Willow war schon eine Weile wieder zu Hause, als Luca die Eingangshalle des Herrenhauses betrat. Aus dem Arbeitszimmer seines Onkels konnte er leise Musik hören, irgendetwas Klassisches, ansonsten war es totenstill in dem Gebäude. Luca lief die Treppe hinauf und den Gang entlang, der ihn zu seinem Zimmer ganz am Ende führte. Er öffnete die Tür und verschwand in dem Raum. Leise seufzend ließ der Jugendliche sich rücklings auf sein breites Bett fallen und starrte an die Decke. Er hatte am See versucht abzuschalten, aber das Einzige, das sein Hirn getan hatte, war, den Tag immer und immer wieder Revue passieren zu lassen. Lucas alleiniges Denken hatte Viktor gegolten. Es waren mittlerweile zwei Stunden vergangen und noch immer glaubte der junge Mann, den Geruch des Adligen wahrzunehmen, also ob dieser neben ihm liegen würde. Sollte das jetzt so weitergehen?
Er war froh gewesen, diese Phase des Vermissens nach dem One-Night-Stand hinter sich gehabt zu haben. Doch der heutige Tag hatte alles wieder hochgeholt und jetzt lag Luca hier auf seiner Matratze, alleine, und hätte schreien können. Ein Klopfen an seiner Tür ließ ihn sich aufsetzen.
»Ja, bitte?!«
Willow steckte den Kopf in das Zimmer und fragte unsicher: »Störe ich?«
»Nein, tust du nicht. Komm schon rein«, brummte Luca und seine Freundin schlüpfte in den Raum. Leise zog sie die Türe hinter sich zu und nahm neben dem Jugendlichen auf dem Bett Platz.
»Was gibt es denn?«
»Nun, zuerst einmal: Wer ist Viktor Draganesti und woher kennst du ihn?«
Luca, der mit genau dieser Frage schon gerechnet hatte, schmunzelte. »Graf Viktor ist … war mein erstes Mal nach der Gartenparty. Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich ihn nie wiedersehe. Das heute war … auf einer Seite wunderschön, auf der anderen ist es jetzt reine Folter für mich. Er ist weg und ich fühle mich wieder so beschissen wie an dem Morgen danach.« Luca ließ sich erneut auf den Rücken fallen und seufzte schwer.
»Dachte ich es mir doch. Aber wer sagt denn, dass ihr euch nicht wiederseht? Sicher, er ist weg, jetzt, aber vielleicht meldet er sich ja bei dir. Sei nicht immer so pessimistisch.«
»Ich weiß es einfach. Es ist so ein mieses Gefühl in der Magengegend, das mir das sagt«, erwiderte der Jugendliche, »aber lass gut sein. Ich möchte eigentlich nicht darüber reden. Nicht im Moment jedenfalls. Du hast doch noch etwas anderes auf dem Herzen, oder?«
»Ja ... ich … muss dir noch etwas sagen. Alan hat mich gebeten, mit dir zu reden. Lady Bramlett hat ihn auf einen Ball eingeladen, Anfang August, und dein Onkel will, dass du ihn dahin begleitest«, antwortete die Rothaarige zögerlich.
Ruckartig richtete sich Luca auf und sah Willow fassungslos an. »Was hast du da gerade gesagt? Ich soll mit Alan zu einem Ball dieser ...« Er schluckte die unschönen Worte, die er für die Adlige auf der Zunge hatte, herunter. »Wie zum Teufel kommt er auf die Idee, dass ich da mit hingehe? Einen Scheißdreck werde ich. Er findet bestimmt eine andere Begleitung.«
»Luca, bitte! Alan kann nichts dafür, dass diese Frau so ist. Willst du ihn wirklich hängen lassen?«
»Yep, das will ich. Ich kann mir was Schöneres vorstellen, als mir den Abend mit so was zu ruinieren. Geh du doch mit. Vielleicht ist Viktor ja auch da und dann ist mit Sicherheit auch sein Butler dabei.« Der Jugendliche zwinkerte seiner Freundin zu, die bis unter die Haarwurzeln errötete. Sie boxte ihn auf den Arm und knurrte.
