Noch am gleichen Abend kam Bahe mit dem inzwischen keiner gewordenen Zug Soldaten am Dorf Belu an. Die Stimmung war mehr als bedrückt. Nachdem sie sich am Morgen von dem Ort des Hinterhalts verabschiedet hatten, waren sie einen Kilometer später noch über die zur Schau gestellten Leichname von Selm und Verhat gestoßen. An Händen und Füßen waren die Späher zwischen die Äste der umstehenden Bäume gespannt worden. Danach hatten die Täter ihren Bauchraum aufgeschnitten, so dass ihre Gedärme bis zum Boden hingen. Es war mehr als ein gruseliger Anblick gewesen.
Zu allem Überfluss stellten die Veteranen sogar noch fest, dass die Beiden zum Zeitpunkt des Bauch Aufschneidens noch am Leben gewesen waren.
Das Grauen, welches sie dabei erfasste war etwas Anderes, als die Konsequenzen des Hinterhaltes. Im Kampf gefallene Soldaten waren eine Sache. Doch zu Tode gefoltert zu werden… das wünschte man niemanden.
Sie hatten einen kurzen Stopp eingelegt, um die Beiden von den Bäumen zu schneiden und am Wegesrande abzulegen. Zeit für eine Beerdigung hatten sie auch diesmal nicht. Um den furchtbaren Anblick ein Bisschen weniger schlimm zu machen, legten sie die Leichname diesmal auf den Bauch, um ihre offenen Wunden zu verbergen.
Danach ging es den restlichen Tag in voller Geschwindigkeit weiter. Bahe war beileibe nicht der Einzige, der sich mittlerweile erschöpft nur noch mit Mühen auf den Beinen halten konnte. Den meisten Soldaten ging es ähnlich.
Doch Hauptmann Pero trieb sie weiter an, bis sie dem Hauptmann der hiesigen Garnison gegenüberstanden.
„Willkommen“, nickte ihnen der drahtige Hauptmann mittleren Alters zu, der von zweien seiner Männer begleitet wurde. Er wirkte angespannt und doch auch erleichtert, als er fortfuhr: „Ihr kommt wahrlich gerade noch rechtzeitig.“
„Wir können gerne gleich alles Weitere besprechen. Aber meine Männer haben einen Gewaltmarsch hinter sich und müssen zuerst versorgt werden“, erklärte Hauptmann Pero, ohne weiter auf die Worte des anderen Hauptmanns einzugehen.
„Natürlich. Daniel, Frank kümmert euch darum, dass die Soldaten sich ausruhen können und eine warme Mahlzeit bekommen. Holt euch Hilfe von den Dorfbewohnern.“
„Hauptmann!“, salutierten die beiden Männer des Hauptmanns einstimmig und führten anschließend Bahe und die restlichen Soldaten zu den Quartieren der Garnison.
Es dauerte nicht lang und Bahe saß zusammen mit dem restlichen Zug im Lager der Garnison, welches unmittelbar an das Dorf Belu angrenzte. Der einfache Eintopf, der ihm gereicht worden war, schmeckte zwar nicht besonders gut, füllte aber seinen Magen und letztlich nahm Bahe alles an, was dafür sorgte, dass sein Hungerstatus nicht in den bedrohlichen Bereich fiel.
„Herold, wo sind wir bloß hier gelandet?“, bemerkte zwischen dem Kauen einer der Soldaten. „Die haben ja noch nicht mal einen Wall angelegt… Wie wollen sich diese Idioten denn verteidigen?“
„Scheiße, jetzt wo du es sagst. Nicht mal ihr eigenes Lager ist ausreichend gesichert…“, schloss sich ein anderer Soldat an, während er sich umblickte.
„Bleibt ruhig, Männer. Die umliegende Gegend ist normalerweise äußerst friedlich. Hier war es bisher nie nötig umfangreiche Wälle anzulegen“, versuchte der Veteran Herold die Soldaten zu beruhigen.
