Lucy blinzelte in das helle Licht, als sie aus der Hütte trat. Der Rest ihrer kleinen Gruppe hatte sich um ein frühes Lagerfeuer versammelt und starrte schweigend in die Flammen. Lucy trat zu ihnen.
„Warum hat mich niemand geweckt?“
Keiner aus der Gruppe schien sich berufen zu fühlen, ihr zu antworten. Lucy blinzelte in den Himmel und registrierte, wie hoch die Sonne schon stand. Es war beinahe Mittag. Natürlich war es schön gewesen, ausnahmsweise mal auszuschlafen, aber Lucy wusste, dass Thanatos sie alle aus gutem Grund bereits zum Sonnenaufgang geweckt hatte.
„Hey, wir müssen jagen. Wir brauchen Vorräte“, sagte sie, diesmal lauter. Endlich sahen die ersten auf.
„Sollten wir nicht Thanatos suchen?“, fragte Nokori.
„Erst mal müssen wir dafür sorgen, dass wir hier draußen nicht sterben!“, sagte Lucy. „Los, die Sammler und Jäger: Auf mit euch!“
Kassia erhob sich als eine der ersten. Ihr Blick glitt über den Dschungel am Rand ihres Lagers im Sumpf. Lucy wusste, dass Kassia nach Mikail Ausschau hielt, immer noch in dem glauben, dass der geniale Erfinder noch dort draußen war. Aber Kassia hatte Mikail befreit, und Lucy bezweifelte, dass der zurückkehren würde zu dieser Gruppe, mit der er sich überworfen hatte. Vermutlich versuchte er, sich alleine durchzuschlagen und wurde von irgendwas gefressen.
„Henry, du kümmerst dich um die Tiere“, befahl Lucy dem anderen Handwerker in ihrer Gruppe. Der untersetzte, dickliche Mann verzog das Gesicht, trollte sich dann aber, um die gezähmten Tiere zu versorgen: Das Dreihorn namens Scaramouche, den kleinen Raubsaurier Oskar, das Parasaurus-Jungtier Smiley und die Riesenkröte Umbridge. Und natürlich das große Krokodil, ihr Neuzugang, der noch keinen Namen bekommen hatte. Jedes einzelne Tier hatte die Gruppe, teilweise unter Lebensgefahr, gezähmt.
Die kleine Insel trockenen Bodens, auf der ihre unfertige Hütte stand, war bald verlassen. Lucy zog sich in die Hütte zurück und winkte Galileo fort, der fragte, ob sie ihn auf die Jagd begleiten würde. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, und das konnte sie nicht, solange sie draußen in Lebensgefahr schwebte.
Sie sah sich in der Hütte um, ein einziges Zimmer, in dem sie alle schliefen.
Eines war klar: Ohne feste Führung würde die Gruppe bald zerbrechen. Lucy mochte jung sein, aber sie war auch intelligent. Wie alle anderen konnte sie sich nicht wirklich an ihr früheres Leben erinnern, aber immerhin hatte sie das Wissen um Gruppendynamiken mitgebracht – und ausgezeichnete Fähigkeiten zum Überleben.
Und sie wollte überleben. Ganz offensichtlich konnte man in dieser Welt nicht alleine überleben, also brauchte sie die anderen. Und zwar in Form einer Gruppe, die sich versorgte, und die sich verteidigen konnte.
Da niemand der anderen auch nur an die Jagd gedacht hatte, war Lucy klar, dass sie die Führung übernehmen müsste. Sie würde es genauso machen wie Thanatos, nur ein wenig besser. Das kleine, dunkelhaarige Mädchen ballte die Hände zu Fäusten, während sie in die Dunkelheit starrte.
Es gab das andere Lager, Drachenblut nannten die Menschen dort ihre Festung – ein schrecklicher, übermächtiger Feind. Thanatos hatte zugelassen, dass Streitereien die Siedler in Parteien aufteilten. Lucy durfte nicht den gleichen Fehler machen. Ihre eigene Gruppe musste stark sein, gefestigt gegen die Gefahr von Außen.