»Es geht hier nicht um mich. Du sollst mitgehen. Außerdem, was hat das mit Graf Draganestis Butler zu tun? Wir haben uns nur nett unterhalten, weiter nichts.«
»Oh ja, ihr habt euch nur nett unterhalten.« Schmunzelnd musterte Luca die Rothaarige, die das Gefühl hatte, als würde ihr Gesicht in Flammen stehen. »Weißt du, Liebes, ich kenne dich zu lange und zu gut, als dass du mir etwas vormachen kannst. Er gefällt dir. Gib es zu.«
Einen Moment schwieg Willow, dann fing sie an zu kichern wie ein kleines Mädchen. »Na ja, er ist schon sehr interessant.«
»Wow, und das aus deinem Mund. Dieser Mann hat wirklich Eindruck hinterlassen. Dann kannst du in drei Wochen in ein wunderschönes Ballkleid schlüpfen und mit Alan dort hingehen. Falls er dort auftaucht, umso besser. Und ich … bleibe zu Hause.« Grinsend zwinkerte Luca Willow zu, bevor er sich wieder auf die Matratze sinken ließ. »Und jetzt sei so lieb und lass mich allein.«
Seufzend stand die junge Frau auf und musterte ihren Freund, der mit geschlossenen Augen dalag. Das war nicht so gelaufen, wie sie es sich erhofft hatte. Aber sie würde sich nicht einfach geschlagen geben. Sie würde es schon schaffen, Luca zu überreden, mit auf diesen vermaledeiten Ball zu kommen. Zum Glück war ja noch Zeit. Irgendwie musste sie ihn überzeugen.
»Gute Nacht«, sagte Willow leise, bevor sie das Zimmer verließ.
_
Währenddessen hatte Graf Viktor sich in seiner Villa in den Salon zurückgezogen. Eigentlich hatte er ein paar Stücke auf seinem Flügel spielen wollen, da er in einigen Tagen als Gast bei einem abendlichen Klavierkonzert zugegen sein würde, doch er konnte sich nicht konzentrieren.
Sein Blick fiel auf die elegante Einladung von Lady Amelia. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, doch er vermutete, dass auch Mr. Summerson, der Leiter des Gestüts, von der Dame zu dieser Festlichkeit eingeladen worden war. Lady Bramlett versäumte für gewöhnlich keine Gelegenheit, um sich der Anerkennung so wie der Aufmerksamkeit anderer Leute zu versichern und wenn der Betreiber eines renommierten Reitstalls ihre Pferde loben konnte, würde sie ihn lassen. Auch wenn er, so wie der Graf sie kannte, für sie doch nur ein besserer Angestellter war. Lady Amelia hatte schnell vergessen, wo sie selbst hergekommen war, nachdem sie in den Adel eingeheiratet hatte. Das war ein Charaktermakel von ihr, doch Fehler hatten sie alle, auch Viktor war davor nicht gefeit.
Er hatte sich vorgenommen gehabt, Luca nicht wiederzusehen. Dass es doch geschehen war, war purer Zufall gewesen, denn wie hätte Viktor wissen können, dass der Junge zu dem Gestüt gehörte? Auch Sebastian war keine Schuld daran anzutragen. Der Adlige hatte die Visitenkarte nicht sehen wollen, die der Jugendliche dem Butler gegeben hatte nach dem Hundevorfall im Park. Und Viktor erwartete nicht, dass Sebastian alles im Kopf behielt.
Dass er seinen Vorsatz gebrochen und Luca beigekommen war, konnte Viktor einzig und allein sich selbst vorwerfen. Bereuen konnte er es allerdings nicht. Es war aufregend gewesen und das letzte Mal, dass der Adlige sich liebestoll im Stroh vergnügt hatte, lag so lange in der Vergangenheit, dass Viktor sich kaum noch erinnern konnte. Erst recht nicht mehr an das Gesicht des Jungen, der diese Erfahrung damals mit ihm geteilt hatte. Der war bereits seit Jahrhunderten tot.
