Malca landete sanft im Schatten der Bäume am Rande des Parks der Magiergilde.
„Heh!“, grinste er abfällig.
Nur ein Idiot würde durch den Fluss schwimmen, wenn man auch anhand eines Baumes über den Zaun klettern konnte. Es hatte schließlich Vorteile ein Dieb zu sein. Besonders, wenn man davon lebte Tag ein, Tag aus über die Dächer Waldenstadts zu hechten.
Anschließend huschte er schnell zu einem der Parkwege, straffte sich, legte eine Magierrobe an und trat dann, als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre auf einen der Spazierwege.
Er wusste genau, wo er lang musste und bog zweimal rechts ab, um sich anschließend nach links zu wenden. In gut fünfzig Metern sollte er dann auf den Bereich mit dem Apfelbaum stoßen, wo sich der alte Magier immer aufhielt.
Unmittelbar nach der Biegung des Weges kam ihm ein Bettler entgegen. Seine Kleidung konnte man bestenfalls nur noch als Fetzen bezeichnen und er hatte den Kopf nachdenklich zu Boden gesenkt.
Nachdenklich?
Malca musste schmunzeln. Keine Ahnung, wie er darauf kam. Bei der Kleidung und schmächtigen Statur war verzweifelt wohl der bessere Ausdruck. Es war einfach unglaublich, was sich TNL immer wieder für Details einfallen ließ.
Sein Lächeln verflüchtigte sich schnell wieder, als Malca sich lieber wieder auf seine momentane Situation besann. Er war ein Magiernovize, der die Schönheit des Parks genoss. Kein Magier würde einen Bettler auch nur eines zweiten Blickes würdigen! Anschließend richtete er seinen Blick gerade aus und straffte seine Schritte ein Wenig.
Zwei Minuten später kam er endlich an seinem Bestimmungsort an und sein Blick glitt über den Teich mit dem Apfelbaum hinweg. Von dem alten Magier fehlte jede Spur.
Wahrscheinlich war er noch zu früh dran…
Um den alten Magier nicht von seinem Lieblingsplatz abzuhalten, beschloss Malca sich etwas abseits in den Büschen zu verstecken und dort auf sein Eintreffen zu warten.
Ein paar Minuten später kam Bahe am Flussufer an und schwamm die Strecke etwas mühselig zurück, da er diesmal seine Kleidung zum größten Teil ausgezogen hatte und mit einer Hand über dem Kopf hielt, um nicht gleich wieder frieren zu müssen.
Danach machte er sich angezogen auf den Rückweg aus der Sackgasse und strebte sein nächstes Ziel an, die Bibliothek.
Doch vorher aktivierte er noch die fünfte Tutorialmission:
Tutorial V: Alltagsbedingungen
Um Raoie zu verstehen, musst du abschließend drei Voraussetzungen verinnerlichen:
Voraussetzung 1:
--> Damit Raoie auch vom Gameplay relativ lebensecht sein kann, lernst du nicht einfach nur neue Fähigkeiten, die lediglich von der Größe deines Manapools abhängen.
--> Gerade alltägliche Aktionen, wie beispielsweise Kochen oder die im letzten Tutorial kennen gelernte Fähigkeit des Häutens von Tieren, müssen von dir selbst umgesetzt werden.
--> Die erlernten Fähigkeiten unterstützen dich und erhöhen die Erfolgsquote, nehmen dir jedoch nicht die Arbeit ab.
Ein weiteres Beispiel:
Du wanderst durch einen dir unbekannten Wald und weißt nicht wo du bist? Orientierungsfähigkeiten geben dir nur Tipps, die du verstehen musst, um von dir aus den Weg aus unbekanntem Terrain zu finden.
Zur Folge hat dies natürlich, dass Fähigkeiten, die du im realen Leben beherrschst, auch in Raoie anwendbar sind. --> Wer bereits gelernt hat zu kochen oder bestimmte Kampfkünste umsetzen kann, hat anderen Spielern gegenüber einen Vorteil.
Voraussetzung 2:
Deine Bedürfnisse wie Hunger und Durst müssen in regelmäßigen Abständen gestillt werden. Geschieht dies nicht, leidet deine Gesundheit (HP) darunter. Dementsprechend sollte deine erste Aktion nicht unbedingt das Töten von Monstern zur Levelaufwertung sein, sondern die Suche nach lebenswichtigen Ressourcen.
