Die Schüsse krachten lauter als der Donner, die Kugel pfiffen wie Hagel auf die Angreifer hinab.
Maurice hatte schnell verstanden, wie die Waffe zu bedienen war, nun bewegte er sich mechanisch und hatte alle Gedanken abgeschaltet.
Laden – scharf machen – anheben – anvisieren – schießen – laden – scharf machen … er ging ganz automatisch, Kugel für Kugel. Maurice konnte nicht darüber nachdenken, dass jeder Schuss ein Ziel fand – ein Ziel mit Gesicht, Herz, Händen. Er wurde blind für die Menschen und sah nur noch Schema. Dort eine Lücke in einer Rüstung. Hier eine Bewegung, die zu nah an ihrer Basis war. Da einen Schatten im Himmel mit Flughäuten, die leicht zu treffen waren.
Manchmal schoss er womöglich auch auf Blätter oder Wasser, es war längst zu dunkel, um genaueres zu sagen. Der Regen war stärker geworden, fiel in dichten, schwarzen Strängen und begrenzte Moris Sicht. Er war wie in einem Nebel gefangen. Sein Herz pumpte vor Angst.
Er fuhr zusammen, als ein lautes Donnern den Schlachtlärm übertönte. An einer Seite des Berghang setzte sich plötzlich ein Großteil des Waldes in Bewegung, die Baumkronen sackten ab und verschwanden in einer dichten, weißen Wolke, die auf dem Boden völlig fehl am Platz aussah. Maurice starrte auf das Geschehen. Er verstand es nicht.
Dann wandte er den Blick wieder zu der Armee, doch der erschöpfte Nebel war durchbrochen. Er sah nicht länger Ziele vor sich, sondern Menschen und Saurier. Die schiere Masse an Gegnern überrollte ihn.
Unmöglich, dass sie alle Drachenblütler töten konnten. Es waren einfach zu viele, ihre Saurier waren zu groß und zu gut gepanzert. Eine Weile könnten sie vielleicht noch hier oben ausharren, nun, da die Flieger so gut wie alle ausgeschaltet waren.
Doch irgendwann würde Drachenblut sie einfach überrennen.
Die Waffe fiel aus Moris kalten Fingern. Er war kein Krieger. Der Gedanke, auch nur ein einziges weiteres Leben auszulöschen, verursachte ihm Schwindel und Übelkeit. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Als er wieder zu sich kam, hatte sich nicht viel verändert. Der Kampf tobte um ihn herum, oder eher ein Stück entfernt, denn die Grenze lag am Berghang und Mori lag etwas näher zur Mitte ihrer Festung hin.
Der Regen stürzte noch immer nach unten. Niemand schien überhaupt bemerkt zu haben, dass Maurice fehlte.
Langsam stand er auf und konnte Mikail, Kassia und Zayn erkennen, die hinter einer niedrigen Mauer hockten und abwechselnd feuerten, ohne etwas um sie herum zu beachten.
Maurice überlegte, dass er zu ihnen gehen und weiter kämpfen sollte. Doch er brachte es nicht über sich. Keine zehn Stegosaurier könnten ihn auch nur einen Schritt in Richtung Schlacht bewegen. Es war hoffnungslos. Sie würden unterliegen, Drachenblut würde sie gefangen nehmen oder sogar töten. Maurice verstand nicht, warum sie überhaupt noch kämpften. Wofür sie kämpften.
Er drehte sich um und schlich in den Wald, dorthin, wo die Hütten in dem Baumwipfeln schaukelten.
In dem peitschenden Regen überrollte ihn eine Welle von Einsamkeit. Ihm war nach heulen zumute, doch er riss sich zusammen und sah nur in den aufgewühlten Himmel. Der ganze Kampf schien ihm mit einem Mal so fremd, ebenso die Menschen, an deren Seite er kämpfte.
Warum gaben sie nicht einfach auf? Die Flucht war schon sinnlos gewesen, denn Drachenblut fand einen immer, überall, sofort. Sich zu widersetzen war ebenso sinnlos. Man brauchte nur nach vorne zu sehen, wo die tausenden von Gegnern aufmarschierten: Riesige Saurier, unzählige Menschen und dahinter der kalte, berechnende Intellekt von Anthony Jayden, der immer bekam, was er wollte.
„Maurice?“
Er fuhr herum. Kassia stand hinter ihm, störte seine Gedanken. Sein erster Instinkt war, zu fliehen.
„Geht es dir gut?“
Was sollte er darauf schon antworten. Ihm fehlte nichts, er war nicht verletzt. Und trotzdem … er sah keinen Sinn darin, weiter zu kämpfen. Er sah überhaupt keinen Sinn mehr.
Als er schwieg, griff Kassia nach seinem Arm: „Egal, komm mit. Du kannst mir helfen. Wir brauchen mehr Munition.“
Maurice ließ sich mit ziehen. Er mochte vielleicht einen neuen Körper haben, aber ansonsten war er immer noch dieselbe Person.
Kassia führte ihn zu der Lagerhütte und durchsuchte sie, dann drückte sie ihm eine schwere Kiste in die Hände.
Maurice blieb stehen. Nach einer Weile setzte er die Kiste ab, sehr zum Entsetzen von Kassia, die mit einer zweiten Kiste nach draußen kam, unter dem Gewicht schwankend.
„Was ist?“, fragte sie und setzte ihre Kiste ebenfalls ab. Sie starrte Maurice an, bis er nicht länger schweigend konnte. Aber wie sollte er Kassia seine Gedanken erklären?
„Ich … kann nicht mehr“, murmelte er leise. Vielleicht ging es sogar im Tosen des Sturms unter.
„Hast du Angst?“, fragte Kassia.
Maurice zögerte. Nicht wirklich. Doch er nickte.
„Wir haben alle Angst“, sagte Kassia, was nicht besonders hilfreich war. Keiner von ihnen empfand so wie Maurice. Er war bereits einmal gestorben, er wusste es. Er hatte furchtbare Angst, das nochmals zu erleben.
„Aber wir können es schaffen“, fuhr Kassia fort. „Wenn Drachenblut erst besiegt ist, müssen wir auch keine Angst mehr haben.“
Sie lächelte aufmunternd, doch Maurice schüttelte den Kopf. „Das ist Drachenblut. Wir können nicht gewinnen.“
Kassias Lächeln schwand. Sie sah nach vorne, wo man zwischen den Bäumen eine neue Gruppe Flugsaurier aufsteigen sah. Jedes Mal fiel es ihnen schwerer, alle abzuwehren.
Irgendwann würde Drachenblut auf dem Berg landen.
„Na und?“, sagte Kassia. „Wir sind … der Dodohügel. Wir geben nicht auf, nur weil wir keine Chance sehen. Wir sind wie Dodos, dumm bis in den Tod“, sie lächelte leicht. „Aber auch störrisch. Willst du denn zurück nach Drachenblut, Maurice?“
Er schüttelte den Kopf.
„Gut. Dann kämpfe darum, dass du auf keinen Fall zurück kommst. Kämpfe für deine Freiheit.“
„Aber …“, setzte er an.
„Wir haben erst dann verloren, wenn wir aufgeben“, sagte Kassia scharf. „Mikail hat bestimmt noch ein paar Tricks. Noch besteht Hoffnung.“
Sie bückte sich und hob die Kiste mit der Munition auf. Maurice sah ihr zu, wie sie mit schweren Schritten zu den anderen zurückkehrte, unter dem Gewicht taumelnd, doch trotzdem weiterkämpfend, stur wie ein Dodo.
Dann hob er seine eigene Kiste auf und folgte ihr.