»Stopp! Bleib da stehen!« Luca versuchte, seiner Stimme einen festen und entschlossenen Ton zu geben, als er die Mistgabel wie eine Waffe vor sich hielt. »Ich spieße dich damit auf.«
Und der Andere hielt tatsächlich inne, sodass der Jugendliche sich zur gegenüberliegenden Wand bewegen und das Licht einschalten konnte. Warum hatte er nicht schon längst daran gedacht? Aber sein alkoholisiertes Hirn ließ keine logischen Schritte zu. Die Lampen gingen mit einem leisen Surren an und tauchten alles in ein fieses Neonröhrenlicht. Luca schaute wieder in die Richtung, wo er die Gestalt im Dunkeln ausgemacht hatte und brach in erleichtertes Gelächter aus. Der vermeintliche Einbrecher war Noah, der 17-jährige Sohn des Stallmeisters.
»Was tust du um die Uhrzeit noch hier? Du hast mich fast zu Tode erschreckt.«
Der dunkelhaarige Junge grinste schief. »Ich hab mich um Lady gekümmert. Die ist doch trächtig und das Fohlen kommt bald. Und heute war sie irgendwie so unruhig, da wollte ich sie nicht alleine lassen.« Er musterte Luca und fuhr dann fort: »Und was tust du hier? Warst du nicht mit Willow weg?«
Der Blonde stellte die Mistgabel zur Seite und nickte. »Ja, wir waren unterwegs. Und das ist nett, dass du dich um Lady kümmern möchtest. Aber wo willst du schlafen?« Er musste sich an der Wand abstützen, weil er merkte, dass er noch immer schwankte.
»Mach dir mal keinen Kopf. Ich komm schon klar. Bist du … betrunken?« Noah ging auf Luca zu, blieb dicht vor ihm stehen und schnupperte an ihm. »Oh ja, das bist du. Besoffen wie tausend Mann.«
Und bevor der Blonde wusste, wie ihm geschah, machte der Andere sich an seiner Jeans zu schaffen, öffnete sie mit flinken Fingern und zog sie dann mitsamt der Boxershorts nach unten, während er selbst in die Hocke ging.
»Was … Was machst du da?«
»Das wollte ich schon immer mal bei dir tun«, war die leise Antwort, bevor Noah Lucas beginnende Erektion zwischen die Lippen nahm.
Der Blonde lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Er ließ es einfach zu, dass der Sohn des Stallmeisters ihm einen Blowjob verpasste – zumindest für einen Moment. Dann wurde seinem vom Alkohol benebelten Verstand klar, was er hier tat. Luca griff nach den Schultern des Jungen und zog ihn nach oben, bevor er ihn energisch von sich wegschob und seine Hosen wieder hochzog.
»Aber ...«, begann Noah und sah irritiert in die blauen Augen seines Gegenübers.
»Nein! Kein Aber! Mach so was nie wieder, klar?«, schnauzte Luca den Anderen an, bevor er sich herumdrehte und fluchtartig das Stallgebäude verließ.
In seinem Zimmer angekommen, warf er sich auf das Bett und schlug die Hände vor das Gesicht. Tränen bahnten sich ihren Weg nach oben und Luca musste heftig schlucken. Was war nur los mit ihm?
Erst die Scheiße mit der Ritzerei, dann ließ er sich volllaufen und zum guten Schluss gab er einem halben Kind nach, ihm einen zu blasen? Und alles nur aus purer Verzweiflung? Weil er Viktor so sehr vermisste, dass jeder Gedanke an ihn wehtat wie der Schnitt der Rasierklinge in Lucas Haut?
Der Jugendliche nahm die Hände wieder vom Gesicht und starrte an die Decke, ließ den Tränen jetzt freien Lauf. So konnte das nicht weitergehen. Es musste irgendeine Lösung für diese Situation geben, in der er steckte. Vor allem musste er damit aufhören, sich selbst zu zerstören.