Voraussetzung 3:
Die Währung in Raoie baut sich wie folgt auf:
--> 100 Kupfermünzen ergeben 1 Silbermünze
--> 100 Silbermünzen ergeben 1 Goldmünze
--> 100 Goldmünzen ergeben 1 Kristallmünze
--> höhere Währungsformen werden im Laufe des Spiels freigespielt
Tutorial-Quest!
Suche den Waldläufer Karl in der Taverne zum kläffenden Hund und schließe eine Wette mit ihm ab.
Scheinbar musste er vor der Bibliothek noch einen kleinen Umweg machen. Taverne zum kläffenden Hund?
Verrückte Namen gab es allemal.
Das viel dringendere Problem bestand darin, wo sich die Taverne befand. Sicher, er hatte sich im Vorfeld über die Stadt schlau gemacht, aber dazu zählten nur die wichtigsten Gebäude und öffentlichen Plätze. Nicht irgendeine wahllose Spelunke, von der es mehr als genug in jeder Stadt gab.
Auch fehlte diesmal jede Personenbeschreibung zu Karl, dem Waldläufer.
Online hatte er auch nichts über die Schauplätze dieser Tutorialmission finden können. Die Treffpunkte und nötigen Persönlichkeiten zum erfolgreichen Abschluss variierten hier so stark, dass es unmöglich war, eine Vorhersage zu treffen, geschweige denn sich sinnvoll darauf vorzubereiten.
Offensichtlich war es nun an Bahe mehr Eigeninitiative zu zeigen.
Zügigen Schritts machte sich Bahe in Richtung einer Taverne auf, die er auf seinem Weg vom Ausbildungsplatz gesehen hatte. Wenn ein Schänkeninhaber etwas wusste, dann wohl ganz klar wo sich die Konkurrenz befand.
Eine Stunde später saß Bahe endlich in der Taverne zum kläffenden Hund dem Waldläufer Karl gegenüber. Er hatte wesentlich länger gebraucht, um die Taverne zu finden, als ursprünglich angenommen. Wer hätte denn auch ahnen können, dass es neben der Taverne zum kläffenden Hund auch noch eine Taverne zum jaulenden Hund und eine Taverne zum bellenden Hund gab?
Natürlich hatten sich all die Schänkeninhaber beständig im Richtungswechsel geirrt und sich viel lieber lautstark darüber aufgeregt, welche bodenlose Frechheit es war, ihren ungewöhnlich auffallenden Namen so abzukupfern!
Bahe hatte sich irgendwann nur resigniert davon stehlen können und im einfachen Volk auf den Straßen rumgefragt, bis er schließlich den Weg hierhin gefunden hatte.
Karl zu identifizieren war hingegen viel leichter gewesen. Er war der einzige Mann, der bereits am Nachmittag sturzbesoffen an seinem Tisch saß und in unregelmäßigen Abständen grölte, wer sich trauen würde mit ihm eine Wette abzuschließen.
„Du willst wetten?!“, ereiferte sich Karl.
„Sicher, kommt aber drauf an, was die Bedingungen sind“, sagte Bahe schlicht.
„Hmmm… du bist’n Frischling, wa? Na, was hältst’n davon… Du musst zwei Woch’n überleben, ohne Geld, Nahrung oder Wasser aus deinem Speichergegenstand zu hol’n und du darfst auch nicht zu viel Erfahrung als Abenteurer außerhalb der Stadt gewinnen. Als Gegenleistung wird‘ ich dir n‘Bisschen was beibringen, eine Landkarte von meinen umschweifenden Wanderzüg’n geb’n und dir noch einen Tipp nenn’n, wo du sau günstig Waffen erwerb’n kannst… Na?“, lallte er dahin.
Tutorial-Quest
--> Karl glaubt nicht, dass du zwei Wochen überleben kannst, ohne einen gewissen Erfahrungswert als Abenteurer zu überschreiten und ohne auf deine Geld- Nahrungs- und Wasservorräte aus deinem Speichergegenstand zurück zu greifen. Du hast die Möglichkeit dagegen zu halten und ihn eines Besseren zu belehren.
Nimmst du die Wette an?
Bedingungen:
--> Du darfst 14 Tage keine Geld, Nahrungs- und Wasserzufuhr aus dem Speichergegenstand nutzen.
