Dreißig Minuten später kam Bahe zittrig und vollkommen erschöpft an seinem Ausgangspunkt, der Brücke, an. Verdammt hatte er die Strecke unterschätzt…
Und zu seiner großen Demütigung hatte Huilan ihn obendrein auch noch begleitet. Wohlgemerkt ohne auch nur ansatzweise außer Atem zu kommen. Natürlich war er anfangs zu schnell unterwegs gewesen… Sein Fitnesslevel hatte er hier im realen Leben wirklich hart überschätzt…
Und was war die logische Konsequenz?
Nach gerade mal vierhundert Metern hatte er bitter pausieren müssen. Bahe musste sich eingestehen, dass er unterbewusst irgendwie von seiner Geschwindigkeit in Raoie ausgegangen war… Was eine Leistung darstellte, die sein Körper in der Realität so gar nicht vollbringen konnte. Man… Das Spiel konnte echt ernste Konsequenzen nach sich ziehen.
Ganz zu schweigen von all den Höhenunterschieden des Wegs, von denen er zuvor nichts gewusst hatte… Der Weg war tatsächlich so angelegt worden, dass ihn eine Vielzahl von Treppen oder spielerischen Hindernissen zierten. Einzel betrachtet kein Problem, in der Vielfalt hintereinander gesehen jedoch eine Herausforderung für sich, vollkommen unabhängig von der eigentlichen Strecke der zwei Kilometer.
So war ihm direkt zu Beginn schlecht geworden, gefolgt von Schwindelgefühlen die auf eine Überbelastung hindeuteten. Leider war dies für den Rest des Laufs sein Todesurteil gewesen. Sein sowieso geschwächter Körper erholte sich für die nächsten Minuten nicht von den Anfangsstrapazen und erlaubte ihm nur noch langsames Gehen.
Als es zwischendurch besser geworden war, hatte Bahe unangebrachter Ehrgeiz gepackt und ihn ein weiteres Mal zum Joggen verleitet. Diesmal viel langsamer und dennoch brachte es ihn so kurz nach der vorherigen Belastung an den Rand des Zusammenbruchs. Beinahe wäre er eine Treppe hinunter gestürzt…
Er hatte sich vielleicht etwas von Huilan anhören müssen, als diese ihn auffing…
Vorsichtig ließ Bahe sich auf einer nahe gelegenen Bank nieder und atmete auf Huilans Anweisung tief ein und aus.
„Hoffentlich hast du deine Lektion gelernt, Bahe“, meinte Huilan streng.
„Du hättest mir auch sagen können, dass es hier so viele Treppen und Hindernisse gibt.“
„Hätte das etwas an deiner Anfangsgeschwindigkeit geändert?“
Resigniert schüttelte Bahe den Kopf und sagte: „Du hast schon recht… Ich habe mich von meinen Raoie-Erfahrungen verleiten lassen.“
„Raoie? Meinst du dieses neue virtuelle Online-Spiel, welches man im Schlaf spielen kann?“
„Genau das.“
„Ich wollte das auch schon immer mal spielen. Aber meine Mutter nimmt das mit der Altersbeschränkung ziemlich ernst…“, seufzte Huilan und fragte dann: „Aber was soll dieses Spiel denn mit deinem Laufstil zu tun haben?“
Ja, was wohl?! Er hatte im Spiel Ewigkeiten damit verbracht durch die Gegend zu laufen, um seine Ausdauerstats zu verbessern…
Um es nicht zu blamabel klingen zu lassen, antwortete er nur: „Ich musste im Spiel joggen, um eine Quest zu erfüllen. Nur bin ich dort schneller unterwegs gewesen, als es mir hier offensichtlich möglich ist…“
„Hehe, dann hätte ich in Raoie wohl ganz gute Karten“, sagte Huilan versonnen und setzte sich auf eine Bank gegenüber von Bahe.
„Wahrscheinlich…“, stimmte Bahe zu und dachte zerknirscht daran, welche krassen Stats das Mädchen vor ihm wohl in Raoie aufweisen würde…
„Wir sollten hier Schluss für heute machen, Bahe“, sagte Huilan, während sie ihn musterte. „Kommst du alleine nach Hause?“
„Schon gut, es ist schon wieder viel besser geworden“, winkte Bahe ab.
„Ok, Morgen treffen wir uns wieder vorne am Wasserspiel. Dann werden leichte Muskelübungen und Yoga auf dem Plan stehen, verstanden?“
Bahe nickte nur und sah zu wie sich Huilan erhob und streckte.