Morgen würde er Willow und Alan Bescheid sagen, dass er zu dem verdammten Ball mitkommen würde. Und sollte Viktor dort auftauchen, dann würde er, Luca, ihm halt aus dem Weg gehen. Was hatten sie schon groß miteinander zu tun? Außer zweimal Sex gehabt zu haben, verband sie nichts. Niemand erwartete, dass sie den Abend zusammen verbringen würden. Und vielleicht kam Viktor auch gar nicht dorthin, vielleicht hatte er ja andere Verpflichtungen. Luca erhob sich und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sein Entschluss stand fest. Langsam zog der Jugendliche sich aus und krabbelte unter die Bettdecke. Er drehte sich auf die Seite und starrte noch eine ganze Weile vor sich hin, bis er endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
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Unschlüssig stand der Graf an diesem Abend vor dem Spiegel und betrachtete die Auswahl seiner Kleidung. Lady Bramlett veranstaltete zwar eine Sommerparty, da sie diese in ihrer Einladung allerdings als ‚Ball’ bezeichnet hatte, war es nur natürlich, dass Abendgarderobe angesagt war.
Viktor seufzte. Ein schwerer Smoking war nicht unbedingt nach seinem Geschmack, wenn man bedachte, dass die Temperaturen selbst nach Einbruch der Dunkelheit kaum unter zwanzig Grad sanken. Die Hitzewelle über London erstreckte sich ebenfalls bis in die ländlicheren Außenbezirke, auch wenn man dort, weil es nicht so dicht bebaut war, häufiger erfrischende Winde genießen konnte.
Mit einem Lächeln ließ er seine Finger über ein seidenes Jacketts gleiten. Diesen Anzug hatte er sich erst vor einigen Tagen anfertigen lassen und der kühle, schwarze Stoff, der im Licht einen feinen mitternachtsblauen Schimmer hatte, fühlte sich gut, beinahe sündig an.
Der Graf nickte zu sich selbst. Er würde dieses Stück tragen, denn es war sowohl elegant als auch modern und nicht so schwer wie ein steifer Frack, mit dem er kaum würde sitzen können.
Während er noch die feinen Nadelstreifen mit dem Zeigefinger nachzeichnete, fragte er sich, ob Luca seine Kleidung wohl als zu spießig ansehen würde. Knurrend schüttelte Viktor aber gleich darauf den Kopf.
Was spielte das für eine Rolle? Er hatte sich die letzten drei Wochen rigoros von dem Jugendlichen ferngehalten, weder angerufen noch sonst ein Lebenszeichen von sich gegeben, sondern stattdessen nur gearbeitet. Sebastian hatte die neusten Kompositionen seines Herrn als schwermütig bezeichnet und gemeint, er würde mehr Zeit in seinem Nachtclub verbringen, als er es müsste, wo er doch einen Geschäftsführer hatte, doch das kümmerte den Adligen nicht. Es war zur Sicherheit Lucas, dass er nicht weiter über ihn nachdachte. Was Sebastian für merkwürdige Gedanken hatte - als würde Viktor mehr für den Jungen empfinden als die flüchtige Faszination seiner blauen Augen und den Reiz seines jugendlichen Körpers.
Der Graf schnaubte leise. Er hatte schon früher Abenteuer und Liebhaber gehabt, ohne gleich in überschwängliche Gefühle auszubrechen. Wer liebte denn in der heutigen Zeit noch, in der es kein Mitgefühl gab und die Menschen mehr an Dingen hingen als an zwischenmenschlichen Bindungen ...
Sich die Schläfen reibend, setzte sich der Adlige in den weichen Sessel vor dem Kamin und blickte auf das Gitter, hinter dem die Feuerstelle kalt dalag. Er, Viktor, hatte viele verloren, die ihm einst etwas bedeutet hatten. Einige waren ihm genommen worden, andere hatte er gehen lassen. Es war, wie es war. Er weigerte sich, Sebastians Mutmaßungen zu viel Gewicht zu geben. Faszination war nicht Liebe. Das Gleiche galt dafür, sich zu sorgen, dass sein Egoismus, den Jungen in seiner Nähe haben zu wollen, diesen in Schwierigkeiten bringen konnte. Es wäre einfach unfair und Viktor wollte nicht wie diese anderen Vampire sein, die sich über das Wohlbefinden der Menschen hinwegsetzten und diese versklavten, nur weil sie sie aus einem Anflug von Besessenheit oder vermeintlicher Liebe besitzen wollten.
