns erkennen“, versuchte der Sauhund sie zu beruhigen. „Lass uns so schnell es geht zum Haus meines Freundes gehen. Dann wird alles gut.“
Im Haus von Jeremia angekommen, wurden die beiden freundlich von Jeremia und dessen Frau Hala erwartet. Jeremias Frau nahm Suleika sogleich in Empfang und führte sie in ein anderes Zimmer, in dem neue Kleidung für das Mädchen bereit lag. Sie half ihr, sich umzukleiden. Aus der Sklavin Suleika wurde binnen kurzer Zeit die frisch verheiratete Jüdin Rachel. Niemand würde sie erkennen können. Erstaunt über ihre Wandlung beschaute sich Suleika in einem blank polierten Blech, der sonst der Hausfrau als Spiegel diente.
„Darf ich vorstellen, Rachel…“, sagte Hala lachend, als ihr Gemahl und der Sauhund nach einiger Zeit zu ihnen stießen. Sie nahm Rachel´s Hand und überreichte dem Sauhund seine Geliebte. „Pass gut auf sie auf“, sagte Hala zu ihm. „Und mach sie glücklich. Sie hat es verdient.“ Hala kamen die Tränen vor Rührung, auch Jeremia hatte mit sich zu kämpfen, seine Ermotionen unter Kontrolle zu bringen.
„Ruht euch noch ein wenig aus, bald graut der Morgen und ihr müsst abreisen“, riss er sich aus seinen Gedanken.
So begaben sich alle zur Nachtruhe, doch keiner von den vier Vertrauten konnte ein Auge schließen. Am nächsten Morgen reisten Suleika alias Rachel und der Sauhund mit der Karawane ab. Unbeachtet verließen sie die Stadt. Die Karawanen des Juden Jeremia waren den Wachen bekannt und konnten die Stadtgrenzen jederzeit unbehelligt passieren. So reisten die beiden Liebenden wohl umsorgt und unter guter Bewachung bis in Suleikas Heimat, wo sie deren Eltern in ihre Obhut nahmen und diese mit sich in ihre neue Heimat Jerusalem nahmen.
Suleikas Flucht wurde anfangs gar nicht bemerkt. Als Sklavin im niedrigsten Rang stand sie stets am Rande der Gesellschaft und wurde von den höher gestellten Haremsdamen kaum beachtet. Erst am Nachmittag, die Prinzessin wollte mal wieder zum Großen Basar, um Stoffe für neue Kleider einzukaufen, rief sie nach ihrer Sklavin, damit diese sie begleite. Doch von Suleika war keine Spur zu finden.
„Suleika, du Ausgeburt der Hölle, wo steckst du wieder“, schallte die sich überschlagende Stimme der Prinzessin durch den Harem. „Wenn ich dich in die Hände bekomme, werde ich dich eigenhändig auspeitschen, bis du um Gnade winselst.“ Die Prinzessin war außer sich vor Wut, weil ihre Sklavin nicht ihren Befehlen folgte. Sie rief nach den Wächtern, die das abtrünnige Mädchen zu suchen hatten. Doch auch diese kehrten erfolglos zurück.
„Suleika ist nirgends zu finden“, teilte einer der Männer der Prinzessin mit. In einer Hand hielt er Suleikas Schleier, den er vor den Mauern des Harems gefunden hatte. „Das ist das Einzige, was ich finden konnte.“
„Das ist doch Suleikas Schleier!“, rief die Prinzessin aus. „Was hat das zu bedeuten?“ Aufgeregt sprang sie von ihrem Sitzkissen auf. „Er ist zerrissen“, stellte sie fest. „Sag noch einmal, wo du den Fetzen gefunden hast!“
„Vor der westlichen Pforte neben einem Dornenbusch. Es waren auch Fußabdrücke zu sehen, kleinere, wie die der Sklavin und größere, wahrscheinlich die eines Mannes. Sie entfernten sich vom Harem, aber sie bis zum Ziel zu verfolgen, war unmöglich.“ Der Wächter sagte alles, was er beobachten konnte und brachte damit die Prinzessin immer mehr in Rage.
„Diese Metze, Hure verdammte…“, schimpfte sie außer Rand und Band. „Wahrscheinlich liegt sie gerade auf dem Lager eines Hurensohnes und treibt es mit ihm. Das wird sie büßen.“ Aufgeregt rannte sie zur Sultans-Mutter, um dieser zu berichten. Schnell war ein Suchtrupp aufgestellt, der sich der abtrünnigen Sklavin annehmen sollte. Doch alle Suche war ohne Erfolg, Suleika war und blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Suleikas Eltern waren außer sich vor Freude, als sie eines Tages ihrer geraubten Tochter gegenüberstanden. Nie hätten sie geglaubt, sie nochmals wiederzusehen. Doch das Schicksal war gnädig mit ihnen und hatte die verlorene Tochter zu ihnen zurückgebracht. Es kostete sie keine Sekunde Überlegung, ihrem Kind und dessen Begleiter in die Fremde zu folgen. In einem Land, in denen Jungfrauen im Namen des Herrschers geraubt und verschleppt wurden, wollten auch sie nicht bleiben. So folgten sie dem Sauhund und Suleika nach Jerusalem.
Die Reise in die ferne Stadt war lang und beschwerlich. Oft genug wollten die alten Leute aufgeben und zurückbleiben. Doch jedes Mal sprach ihnen die Tochter wieder neuen Mut zu. So kamen alle, müde und erschöpft, aber gesund und ohne körperliche Schäden in Jerusalem an.
Suleikas Eltern erhielten ein kleines Häuschen im Garten der großen Villa, die der Sauhund von seinem Freund Jeremia als Hochzeitsgeschenk erhalten hatte. Suleika und er selbst wohnten im Haupthaus, in dem bald lautes und fröhliches Kinderlachen zu hören war. Leider war es den Kindern und Enkelkindern nicht sehr lange gegönnt, die Großeltern um sich zu haben. Die Sehnsucht nach der Heimat ließ die beiden alten Leute krank werden und bald siechten sie dahin, bis sie ihr Leben in dem ihnen fremd gebliebenen Land aushauchten.
Doch Rachel, die sich nun wieder Suleika nannte, und der Sauhund, samt den Kindern, die ihm seine geliebte Frau geboren hatte, lebten bis zu Suleikas Tod in Jerusalem. Sie hatten ein ausgefülltes und glückliches Leben. Dem Sauhund war es schwer ums Herz, als auch Suleika den Weg ihrer Ahnen gehen musste und ihn verließ.
Jahre später bekam der Sauhund Heimweh. Es zog ihn zurück zum Ort seiner Geburt. Das Haus, in dem er so viele Jahre mit Suleika glücklich war, überließ er seinen Kindern, die in Jerusalem bleiben wollten. So zog der Sauhund mit nur wenigen Männern zurück in seine deutsche Heimat. Dort fand er auch seinen Geburtsort wieder. Doch die Menschen, die nun dort lebten, waren ihm fremd geworden und mieden ihn. Er zog sich zurück in den nahen Wald, wo er seine Hütte baute. Von da an lebte er dort, zurückgezogen, doch nie ganz allein. Seine Kinder waren im Herzen bei ihm, genau so wie Suleika, deren toter Körper in Jerusalems Erde ruhte.
© Salika von Wolfshausen / 19.05.2016