„Dann bis Morgen, Bahe“, verabschiedete sich Huilan.
„Bis Morgen“, antwortete Bahe und winkte ihr kurz zum Abschied, während sie alsbald hinter einigen Bäumen aus seiner Sichtweite verschwand.
Mit einem Ächzen erhob er sich wenig später und machte sich, wieder wesentlich sicherer auf den Beinen, auf den Weg nach Hause.
Einen halben Tag später saß Bahe in der Schule am Rande des Schulhofs auf einer Bank und wartete auf Muning als sein Smartphone klingelte. Überrascht holte er es hervor und nahm den Anruf sofort mit einem Lächeln an: „Hey, was gibt es Feiying?“
„Hey Bahe, eigentlich nicht viel“, grüßte ihn sein alter Kumpel. „Aber ich habe vor, heute Nacht in Raoie endlich meine Berufsquest zu starten und mich auf den Weg zu den Belungaminen zu machen. Ich wollte dich fragen, wie es bei dir aussieht und ob du dazu stoßen könntest? Wäre cool nicht nur ständig mit Fremden zocken zu müssen.“
„Hmm… im Moment kann ich leider nicht“, meinte Bahe nachdenkend. „Ich stecke selbst in einer Berufsquest, bin aber verrückterweise bereits im Belungagebirge.“
„Was?! Nice! Dann melde dich doch einfach, wenn du fertig bist.“
„Klar, mache ich“, antwortete Bahe. „Ich weiß nur nicht, ob ich für meinen Quest-Abschlusse zuerst zurück nach Waldenstadt muss…“
„Ah, stimmt… Sowas kann passieren. Von wegen nicht sterben oder so, was?“, hörte Bahe Feiyings Stimme mitfühlend. „Du glaubst gar nicht wie häufig diese Scheiße in Raoie ist. Die Mehrheit der Spieler hasst die TNL-Spielentwickler dermaßen…“
„Zumindest so ziemlich alle, die ich kenne“, fügte er abschließend noch lachend hinzu.
„Hmm…“, konnte Bahe nur zustimmend von sich geben. Wenn er nur mal rauskriegen würde, wer sich diesen Mist mit dem nicht wirklich regulierbaren Schmerzempfinden ausgedacht hatte…
„Ah, so ein Dreck… mein Großvater scheint gerade wieder nach Hause gekommen zu sein“, regte sich Feiying wütend auf. „Sorry Bahe, ich muss Schluss machen, bevor ich mir wieder Ärger ein handel.“
„Kein Problem, ich melde mich, sobald ich mit meiner Quest durch bin“, sagte Bahe schnell.
„Gut, bis bald dann hoffentlich!“, zischte Feiying am Ende schon fast flüsternd und legte auf.
„Gab es was Wichtiges?“, erklang Munings Stimme, als Bahe sein Smartphone wegpackte.
„Ah, nein. Nicht wirklich“, schüttelte Bahe den Kopf. „Nur ein alter Freund, mit dem ich demnächst mal in Raoie umherziehen will.“
„Ah, cool“, sagte Muning und ließ sich auf die Bank neben Bahe plumpsen. „Wir müssen irgendwann auch mal zusammen zocken.“
„Jetzt, wo du es ansprichst“, nickte Bahe. „Wir haben noch nie wirklich drüber nachgedacht.“
„Hmmm“, nickte auch Muning, während er sich einen süßen Nachtisch in den Mund stopfte, bevor er mit halb vollem Mund fortfuhr: „Aber du hascht ja schon mal erschählt, dasch du in Waldenschadt gestartet bischt. Isch bin leider in Müllerschdorf gestartet.“
„Schluck erst mal runter, du Idiot“, lachte Bahe. „Man versteht ja kaum ein Wort.“
„…“, Muning sah ihn kurz missmutig an, ehe er schulterzuckend weiterkaute und sich abschließend die Finger ableckte.
„Auf jeden Fall wird es noch etwas dauern, bevor wir uns in Raoie treffen können“, sagte er wenig später frustriert.
„Läuft es bei dir nicht so gut?“, hakte Bahe nach.
„Hmm… das kann man nicht sagen“, schüttelte Muning den Kopf. „Es ist nur so, dass ich anfangs als Koch gestartet bin und man so am Anfang kaum vorwärts kommt.“
„Autsch… das kenne ich“, nickte Bahe, der sich bemühen musste, bei Munings Klassenwahl nicht zu grinsen.
