Lucy spürte den kalten Wind im Gesicht, der scharf über den Berghang schoss. Er zerrte an ihren Haaren und der Kleidung aus primitiven Stoff und Leder. Und er trug ihr den Geruch der Feuer zu, die rund um den Berg entzündet worden waren.
Drachenblut war gekommen. Sie hatten ein wahres Heer gebracht, das in den Wald gerollt war wie eine Lawine. Nun blinkten die Feuer unter Lucy wie Sterne, die sich in einem schwarzen Meer spiegelten. Sie saßen in der Falle.
Die Gruppe, die sich Raptor nannte, hatte versucht, die Bergkuppe zu erreichen, eine gute Position, um einen Krieg gegen einen überlegenen Gegner zu führen.
Doch wie sich herausstellte war der Berg bereits besetzt. Jemand hatte sich bereits oben verschanzt, es gab kein Durchkommen für Lucys kleine Gruppe und ihre Saurier.
Das Schlimmste war vielleicht, dass die Gruppe oben aus Mikail und Kassia bestand (sowie zwei Fremden). Lucy hatte nicht geglaubt, die beiden noch einmal wiederzusehen. Die Verräter, wegen denen sie überhaupt erst hatte fliehen müssen. Wären Kassia und Mikail damals nicht geflohen, hätten sie Drachenblut schwere Verluste beibringen können. Jetzt stand die Gruppe Raptor zwischen den Fronten, hatte weder die zahlenmäßige Kraft von Drachenblut noch die Burg von den Dodos.
Lucy fuhr zusammen, als sie Schritte hörte. Es war Liara, die sich ebenfalls von dem kleinen Feuer ihrer Gruppe entfernt hatte – Galileo und Henry war es auch nicht zuzutrauen, dass sie die Fleischvorräte zurückließen.
Lucy sah die blasse, großgewachsene Frau an, als diese sich neben sie stellte.
„Ich muss sagen … der Berg wäre eine gute Position gewesen“, teilte Liara ihr zögerlich mit. „Was für ein Pech, dass er besetzt ist.“
Lucy hob beide Augenbrauen. Das war wohl Liaras Art, „gut gemacht“ zu sagen.
Sie atmete tief durch. „Jetzt ist es zu spät. Wir können nicht mehr fliehen, wir sind umzingelt. Wir kommen nicht auf den Berg. Mir … fällt nichts mehr ein.“
Zu Lucys Erstaunen lachte Liara nur leise über diese Offenbarung. „Bisher habe ich dich nicht für jemanden gehalten, der leicht aufgibt!“
„Was?“, fragte Lucy und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin bloß realistisch!“
Liara schüttelte den Kopf und starrte Lucy an. „Eines Tages musst du mir dein Geheimnis verraten, kleines Mädchen, das wie eine Erwachsene spricht. Aber mal ehrlich, du klingst, als wolltest du aufgeben.“
„Gibt es denn einen anderen Weg?“, fragte Lucy. Obwohl sie sich alle Mühe gab, selbstbewusst und streng zu klingen, so war es im Grunde eine Bitte an Liara, ihr zu helfen.
„Sieh dich um“, Liara deutete mit einer weiten Geste auf den Berghang um sie herum. „Alles hier ist voller Beerenbüschen. Alles, was ich brauche, sind Narcobeeren und einige von den roten und ich sorge dafür, dass Drachenblut es bereut, uns in die Enge getrieben zu haben!“
„Was hast du vor?“, fragte Lucy leise.
„Gift, meine Liebe“, Liara beugte sich vor, grinste und leckte sich über die Lippen. „Es gibt einen Grund, warum man mich die Schlange nennt!“
Falls Liara erwartet hatte, dass Lucy dankbar oder sprachlos oder beeindruckt sein würde, so wurde sie enttäuscht.
„Wer?“, fragte das Mädchen stattdessen.
„Was?“, fragte Liara irritiert.
„Wer nennt dich die Schlange?“
Liara lehnte sich wieder zurück und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Sie schwieg lange.