„Stimmt genau“, schloss sich Veteran Mats an. „Diese Garnison existiert hier auch nur, weil weiter südlich einige wichtige Handelsstrecken verlaufen und man von hier oben eine gute Aussicht über die umliegenden Täler hat. Die hiesigen Soldaten haben eigentlich nur die Aufgabe, gelegentliche Überfälle auf die Händlerkarawanen zu verhindern und nicht dieses Dorf zu verteidigen.“
„Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir den Angriffen der Goblinhorde schutzlos ausgeliefert sind“, äußerte einer der Soldaten. „Wir müssen uns schleunigst überlegen, wie wir eine Befestigung errichten können.“
„Da ist was Wahres dran“, stimmte Veteran Helmut zu. „Aber vertraut unserem Hauptmann. Er wird schon die beste Entscheidung für uns treffen.“
„Hmm…“, ging einstimmiges Gemurmel durch die erschöpften Männer und Bahe beschloss sich seine Fundstücke vom Vormittag mal genauer anzuschauen.
Mit einem Griff holte er zunächst noch einmal das Sensenschwert hervor. Die Stats waren schlicht unglaublich. Aber das Schwert selbst war gerade mal vierzig Zentimeter lang, inklusive Griff wohlgemerkt. Bahe seufzte. Es war halt eine Waffe, die eher für einen Assassinen nützlich war, der in kurzer Zeit viel Schaden verursachen wollte. Für den offenen Kampf war die Klinge eher unbrauchbar. Man konnte mit der gebogenen Klinge nicht mal wirklich einen gegnerischen Hieb parrieren…
Nicht mehr ganz so begeistert wie zuvor, griff er erneut in seinen Speichergegenstand und holte den Finger mit dem Ring hervor. Nur unter einiger Mühe und mit der Hilfe des Sensenschwertes bekam er den Ring schließlich vom Finger des Vorbesitzers. Den Finger warf er in das entfachte Lagerfeuer, ehe er sich wieder setzte und erneut die Fähigkeit Identifizieren aktivierte.
Ring
Rang: Gold
Der Rang des Rings ist zu hoch, um ihn eindeutig identifizieren zu können.
„War ja klar…“, ärgerte sich Bahe. Dabei hatte er doch schon so viel Zeit in der Bibliothek verbracht, um seine Fähigkeit weiter aufzuleveln…
Aber immerhin wusste er jetzt, wo momentan sein Limit lag. Artefakte der Ränge Gewöhnlich, Bronze und Silber stellten kein Problem für ihn dar. Doch ab Rang Gold musste er scheinbar immer noch den Dienst der Abenteurergilde in Anspruch nehmen.
Widerwillig packte er den Ring und das Sensenschwert zurück in seinen Speichergegenstand. Er konnte nur hoffen, dass er einen guten Preis für den Ring bekam. Wenn er das Teil schon klassifizieren ließ, musste es sich auch lohnen.
Zumal seine Familie allmählich unter Zugzwang geriet, was die Finanzierung des Alltags betraf. Sechs Mäuler zu stopfen, war mit dem schlecht bezahlten Job seines Großvaters nicht gerade einfach. Ganz zu schweigen davon, dass Bahe und seine Mutter zurzeit eher teurere, frische Lebensmittel essen sollten, um wieder zu Kräften zu kommen.
Speziell für Bahe kamen noch die monatlichen Kosten für das Spielen von Raoie hinzu, die zwar noch nicht fällig waren, es aber in einigen Wochen sein würden. Es wurde Zeit, dass er Artefakte fand, die er zu realem Geld machen konnte.
Das Sensenschwert wollte er nur ungern zum Verkauf anbieten. Eine zweite Nahkampfwaffe war schließlich nie zu verachten. Dennoch würde er es tun, wenn es ihm einen längeren Zugang zu Raoie ermöglichte.
Mit einem Gähnen legte er den Ring und das Sensenschwert zurück in seinen Speichergegenstand und schaute sich um. Die Abenddämmerung setzte gerade ein. Einige der Soldaten hatten sich bereits hingelegt und den Kopf auf einem Teil ihrer Ausrüstung gebettet, während andere mit den Rücken aneinander gelehnt und geschlossen Augen da saßen.
Die Männer der Garnison hatten ihnen zwar Zeltquartiere angeboten, die sie provisorisch hergerichtet hatten, als Bahe und die Soldaten aßen. Doch die Soldaten lehnten diese noch immer ab. Bahe verstand, dass sie in Anbetracht der unsicheren Situation lieber jederzeit kampfbereit sein wollten.
„Aufwachen, Männer!“, herrschte Veteran Mats plötzlich die Soldaten an. „Hauptmann Pero in Anmarsch.“
Teil 1/1
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