„So, dann wollen wir mal“, holte ihn die Stimme des Anführers zurück in die Wirklichkeit. „Möchtest du anfangen, Babe?“
„Ich habe nur drauf gewartet, dass du fragst“, antwortete die junge Frau, riss ihrem Freund das Messer aus der Hand und positionierte sich in aller Ruhe vor Bahe. „Na, bist du so weit? Nicht das du zuckst und ich deswegen verliere.“
„…“, Bahe war zu keiner Antwort fähig als ihm der erste Angstschweiß auf die Stirn trat.
Doch dann legte die Irre auch schon los. Mit viel zu schnellen Bewegungen ließ sie das Messer zwischen seinen Fingern niederfahren und Bahe konnte nicht anders als sich vollends zu verkrampfen. Wie sollte ihr Macker das denn jetzt noch steigern können?
Keine fünf Sekunden war sie bereits fertig und reichte ihrem Partner das Messer.
„Du hast verdammt gut vorgelegt, Süße“, meinte dieser genüsslich lächelnd, ehe er gespielt mürrisch hinzufügte: „Jetzt muss ich wohl noch schneller nachziehen. Hoffentlich kann ich abgetrennte Finger vermeiden, ich will nicht verlieren…“
Während er sich von seinen Kollegen für die bewusste Quälerei Bahes feiern ließ, erklang plötzlich eine zögerliche Stimme vom Eingang.
„Hört… Hört sofort damit auf!“
Die Schläger wandten sich allesamt um. Bahe bekam so die Möglichkeit, sich weit genug drehen zu können, um ebenfalls einen Blick zur Supermarkttür werfen zu können.
Überraschender Weise stand die Chefin seines Großvaters im Türrahmen. Mit zittriger Hand hielt sie ein großes Messer vor sich und sagte unsicher: „Ich habe bereits die Polizei gerufen. Macht, dass ihr wegkommt, wenn ihr nicht eingebuchtet werden wollt.“
„He, was sagt man dazu“, meinte der Anführer des Schlägertrupps. „Die Alte hat doch tatsächlich zum ersten Mal Rückgrat bewiesen.“
Einer der anderen Schläger zeigte sich jedoch keineswegs beeindruckt und ging schnurstracks auf die Ladeninhaberin zu.
„Was… was… willst du?“, blaffte die Chefin mehr aus Panik, denn als Frage. „Bleib… bleib stehen!“
Doch der Schläger mit dem Ziegenbart blieb ungerührt und trat so nah an sie heran, dass das Messer mit der Spitze bereits in seine Klamotten stach.
„Und? Was willst du jetzt machen?“, fragte der Kerl spöttisch, ehe er blitzschnell zugriff und der Ladeninhaberin das Messer aus der Hand rang.
Kreidebleich sprang die Chefin zwei Schritte zurück und kreischte panisch: „Die Polizei kommt wirklich! Verschwindet endlich von hier und lasst mein Geschäft in Ruhe!“
„Blödsinn!“, lachte der Kerl mit dem Ziegenbart laut auf. „Du erzählst nur Scheiße…“
Doch das in der Ferne erklingende Sirenengeheul belehrte ihn prompt eines Besseren.
„Hah…“, seufzte der Anführer theatralisch und meinte mit einem Augenzwinkern in Bahes Richtung: „Sieht so aus als ob uns für heute zurückziehen müssen. Besser wir verschieben die Fortsetzung unseres Spiels auf ein Andermal.“
Damit setzte er sich dann auch schon in Bewegung und deutete seinen Kollegen ihm zu folgen. Und zu Bahes Verblüffung verschwanden sie tatsächlich, wohlgemerkt erst nachdem sie noch ein paar Regale umgestoßen hatten.
Wenig später atmete Bahe erleichtert auf und sah, wie es seinem Großvater und seiner Chefin nicht anders erging. Mit wabbeligen Knie schleppte sich Bahe zu seinem Großvater hinüber und sackte neben ihm zu Boden.
„Wie lange geht das schon so?“, fragte Bahe seinen Großvater.
„Ob kurz oder lang, macht es einen Unterschied?“, seufzte dieser.
„Verdammt, Opa!“, entfuhr es Bahe. „Du hättest etwas sagen können!“
„Und damit riskieren, dass mein Enkel erneut die Schule abbricht?“
„Opa!“
„Schluss damit!“, meinte sein Großvater unwirsch. „Du erzählst zu Hause nichts hiervon, verstanden?“
„Glaubst du wirklich, ihnen fallen deine blauen Flecken nicht auf?“
„Vorerst habe ich genug Ausreden, was das betrifft“, winkte sein Großvater ab und meinte dann streng: „Und dich will ich hier demnächst nicht mehr sehen. Das ist ein Problem für Erwachsene. Fang Linuan und ich sind sehr wohl in der Lage selbst eine Lösung zu finden.“
„Ok…“, sagte Bahe schnell, obwohl er es nicht so meinte und fragte danach: „Wieso haben sie es überhaupt auf dich abgesehen?“
„Du fängst schon wieder an, Bahe“, schüttelte sein Großvater den Kopf. „Du erfährst diesmal nichts von mir und hältst dich ab sofort aus dieser Sache heraus. Die Schule und deine Noten haben fürs Erste Vorrang, verstanden?“
„Aber…“
„Nichts aber!“, blaffte sein Großvater. „Diesmal hörst du gefälligst auf mich! Und jetzt hilf mir hoch…“
Mürrisch kämpfte sich Bahe auf die Beine und half danach seinem Opa auf die Beine. Dessen Schmerz verzerrte Miene sprach Bände über seinen körperlichen Zustand, doch Bahe wusste, dass er an dieser Stelle nicht weiterkam. So aufgebracht wie gerade hatte er seinen Großvater selten erlebt. Sofern möglich, wollte er ihn nicht noch weiter verärgern.