Der Graf hob den Kopf, als Sebastian mit einem Tablett den Salon betrat.
»Danke«, murmelte er.
»Mein Herr, ich habe soeben eure Garderobe von dem Ausflug gewaschen. Gestattet Ihr mir die Frage, warum ich Stroh in Euren Taschen und den Hosenaufschlägen fand?«
Viktor machte ein verlegenes Gesicht und der Butler konnte in der Blässe seiner Wangen erkennen, dass sie sich etwas färbten.
»Das möchtest du doch gar nicht wissen«, druckste er und wandte den Kopf zur Seite.
Sebastian lächelte und schenkte Tee ein. »Ich hatte in meiner naiven Unschuld angenommen, Ihr würdet nur mit dem Jungen reden, doch offenbar wurde die Unterhaltung ein wenig … körperlicher.« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Viktor richtete seinen Blick auf den anderen Mann. »Anstatt zu lachen, solltest du mich lieber rügen und mir eindrücklich sagen, dass ich aufhören sollte, mit dem Feuer zu spielen. Luca ist ein Mensch und wenn er dahinter kommt, was ich … was wir sind, dann ist er in Gefahr.«
»Das ist mir wohl bewusst. Und ich weiß nicht, ob es dieses Risiko wert ist für ein paar aufregende Schäferstündchen.«
»Das ist es nicht!« Der Graf griff nach der Tasse, doch seine Hand blieb in der Luft hängen, als er seinen Gedanken nachhing. Er konnte nicht so egoistisch sein, nur um seines körperlichen Vergnügens willen das Leben des Jungen zu riskieren. Die Clans der Vampire und der daraus gebildete Rat duldete es nicht, dass Sterbliche in die Existenz der Unsterblichen eingeweiht wurden. Dies diente zum Schutze sowohl der Menschen als auch der übernatürlichen Wesen und Ausnahmen wurden nur unter bestimmten Voraussetzungen gemacht. Bedingungen, die Viktor zum gegebenen Zeitpunkt nicht erfüllen konnte. Sein Reichtum und Einfluss unter den Mächtigen der Vampirwelt war nicht erhaben über die Gesetze und wenn er Luca nicht zu seinem Blutsklaven machen wollte, musste er vermeiden, dass dieser die Wahrheit herausfand und sich von ihm fernhalten. Sonst würden die Vollstrecker des Rates das für ihn erledigen, indem sie den Jungen umbrachten. Viele Unsterbliche hatten ihre menschlichen Geliebten verloren, weil sie gegen das Gebot der Geheimhaltung verstoßen hatten und bestraft worden waren. Viktor würde das nicht passieren. Er würde nicht einen Jungen opfern, dessen Leben gerade erst begonnen hatte. Und wenn dies bedeutete, dass er Luca nicht wiedersah, dann sollte das eben so sein. Es musste sein.
»Ihr seht aus, als trüget Ihr die Last des Universums auf Euren Schultern«, zog die sanfte Stimme Sebastians ihn aus den Gedanken.
»Nicht ganz. Nur die eines Lebens.«
Der Butler nickte. Er wusste, dass, wenn er den Jungen bei sich behalten wollte, Viktor nur eine Lösung dafür blieb und selbst diese war umstritten. Einzig das Privileg des Adels und des Reichtums ermöglichten es dem Grafen überhaupt, dies in Betracht zu ziehen. Einmal hatte er es schon getan, vor mehr als einem Jahrhundert. Und trotz des Glückes, das es ihm beschert hatte, hatte ein Teil von ihm stets bereut, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen, seinen Fluch auf einen unschuldigen Menschen zu übertragen.
»Würdest du mich allein lassen, bitte? Ich muss noch etwas für das Konzert üben.« Viktor stellte die leere Tasse ab und erhob sich.
»Ja, mein Herr.«
_
Die nächsten zweieinhalb Wochen vergingen wie im Flug.
