Ihre Fähigkeiten als Orakel waren im Kampf nur leider alles andere als gefragt. So begeistert sie die spezialisierte Klasse der Orakel anfangs angenommen hatte, die Euphorie war schnell geschwunden.
Manasicht und Eingebungen, dass waren die Startfähigkeiten die ihr bei Klassenerhalt freigeschaltet wurden. Manasicht erlaubte ihr die Aura aller Lebewesen zu sehen, von der sie umgeben waren. Kaiwen wusste bis heute nicht was sie mit solch einer nutzlosen Fähigkeit anfangen sollte, dabei hatte sie zunächst vielversprechend geklungen.
Die andere Fähigkeit hatte sich hingegen als viel nützlicher heraus gestellt, als sie ursprünglich angenommen hatte. Nach den Informationen in ihrem Charakterprofil spielte ihr das Schicksal ab und an Hinweise zu, die ihr zum Vorteil gereichten. Eben in Form von Eingebungen, wie der Name schon sagte.
So wirr das Ganze klang, so beeindruckend waren die Ergebnisse. Nun ja… es klang nicht nur wirr, es war verwirrend. Kaiwen konnte es kaum in Worte fassen. Vielleicht war das beste Beispiel eine Straßenkreuzung. War der ursprüngliche Plan gewesen links lang zu gehen, gab ihr eine Eingebung das dringliche Gefühl die Entscheidung noch einmal zu überdenken. Es war eine Art Bauchgefühl, ein flaues Gefühl im Magen, welches aber auch recht schnell wieder verschwand. Dabei war es ganz egal, ob sie die richtige Richtung wählte oder nicht. Es hatte lange gedauert, bis sie diesen Punkt verstanden hatte.
Stand sie also vor solch einer Kreuzung und wollte nach links, es setzte aber ein merkwürdiges Gefühl ein, blieb sie mittlerweile stehen und überlegte genau welche anderen Möglichkeiten es sonst noch gab.
Einmal hatte sie doch tatsächlich in ein, für sie damals noch, lebensgefährliches Jagdgebiet aufbrechen sollen. Sie hatte sich zum ersten Mal auf diese Eingebung verlassen und war einer Gruppe von Spielern über den Weg gelaufen, mit deren Hilfe sie in kürzester Zeit von Level 6 zu Level 17 aufgestiegen war.
Inzwischen war sie Level 26, was sie allein dieser sonderbaren Fähigkeit zu verdanken hatte.
Die Fähigkeit war auch der Grund, weshalb sie sich hier an den Rand des Marktplatzes gesetzt hatte. Eigentlich hatte sie sofort durch die Straßen schlendern wollen, aber irgendetwas sagte ihr, dass dies im Moment ein Fehler wäre.
Na ja, in der Sonne zu sitzen und ein Bisschen Fruchtwasser zu trinken war auch nicht schlecht, egal was passieren würde.
Seufzend lehnte sie in ihrem Stuhl zurück, ließ die Sonne auf ihr Gesicht scheinen und lauschte entspannt ihrer Umgebung.
„Lauschen“, flüsterte sie den Befehl und aktivierte eine Fähigkeit, die rein gar nichts mit ihrer Klasse zu tun hatte. Sie hatte schon oft so da gesessen und auf ihre Umgebung gehört, bis sie sich diese Fähigkeit irgendwann von alleine angeeignet hatte. Dabei hatte sie es nicht einmal darauf angelegt, grinste sie in sich hinein.
Es war erstaunlich, wie schnell sie diese Fähigkeit auf ihr momentanes Niveau verbessert hatte. Inzwischen verstärkte der Lernstatus ihrer Fähigkeit ihr Hörvermögen bei Aktivierung um weitere 46%, wenn man mal von den Standard-10% der eigentlichen Fähigkeit absah.
Im Klartext bedeutete das, dass sie ein Flüstern in zwanzig Metern Entfernung immer noch verstehen konnte, wenn sie es darauf anlegte.
Abwechselnd hörte sie den verschiedenen Restaurantbesuchern oder vorbei laufendem Gesindel zu, bis sich schließlich drei junge Männer vier Tische weiter zusammen setzten.
„Wollt ihr auch was trinken? Ich nehm ein Bier.“
„Ich auch“, meinte der Zweite.
„Nee, hab kein Geld dafür“, erklärte der Dritte genervt.
„Ach, kein Problem. Ich lade dich ein“, hörte sie die erste Stimme.
„Danke, Mann!“
„Hey, Magd! Drei Bier bitte!“
Kaiwen zuckte bei dem plötzlichen Geschrei beinahe zusammen. Nun… es gab eben auch Nachteile, wenn man so gut hören konnte.
Da kam ihr der Gedanke eine weitere ihrer Fähigkeiten einzusetzen. Vor zwei Wochen war sie nämlich vor die Wahl gestellt worden. Sie hatte sich für eine von drei verschiedenen Fähigkeiten entscheiden müssen.
Zur Auswahl standen damals Visionsempfang, die Möglichkeit auf Zukunftsvisionen in einer Glaskugel; Weitsicht, die es ihr ermöglichen sollte in weite Entfernungen zu schauen und schlussendlich noch Schicksalsfindung, eine Fähigkeit die dem Benutzer ermöglichen sollte, Antworten auf alle Fragen zu finden.