--> Dein Level darf sich während der Quest nicht erhöhen.
--> Diese Quest darf nicht wiederholt werden.
--> Die Quest darf nur mit Level 0 angetreten werden.
Belohnungen:
--> Karl wird dir etwas beibringen.
--> Eine Landkarte von Karls umschweifenden Wanderungen
--> Ein Tipp, wo man Waffen günstig erwerben kann
Hier kam endlich die Quest, vor der Bahe extra noch seinen Durst und Hunger gestillt hatte. Irgendwie hatte es doch noch sein Gutes, dass er gestorben und auf Level 0 zurück gefallen war. Ansonsten hätte er diese Tutorial-Quest nicht annehmen können und ihm wäre eine wichtige Fähigkeit verwehrt geblieben.
Karl würde den Spielern, bei erfolgreichem Bestehen ihrer Wetten, nämlich entweder die Fähigkeit Identifizieren oder die Fähigkeit Überprüfen lehren.
Für Gildenmitglieder mochte es keine Rolle spielen, da die Spieler meistens eh immer in Gruppen unterwegs waren, Bahe wollte sich aber die Möglichkeit eine neue Fähigkeit zu erlernen nicht entgehen lassen. Vor allem, wenn sie für den weiteren Spielverlauf äußerst nützlich war.
„Alles klar, ich nehme die Wette an“, antwortete Bahe.
„So lob ich mir das!“, rief Karl begeistert und schlug mit seiner Faust so heftig auf den Tisch, dass Bahe vor Schreck zusammen zuckte.
„Aber, sei gewarnt! Ich habe die ganze Stadt im Blick! Ein Schummeln ist nicht möglich!“, meinte er kurz darauf im verschwörerischen Tonfall und lehnte sich anschließend in seinem Stuhl glückselig zurück.
„Natürlich“, Bahe rollte nur mit den Augen und verließ eiligst die Schänke.
Draußen angekommen, machte er sich zu dem Ort auf, der eine Besonderheit von Waldenstadt war, der Bibliothek.
Bei seinen Recherchen hatte er festgestellt, welches Glück er bei der Wahl seines Startpunktes gehabt hatte. Die anderen beiden Ortschaften die als Startpunkte dienten, Trachtenburg und Müllersdorf, waren wesentlich kleiner und konnten höchstens als Dörfer bezeichnet werden. Zumindest, wenn man von der Festungsanlage in Trachtenburg mal absah.
Ihre Lage hatte andere Vorteile, wie die Nähe zu günstigen Jagdgründen für Spielanfänger als auch zur Hauptstadt des Königreiches, obwohl sich dieser Vorteil bisher noch nicht wirklich auszahlen konnte.
Waldenstadt war nicht einfach größer als die anderen beiden Startorte, sondern sogar die größte Stadt im Norden des Königreiches. Über ihr lagen nur noch ein paar gefährliche Wälder, ehe das Königreich abrupt am Abgrund der Drachenschlucht endete.
Aus diesem Grunde verfügte die Stadt über verschiedene Annehmlichkeiten, von denen viele Spieler zu Beginn nur träumen konnten. Es gab viele Möglichkeiten Quests auszulösen, wesentlich mehr Angebote unterschiedliche Berufsklassen zu erlernen und eben auch besondere Gebäude, wie sie sich nur in den großen Städten des Königreiches fanden.
Die Bibliothek war eins dieser Gebäude.
Bahe staunte nicht schlecht, als er schließlich ehrfürchtig vor dem Eingang zum Stehen kam. Abgesehen vom Festungskomplex in der Stadtmitte, des Magierturms und einem Amphitheater war es mit Abstand das größte Gebäude der Stadt. Treppen erhoben sich bis in den zweiten Stock zu einem großen Plateau, das den Eingangsbereich vor den Türen darstellte. Andererseits konnte man kaum von Türen sprechen, es waren vielmehr gewaltige Torflügel aus Eichenholz, die durchgehend zu beiden Seiten geöffnet waren, während sich die Besucher in Scharen hindurch schlängelten.