„Alles ok mit euch, Feitong?“, fragte einen Moment später die Ladenbesitzerin.
„Ja“, nickte Bahes Großvater. „Dank dir…“
„Kein Problem“, meinte sie mit einem gequälten Lächeln und streckte Bahe ihre Hand hin. „Du musst Bahe sein, nicht wahr? Feitong hat mir schon viel von dir erzählt. Du kannst mich ruhig Linuan nennen.“
„Vielen Dank, dass sie sich um meinen Großvater kümmern, Frau Fang“, nahm Bahe ihre dargebotene Hand entgegen, blieb jedoch respektvoll und deutete eine Verbeugung an. „Ich sollte mich jetzt wohl auf den Heimweg machen.“
„Ganz genau!“, murrte sein Großvater.
„Kein Problem, umso weniger Leute hier sind, wenn die Polizei eintrifft, umso besser“, meinte Fang Linuan schmunzelnd und Bahe nickte ihr zum Abschied zu.
„Opa…“, setzte Bahe an, doch sein Großvater kam ihm zuvor.
„Mach, dass du nach Hause kommst, Bahe. Du musst Morgen wieder früh raus. Wir klären das hier schon.“
„Aber…“
„Keine Wiederrede!“
„Eine Sache habe ich noch, Opa…“
„Was?“
„Ich habe dein Abendessen draußen fallen lassen, ich hebe das noch eben auf…“
„Dann mach schnell“, verdrehte sein Großvater die Augen, als er in Anbetracht der immer lauter werdenden Sirenen langsam wieder angespannter wurde.
Wieder zu Hause, wenn auch immer noch niedergeschlagen, loggte sich Bahe am späten Abend in Raoie ein und setzte sich deprimiert für den erneuten Umwandlungsprozess hin. Die monotone Arbeit hing ihm so zum Hals heraus… Und gerade jetzt könnte er Ablenkung von all dem Mist aus der Realität gut gebrauchen…
Aber nein, für sein Glück musste er weiter arbeiten… ohne Atempause… Am liebsten würde er auf irgendetwas einschlagen. Aber dank fehlenden, halbwegs geeigneten Zielobjekt, musste er auch darauf verzichten.
Selbst seine Elementare und Balu, die ihn sonst so häufig in die Weißglut trieben, schliefen, wie in letzten Tagen, noch. Überhaupt schienen sie sich das, vor lauter Langeweile, zur Gewohnheit gemacht zu haben. Mit einem Blick in seinen Speichergegenstand machte Bahe sich aber allmählich Sorgen. Seine Essensvorräte würden maximal noch zwei Tage reichen und das auch nur, weil Stallion, Alucard und Feiying die Ihren mit ihm geteilt hatten.
„Hah…“, seufzte er und holte den ersten Upal heraus. Es half alles nichts, irgendwann musste er ja anfangen.
Vier Spielstunden später wurde Bahe dann doch von seinen Elementaren aus der Konzentration gerissen, als Limona wild schreiend auf Balu ritt und sich als Heldin verstand, die den gefährlichen Banditen Langsamsprecher, verkörpert von Brocken, in die Flucht schlug.
Der Enthusiasmus Brockens ließ schon arg zu wünschen übrig, aber gegen Limonas Argumentation, dass nur sie auf Balu reiten konnte, kam er nicht an. Seit Balus Verwandlung, bei der sich die knöchernen Auswüchse auf seinem Rücken gebildet hatten, schaffte es nur noch Limona mit ihrem geisterhaft fließenden Wasserkörper sich an die geringen Zwischenräume anzupassen. Auch, wenn es merkwürdig aussah, wie knöcherne Stacheln aus ihrer Brust herausragten.
Was sollte man schon dazu sagen? Es war halt der unfaire Vorteil des Wasserelements.
In genau diesem Augenblick hallten plötzlich gedämpfte Rufe durch die Höhle.
„Anael, schieb deinen Progamerarsch hierher!“
„Bahe, komm mal zu uns, dass musst du dir anschauen!“
Vernahm er die Stimme seiner Teammitglieder, bereits recht deutlich.
Neugierig stand er auf und ließ seine Elementare allein zurück, obwohl Brocken ihm theatralisch nachweinte, dass er ihn doch vor der Bärenreiterin retten sollte.
Bahe brauchte mit seinem lockeren Laufstil ganze drei Minuten ehe er Feiying, Alucard und Stallion erreichte. Seine Teammitglieder hatten sich in den letzten Spieleinheiten ziemlich weit vorgearbeitet, dass der Gang einfach kein Ende nehmen wollte.
Den Grund ihrer wilden Schreie erkannt er aber sofort. Direkt hinter ihnen tat sich erneut ein größerer Hohlraum auf, der mit einigen Upalen gespickt war.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals sowas sagen würde, aber ich fürchte diesmal ist es einfach zu viel des Guten…“, lamentierte Stallion.
Teil 1/4
RiBBoN