Luca war kein Haustier. Und auch kein Objekt, dem man nach Herzenslust Blut rauben oder dessen Körper man benutzen konnte. Er war vielmehr wie ein Vogel, zart und doch stark, unabhängig und nicht dafür geschaffen, in einem Käfig zu leben, selbst wenn dieser aus Gold war.
Unwirsch rieb sich der Adlige über den Kopf und knurrte. Allmählich könnte diese Grübelei mal wieder aufhören. Viktor erhob sich und hängte den seidenen Anzug an die Tür seines Kleiderschrankes, bevor er die restlichen Stücke darin aufhängte. Für sein Outfit fehlte nur noch ein Hemd und eine Krawatte, doch er hatte noch Zeit, sich diese am nächsten Tag herauszusuchen. Die Party begann ohnehin erst am frühen Abend, nachdem die Hitze der Tagesmitte etwas abgeklungen war. Gähnend entledigte er sich des legeren Baumwollhemdes und der ausgewaschenen Jeans. Er grinste, als er das Zeug über den Sessel warf. Seine vornehmen Bekannten kannten ihn nur in feinstem Zwirn, weil er selbst es bevorzugte, sich immer hervorragend zu kleiden. Noch nie hatte einer dieser Leute ihn in Sweatshirt und Sporthose gesehen, geschweige denn einer zerschlissenen Jeans.
Viktor streckte sich und griff gerade nach der Tagesdecke, als es leise klopfte und Sebastian die Suite betrat.
»Mein Herr, verzeiht, ich bringe Euch Euren Abendsnack.« Der Butler verneigte sich leicht. Er trat näher an den Adligen heran, der sich, in Shorts und Unterhemd, auf die Kante des Bettes gesetzt hatte und die große Tasse entgegennahm, die Sebastian ihm hinhielt.
»Ich danke dir«, murmelte Viktor und warm rann das Blut seine Kehle hinab, als er den ersten Schluck trank. Es war seine Lieblingssorte und auf den Punkt erwärmt. Frisches Blut aus einer Halsvene hatte der Vampir lange nicht mehr genossen. Die paar Tropfen, die er sich an dem Nachmittag im Stroh von Luca gestohlen hatte, zählten nicht. Und auch das winzige Bisschen, das er ihm bei ihrer ersten Begegnung geraubt hatte, nicht. Beißen und dann trinken war doch etwas gänzlich anderes.
Für den Moment gesättigt, reichte Viktor dem Butler das Trinkgefäß zurück. »Das war köstlich. Ich werde jetzt zu Bett gehen.«
»Aber mein Herr, es ist noch früh. Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«
»Doch, ich bin nur erschöpft. Nutz’ die Gelegenheit und nimm’ den Rest des Abends frei. Es liegt sicher nichts mehr an, das nicht auch noch etwas warten könnte.«
Sebastian hob leicht den Kopf und schien ernsthaft nachzugrübeln, was er noch zu tun hatte, als das leise Lachen seines Herrn ihn unterbrach.
»Ich meine es ernst. Alles, was bis morgen oder übermorgen nicht tot ist, kannst du liegen lassen.«
Schmunzelnd nickte der Butler. »Gut, dann nutze ich die Gelegenheit, bei meiner Lieblingsserie etwas aufzuholen.«
Viktor zog die Augenbraue hoch. »Du und deine Zombies. Ich wünsche viel Spaß. Es wäre gut, wenn du mich morgen vor Mittag wecken könntest.« Der Graf starrte einen Moment finster auf die Wand gegenüber. »Ich muss mich nervlich noch darauf vorbereiten, dass wir auf Lady Bramletts Landgut fahren, auf dem ihre ganzen Zuchthunde herumlaufen.« Er erschauderte bei dem Gedanken daran.