Bald war Mittag und die Sammler kamen zurück, ebenso Galileo und Ashley. Es gab nicht viele Vorräte, und die Lebensmittel von den Vortagen waren zu einem großen Teil schon wieder schlecht. Es wurde also eine karge Mahlzeit, während derer Lucy den anderen ihren Vorschlag unterbreitete, dass sie Thanatos' Rolle vorübergehend einnehmen könnte.
„Ich habe einfach Angst, dass wir sterben, wenn wir nicht so weiter machen wie vorher.“
„Ja, aber wieso du?“, fragte Henry. „Ich wäre doch beispielsweise auch noch da.“
Ein paar lachten.
„Bei der Wahl stimme ich für Lucy!“, rief Galileo.
Lucy hob eine Augenbraue: „Ich dachte, du hasst mich!“
„Tue ich auch“, brummte Galileo, was Henry zu einer missmutigen Grimasse brachte.
Lucy spürte, dass eine neue Entzweiung in greifbare Nähe rückte.
„Wir entscheiden später, wer genau den Anführer macht“, sagte sie. „Für heute mache ich das, aber viel gibt es auch nicht zu entscheiden. Wir belassen es bei den Rollen, die wir haben. Ashley, du geht vorerst mit den Sammlern.“
Insgeheim dachte Lucy darüber nach, dass sie Waffen brauchen würden. Doch wer sollte ihnen ein Gewehr bauen, jetzt, da Mikail fort war? Und sie mussten erfahren, was Drachenblut plante. Ein neuerlicher Angriff der anderen Menschen der sie unvorbereitet traf, könnte sie völlig zerschlagen.
Sie brauchten mehr Späher, ein besseres Lager, und vor allem mehr Saurier: Denn diese Tiere waren ihre einzige Hoffnung, im Kampf mit Drachenblut zu bestehen.
Die Zeit drängte. Tausend Gedanken schwirrten durch Lucys Kopf, während sich die Gruppe nach dem Mittagessen für einen neuerlichen Aufbruch rüstete.
„Henry? Kannst du mit Galileo gehen?“, fragte Lucy, worauf dem dicklichen Mann die Brust vor Stolz anschwoll.
„Bleibst du hier?“, wunderte sich Galileo, ein groß gewachsener, dürrer Mann mit sehr langen Haaren.
Lucy nickte. „Nur heute, versprochen.“
„Du nimmst deine Rolle ja schon ernst“, grinste Henry. Über die Aussicht, endlich einmal zu den coolen Jägern zu gehören, hatte er seinen Groll auf Lucy begraben. Sie war ziemlich stolz auf sich.
„Haltet Ausschau nach Thanatos!“, rief sie den beiden Jägern noch nach, als diese gingen.
Dann sah sie sich die kleine Hütte an. Nein, das hier war kein guter Platz. Sie waren umringt von Sumpfland, ein gefährliches Land voller Gift und hungriger Monster. Sie waren von allen Seiten angreifbar, nur durch flaches Wasser geschützt.
„Wir werden gehen“, murmelte sie leise. Jetzt war sie allein, vollkommen allein, bis auf das Krokodil. Die anderen Saurier hatten die Sammler oder die Jäger mitgenommen, aber niemand vertraute dem Krokodil.
Lucy ging langsam zu dem riesigen Tier. Es war bestimmt zwanzig Meter lang. Als sie sich der langen Schnauze näherte, grollte das Tier bedrohlich.
Sie mochte Krokodile nicht. Etwas an diesen Räubern, die absolut regungslos liegen konnten und ohne Vorwarnung zuschnappen konnten, beunruhigte sie zutiefst. Lucy sah tief in die gelben Augen und musste an Drachenblut denken. Es war kein großer Unterschied zwischen dem Menschenlager und diesem Krokodil. Und Lucy erinnerte sich plötzlich an etwas aus ihrem früheren Leben. Raptoren waren doch die gefährlichsten Jäger der Dinosaurierzeit gewesen. Wenn Drachenblut ein Krokodil war, dann würde sie ihre Gruppe zu einem Raptorenrudel machen.
Das klang mehr als angemessen. Wenn die anderen Menschen ihr Lager Drachenblut nannten, dann war dieses Lager ab nun Raptor.
Lucy lächelte und kehrte dem Krokodil den Rücken zu.