Kaiwen hatte kaum einen Moment gezögert und Weitsicht genommen. Zukunftsvisionen in einer Glaskugel zu erhaschen, erschien ihr wie ein schlechter Jahrmarktwitz. Schicksalsfindung klang nach einer ähnlichen Funktionsweise, wie ihre Fähigkeit Eingebung. So gesehen war Weitsicht die beste Wahl, da es ihre Fähigkeiten sinnvoll erweiterte. Ganz zu schweigen davon, dass es für sie als Reporterin äußerst verlockend war über große Entfernungen den Überblick behalten zu können.
Gut, sie musste zugeben, dass Zukunftsvisionen auch einen gewissen Reiz hatten, aber die Wörter ‚Möglichkeit auf Zukunftsvisionen‘ hatten sie abgeschreckt. Ihr war es lieber eine sichere Fähigkeit zu haben, die auch funktionierte und nicht wann immer sie wollte den Geist aufgab.
„Weitsicht“, sprach sie leise den nächsten Befehl.
Noch immer musste sie über das seltsame Gefühl staunen, als sie plötzlich wieder etwas sah, obwohl sie die Augen geschlossen hielt. Ihr Blickfeld verschob sich auf ihren Willen hin zu den drei jungen Männern, wie sie nun erkannte.
Es hatte verdammt viel Übung benötigt dieses Verschieben richtig hin zu bekommen. Überhaupt war es bei weitem die am schwersten zu handhabende Fähigkeit, die sie bisher erlernt hatte.
Ganz zu Beginn fehlte von ‚Weitsicht‘ auch jede Spur. Es hatte keinerlei Unterschied gemacht, ob sie ihr normales Augenlicht benutzte oder ihre Fähigkeit. Erst nach zehn Minuten intensivem Ausprobieren und zugegebener Maßen auch mehr durch Zufall, war sie darauf aufmerksam geworden, dass sie ihr Blickfeld verschieben konnte.
Dummer Weise hatte sie damals die Augen offen gehabt und somit gleichzeitig nach vorn als auch nach hinten schauen können. Man war das gruselig gewesen… Und die unmittelbar darauf folgende Übelkeit.
Kaiwen versank bei dem Gedanken daran, dass sie sich damals mitten auf Straße vor allen möglichen Passanten übergeben hatte, immer noch in Grund und Boden.
Seitdem schloss sie vorsichthalber immer vorher die Augen. Über die nächsten Tage hinweg hatte sie intensiv mit der Fähigkeit experimentiert und war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass sich mit zunehmender Verbesserung der Fähigkeit auch ihre Reichweite verbesserte. Konnte sie zu Beginn die Fähigkeit lediglich dazu nutzen hinter sich zu blicken, so konnte sie mittlerweile mit der Fähigkeit bereits zwanzig Meter weiter schauen als mit ihrem normalen Augenlicht.
Wahrscheinlich hätte sie diesen Unterschied gar nicht weiter bemerkt, wenn es da nicht noch den Aspekt der Blickfeldverschiebung gegeben hätte. Die Fähigkeit erlaubte es ihr, das eigene Blickfeld wie bei einer Art Kamerafahrt zu verschieben. Blickwinkel aus der Vogelperspektive oder um eine Straßenecke spähen, während sie noch einige Meter entfernt war, stellten kein Problem mehr dar.
Mithilfe ihrer Fähigkeiten war es nahezu, als ob sie mit diesen drei jungen Männern am Tisch saß.
Kaiwen beobachtete, wie die Magd die Getränke brachte und sich die Männer bedankten. Die drei waren jung, wahrscheinlich gerade erst zwanzig oder so und sahen relativ gewöhnlich aus.
„Schon irgendwie geil bereits am Morgen zu trinken, nicht wahr?“, meinte der Erste.
„Nun ja, wenn man es genau nimmt, ist es ja eigentlich schon später Abend in der Realität“, grinste der zweite Mann.
Ah… Spieler also und keine NPCs.
Andererseits hatte Kaiwen es sich eh schon gedacht. Da es in Raoie noch früher Morgen war, sah man nur äußerst selten NPCs zu solcher Stunde alkoholische Getränke zu sich nehmen.
„Ich find es einfach so geil, dass man sich hier besaufen kann und in der Realität dann keinen Kater hat“, meinte der Letzte.
„Ha, da sagst du was!“ stimmte der Dritte mit ein.
„Überprüfen!“, flüsterte sie einen neuen Befehl.
Prompt eröffneten sich ihr auch schon die Stats samt Level und Berufsklassen aller Spieler.
Nur Anfängerlevel dachte Kaiwen abschätzig, nichts Besonderes. Zwei Level 6 Schwertkämpfer und ein Level 8 Axtkämpfer. Ihre Fähigkeiten waren auch allesamt gewöhnlich und nicht weiter ihrer Aufmerksamkeit wert.
Sie wollte Weitsicht schon wieder deaktivieren, als sie den verschwörerischen Blick des Zweiten entdeckte.
„Habt ihr eigentlich von diesem Irren gehört?“, fragte der Zweite und Kaiwen spitzte die Ohren.
„Was meinst du?“, fragte der Erste und nahm einem dicken Schluck aus seinem Krug.
„Na, ich meine diesen Verrückten, der in den letzten Tagen ständig um Waldenstadt rennt.“