»Aber mein Herr, die Tiere sind doch nicht beim Herrenhaus, das wisst Ihr genau. Ihr werdet sie nicht zu Gesicht bekommen.« Sebastian hatte ein spöttisches Grinsen um die Lippen.
Knurrend machte der Graf eine wegwerfende Handbewegung und schob sich unter die Bettdecke.
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»Ich glaube, ich lasse mir mal wieder die Haare schneiden, was sagst du?« Viktor strich sich seine lange Mähne aus dem Gesicht und band sie im Nacken locker mit einem Zopfgummi zusammen, bevor er das seidene Jackett über das stahlgraue Hemd zog und die dunkelblaue Krawatte richtete. Es war zu heiß, um den Kragen ordentlich zu schließen und so sah der Graf insgesamt leger und doch elegant aus.
»Ganz wie Ihr das wünscht, mein Herr. Mir wären so lange Haare viel zu unpraktisch.« Sebastian schürzte einen Moment die Lippen. »Ganz davon abgesehen, dass es mir nicht stehen würde. Euch schon.«
Viktor grinste leicht. »Deines war früher auch länger.«
»Aber nicht so lang.«
»Nein. Gut, ich wäre dann so weit. Lass’ uns aufbrechen.« Der Graf warf einen Blick auf Sebastian, der seinen Ausgehanzug trug. Dieser unterschied sich zwar kaum von seiner üblichen Arbeitskleidung, war aber doch ein bisschen festlicher. »Du siehst gut aus.«
»Danke, mein Herr. Ihr auch.« Der Butler nahm die teure und nobel eingepackte Flasche Wein, die der Graf als Gastgeschenk mitbringen wollte und gemeinsam verließen sie die Villa.
Lady Bramletts Anwesen in Maiden’s Green, etwa eine Stunde westlich der Londoner Innenstadt, war ein weitläufiges Grundstück, von einer Steinmauer umgeben und von der Straße aus kaum einzusehen.
Viktor, dem die Wärme des Tages zu schaffen machte, hatte sich die Sonnenbrille auf die Nase geschoben, als Sebastian die silbergraue 7er BMW-Limousine auf das gusseiserne Tor der Einfahrt zu lenkte. Es stand offen und bot bereits einen Blick auf eine von Bäumen gesäumte Zufahrt, durch die man weiter hinten das schmutzig-graue Herrenhaus ausmachen konnte, das in der Sonne hell und einladend wirkte.
Der Park rund um das Maiden House, wie das Anwesen hieß, war üppig grün und durchzogen von gezähmten Blumenbeeten, aber auch wilden Ansammlungen, die man einfach hatte wachsen lassen.
»Ein hübsches Fleckchen, das muss ich immer wieder zugeben«, gluckste Sebastian, während er den Wagen über die Zufahrt lenkte. Er und sein Herr waren bereits einmal hier gewesen, als Lady Bramlett Viktor auf einen Besuch ihrer renommierten Hundezucht eingeladen hatte, die einen Teil des Grundstücks einnahm.
»Hmhm«, gab der Graf nur leise zurück. Er hatte gehofft, es würde sich etwas lichten mit der Hitze, wenn sie erst den Ballungsraum hinter sich hatten, doch dem war nicht so gewesen. Selbst durch den gekühlten Innenraum der Limousine konnte der Vampir ausmachen, wie fürchterlich warm es war. Er wollte am liebsten den Wagen gar nicht verlassen, doch dieser würde ihm kaum mehr zur Verfügung stehen, wenn er erst einmal ausgestiegen war. Das Anwesen bot nicht den Platz für zwei Dutzend und mehr Fahrzeuge, deswegen hatte Lady Bramlett schon früher immer einen Parkservice- und Wachdienst engagiert, der die Autos an anderer Stelle parkte und auf sie acht gab.
»Ich hoffe, Eure Laune bessert sich noch, wenn Ihr erst einmal einen eisgekühlten Drink genießen konntet, mein Herr.« Sebastian warf dem Vampir einen Blick durch den Rückspiegel zu. Der Butler wusste, wie elend sich Viktor fühlte, wenn die Tage zu heiß waren.
»Das hoffe ich auch«, murmelte dieser.