Er reihte sich in die Menschenmengen mit ein und schaute im Inneren schließlich über die zahllosen Regale hinweg, die in über vier Etagen aufgebahrt worden waren. Eine gigantische Halle durchzog die Mitte des Gebäudes, von der die verschiedenen Stockwerke zu beiden Seiten abgingen und gewährte so jedem Besucher einen wahrhaft beeindruckenden Blick über die vielen Schätze des Wissens.
Bahe brauchte einen Moment, um sich von dem Anblick zu lösen, ehe er sich wieder seinen Plänen zuwandte. Es gab zwei Gründe, weshalb er sich entschlossen hatte, die Bibliothek aufzusuchen. Feiying hatte ihm davon erzählt, dass es Schriftrollen mit einem Zauber gab, mit dem sich Spieler über große Distanzen hinweg unterhalten konnten. Im Erdgeschoss gab es eine Frau an der Ausleihtheke, die eben jene Schriftrollen verkaufte. Er war sich nur nicht sicher, wie viel eine solche Schriftrolle kosten würde.
Der andere Grund war jedoch vorerst noch viel wichtiger. Was viele Spieler unterschätzten, war nämlich die Notwendigkeit von Informationen über die Welt Raoie und ihre Geschöpfe.
Die beiden Fähigkeiten Überprüfen und Identifizieren arbeiteten zum Beispiel damit. Besaß ein Spieler keinerlei Wissen über eine fremde Kreatur, der er in der Wildnis begegnete, so konnte ihm auch die Fähigkeit Überprüfen nicht wirklich weiterhelfen.
Allgemeinwissen über die Kreaturen und Gegenstände Raoies war quasi eine Aktivierungsbedingung der beiden Fähigkeiten. Umso mehr man wusste, umso höher waren auch die Erfolgschancen der Fähigkeiten.
Bahe war sich jedoch ziemlich sicher, dass die Informationen, die es hier zu finden gab, auch an anderer Stelle weiterhelfen konnten. Und schlussendlich hatte er auch noch eine Menge Fragen. Was war diese Frucht gewesen, die er in der Schlucht gegessen hatte? Von welcher Kreatur war er verfolgt worden? Gab es Wege Magie zu erlernen, ohne sich an die Magiergilde wenden zu müssen? Vielleicht besaß die Bibliothek sogar Bücher, die diesen Prozess erklärten?
Zauber sollten in den Büchern sowieso zu finden sein. Ein paar, der besonderen Titel, hatte er online bereits in Erfahrung bringen können. Bahe hoffte inständig, dass er möglichst schnell fündig werden würde, wenn es auch ob der gewaltigen Masse als wenig aussichtsreich erschien.
Im Erdgeschoss fand er recht schnell die Dame mit den Schriftrollen und kaufte für zehn Kupfermünzen den Zauber, von dem Feiying gesprochen hatte. Bahes Herz blutete bei dem Gedanken gerade die Hälfte seines gesamten Vermögens ausgegeben zu haben.
Vor Antreten der Quest hatte er vorsorglich alles Notwendige aus seinem Speichergegenstand geholt. Dazu zählte schlicht weg, eine Tagesration an Nahrung und Wasser, sowie sein gesamtes Startvermögen von zwanzig Kupfermünzen, mit denen jeder Spieler startete.
Es hatte schon Spieler gegeben, die versucht hatten Karl auszutricksen, indem sie ihre gesamten Nahrungs- und Wasservorräte außerhalb ihres Speichergegenstandes mit sich rum schleppten. Aber abgesehen davon, dass viele von ihnen bestohlen worden waren und es äußerst umständlich war solch sperrige Last immer mit sich rum zu schleppen, war die Nahrung nach einer Woche schlecht geworden.
Im Endeffekt hatten die Spieler mehr verloren als gewonnen.
Seitdem gab es immer weniger Spieler, die sich an dieser Quest versuchten. Zwei Wochen lang auf Level 0 zu verweilen, kam den meisten Spielern, neben der Schwierigkeit Nahrung aufzutreiben, einfach wie die reinste Zeitverschwendung vor.
Für Bahe kam diese Quest aber genau richtig, da er sich zunächst sowieso mit anderen Dingen beschäftigen musste.
Trotzdem schmerzten die Kosten von zehn Kupfermünzen für eine Schriftrolle, die er nur einmal nutzen konnte.
Egal, er hatte anderes zu tun. Wiederstrebend löste er sich aus seinen Gedanken und machte sich daran sich in der Bibliothek zurecht zu finden.