Während Willow immer wieder versuchte, Luca doch zu überreden, mit auf den Ball zu gehen, litt der Jugendliche still vor sich hin und blockte alles diesbezüglich ab. Auch Alan probierte es auf seine Art, indem er versuchte, Druck auszuüben, aber damit konnte er seinen Neffen noch weniger erreichen. Hatte Luca die ersten Tage nach dem Zusammentreffen mit Viktor auf dem Gestüt noch die leise Hoffnung gehabt, dass der sich bei ihm melden würde, so hatte der Blonde diese Gedanken mittlerweile weit von sich geschoben. Nein, der Adlige würde sein Schweigen ihm gegenüber nicht brechen, da war sich Luca sicher. Viktor hatte ja gesagt, er habe seine Gründe gehabt, sich nach ihrem One-Night-Stand nicht mehr zu melden, und das änderte sich nicht, nur weil sie erneut aufeinander getroffen waren und ineinander gesteckt hatten.
So verkroch der Jugendliche sich in seiner Arbeit und erwischte sich wieder häufiger dabei, sich zu ritzen, um den Schmerz, den das Ganze verursachte, zu kompensieren – wie er es nach dem Tod seines Bruders Tyler schon getan hatte. Willow hatte keine Ahnung, dass ihr Freund in dieses alte Verhaltensmuster zurückgefallen war, denn der hatte sich für die Schnitte die Innenseite seiner Oberschenkel auserkoren. Da konnte die Rothaarige so schnell keinen Blick drauf werfen.
Zumindest hatte Willow es geschafft, Luca für einen Abend abzulenken und ihn in einen Pub in Reading zu entführen. Sie hatte ihn einfach auf andere Gedanken bringen wollen, aber es war in einem zügellosen Besäufnis auf Lucas Seite geendet.
»Wir sind da. Du kannst aussteigen«, brummend parkte Willow den X5 auf dem Hof und sah zur Beifahrerseite hinüber.
»Jawoll, Chefin«, kam es kichernd von dort zurück.
Die Rothaarige verdrehte die Augen. Schweigend beobachtete sie Luca, als der die Türe öffnete und beim Aussteigen fast aus dem Auto fiel.
»Ich schau dann noch mal nach Wotan. Warte nicht auf mich. Geh schlafen. Und danke noch mal für die Einladung«, lallte der Jugendliche und schwankte, ohne eine Antwort seiner Freundin abzuwarten, über den Hof in Richtung Stall davon.
Willow sah ihm seufzend nach und verschloss den BMW, bevor sie die Treppe zum Haus hinauf lief. Sollte Luca doch machen, was er für richtig hielt. Sie hatte keine Kraft mehr, gegen ihn zu kämpfen.
Während die junge Frau im Herrenhaus verschwand, öffnete der Blonde die schwere Stalltüre und schlüpfte in das Gebäude. Er ging den Gang herunter und blieb vor der Box seines Pferdes stehen. Wotan hob den schweren Kopf und sah den Jugendlichen an, als ob er fragen wollte »Was hast du hier noch zu suchen?«. Luca musste leise lachen und lehnte sich auf die halbhohe Türe. Der Wallach stupste ihn mit der Nase an und der Jugendliche vergrub die Finger in dem langen Schopf, der dem Pferd fast bis zu den Nüstern reichte.
»Kannst du mir sagen, was ich tun soll, Dicker? Vermutlich wäre es das Beste, ihn zu vergessen«, seufzte Luca, »wenn das nur so einfach wäre.«
Ein schepperndes Geräusch aus dem hinteren Teil des Ganges ließ ihn zusammenfahren. Wer trieb sich denn jetzt noch hier herum? Die Stallburschen waren um diese Zeit längst nach Hause gegangen. Also wer …? Luca löste sich von Wotan und starrte in das Halbdunkel vor sich.
»Hallo? Wer zum Teufel ist da?«, rief er und gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie bescheuert er sich verhielt. Ein Einbrecher würde wohl kaum antworten. Luca nahm sich eine Mistgabel von der Wand und horchte in die Stille. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Hände zitterten leicht. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter, als sich eine Gestalt aus dem Dunkel löste und langsam auf ihn zukam.