„Hat man ja in deinem Meme gesehen!“, lachte Muning.
„Das war nicht mein Meme!“, warf Bahe frustriert die Hände in die Luft.
Muning grinste, ob Bahes Entrüstung und meinte dann auf einmal verschwörerisch: „Aber vorgestern habe ich riesen Glück gehabt.“
„Wieso?“
„Ich habe eine versteckte Klasse gefunden!“
„…“, Bahe schwieg verblüfft. Sollten diese Klassen nicht eigentlich recht selten sein? Feiying besaß eine versteckte Klasse, Muning ebenfalls und er selbst besaß eine Legendäre…
„Hey, was ist das denn für eine Reaktion?“, beschwerte sich Muning. „Freu dich gefälligst für deinen Kumpel!“
Bahe lachte und hob grinsend und beschwichtigend die Hände: „Du hast schon recht, Glückwunsch Muning!“
„Hmpf“, gab Muning gekränkt von sich. Doch Bahe konnte an seinen zuckenden Mundwinkeln erkennen, dass es ihm schwer fiel ernst zu bleiben.
„Welche Klasse hast du denn entdeckt?“
„Ha! Ich dachte schon du fragst nie!“, beschwerte Muning sich, ehe er sofort eifrig antwortete: „Ich bin der erste Mönch von Eronor!“
„…“
„Bahe…“, sagte Muning drohend zu Bahes fehlender Reaktion.
„Der… Wahnsinn…?“, versuchte sich Bahe.
„Pah, warte du nur ab! Wenn wir uns eines Tages in Raoie sehen werden, wirst du staunen in Anbetracht der Allmacht des Mönches Gourmet von Eronor!“
„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du dich in Raoie Gourmet genannt hast. Eigentlich hätte ich gleich auf deine Klasse kommen müssen“, amüsierte sich Bahe über seinen Freund.
„Ja, was denn? Gourmet ist ein cooler Name, schließlich kann man mir nicht jeden Fraß unterjubeln. Zumindest nicht mehr, seitdem ich von den ekligen Anfangsrationen der Spielanfänger weg bin. Mein Ziel ist es die größten Delikatessen Raoies zu verspeisen!“
Den letzten Satz sprach er mit so übertriebener Theatralik, dass sie kurz darauf beide lachen mussten.
„Aber genug von mir, was geht denn bei dir so in Raoie ab?“
„Hmm… Ich habe ein Problem bei meiner Berufsquest, für das ich einfach keine Lösung finde“, antwortete Bahe.
„Schieß los, vielleicht kann ich helfen!“, rief Muning so begeistert, dass Bahe nicht anders konnte und ihm seine Problemsituation schilderte.
„Man Bahe, es hilft nicht gerade, dass du mir nichts über deine Berufsklasse verraten willst oder kannst. Ich meine, hier sind wir doch in der Realität…“, sagte Muning schließlich.
„Und was ist, wenn wir uns eines Tages in Raoie sehen und du dich verplapperst?“, konterte Bahe.
„Magst recht haben“, murrte Muning. „Aber egal wie ich es drehe und wende, wenn deine Berufsklasse so geheimnisvoll ist, dann muss es doch mindestens eine Geheime sein, oder? Du hast so ein verdammtes Glück…“
„Aber egal!“, rief er plötzlich aus, sprang auf und schob seine Brille in einer Art und Weise auf seiner Nase zu Recht, von der er hundertprozentig glaubte, dass sie cool wirkte.
Das aufkommende Grinsen, ob der Lächerlichkeit seines Freundes, verkniff sich Bahe lieber und wartete ab, da Muning nicht so aussah, als ob er schon fertig wäre.
„Ich kann dir sagen, mein Freund, dass du dich hier an den Richtigen gewandt hast!“, rief er lauthals aus und erklärte von sich selbst eingenommen: „Ich werde all meine Kraft nutzen, um zu einer akzeptablen Lösung zu kommen. Schwabbelbauchpower zum Nachdenken aktiviert!“
Dabei begann er wie verrückt mit dem Bauch zu wackeln, was nicht nur seine Speckfalten im Bauchbereich in Bewegung versetzte, sondern auch seine Wangen, Beine und Arme Erzittern ließ.
Das Ganze ergab ein so urkomisches Bild, dass Bahe nicht mehr konnte und vor Lachen nach hinten von der Bank kippte.
„Was denn?“ erklang nur Munings verwirrte Stimme.
Teil 2/2!
Bis Donnerstag!
RiBBoN