„Ich weiß es nicht mehr“, erklärte sie schließlich, als Lucy schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte. „Ich weiß, dass das mein Name war, früher … aber ich habe mein vorheriges Leben vergessen.“
„Das haben wir alle“, meinte Lucy kühl. Diese immer gleiche Geschichte von einer Amnesie ödete sie an. Dann beschloss sie allerdings, Liara ein wenig mehr zu offenbaren: „Wir alle haben solche Erinnerungsfetzen. Es bedeutet, dass da auf jeden Fall ein vorheriges Leben war, das man uns aus dem Gedächtnis gelöscht hat. Es muss einen Grund dafür geben.“
Liara warf ihr einen scharfen Blick zu. „Hast du eine Idee, was der Grund sein könnte?“
Lucy schüttelte den Kopf, dann seufzte sie. „Unser Anführer damals, Thanatos – er wusste es. Ich bin mir absolut sicher. Er wirkte nicht, als ob er von dem Gedächtnisschwund betroffen war. Stattdessen wirkte er wie jemand, der für gewöhnlich die Kontrolle besitzt. Es war … echt ätzend, er hat uns herumkommandiert und nicht erlaubt, dass irgendetwas ohne sein Wissen geschieht.“
Liara stand schweigend neben Lucy und hörte zu.
„Er wirkte … das klingt jetzt doof, aber er wirkte wie ein König, der gezwungen war, sein Land zu verlassen. Wir waren eine Gruppe von Bauern, es hat ihn gestört, wenn wir ihm nicht sofort gehorcht haben.“
„Klingt nach jemandem, den ich kenne“, spottete Liara mit Blick auf Lucy. Die funkelte zurück: „Du hast ihn nicht erlebt. So oder so, ich habe wohl von Anfang an gespürt, dass er mehr weiß. Da war etwas in seinem Blick, als würde er ein Geheimnis zurückhalten. Also …“
„Also?“, hakte Liara nach, als Lucy nicht weiter sprach. Das Mädchen zögerte, denn sie hatte ihr Geheimnis noch niemandem anvertraut.
„Also habe ich ihm eine Falle gestellt. Ich habe Gruben im Wald gegraben und gewartet, bis er in eine hinein gefallen ist.“
„Du hast ihn getötet?!“, entfuhr es Liara entsetzt.
„Vermutlich“, seufzte Lucy. „Ich wollte ihn aushungern und dann zwingen, mir die Wahrheit zu sagen. Aber die Ereignisse haben sich überstürzt. Wir mussten unser Lager verlassen, wir haben uns gestritten, mussten fliehen. Er sitzt wahrscheinlich heute noch in dem Loch.“
Liara schüttelte entgeistert den Kopf. „Das ist furchtbar!“
„Ja. Alle Antworten sind mit ihm gestorben“, meinte Lucy. „Ich war so nah an der Lösung, und dann taucht Drachenblut plötzlich auf!“
Liara starrte das Kind entgeistert an. Beide fuhren zusammen, als ein tiefes Grollen vom Lagerfeuer erklang.
Sie eilten über den Berghang zu dem kleinen Platz, auf dem Galileo, Henry und ihre Saurier warteten. Roseanne hatte sich aufgesetzt und knurrte. Als Lucy und Liara ankamen, erhob sich ein kleiner Flugsaurier vom Boden und ergriff die Flucht.
„Halt!“, fluchte Henry. „Das war mein Speer!“
„Elender Dieb!“, Galileo warf einen Stein nach dem Saurier und verfehlte ihn um ein ganzes Stück.
Lucy seufzte. Sie hatte schon an einen großen Angriff geglaubt. Jetzt ließ sie sich in das feuchte Gras fallen.
Liara nickte ihr zu und ging zu den Beuteln mit Beeren herüber, um sich darüber zu beugen. Schweigend widmete sich die Schlange der Herstellung des versprochenen Giftes.
Lucy sah es als schweigende Vereinbarung, nicht über das zu reden, was sie besprochen hatten. Trotzdem … sie musste Liara im Auge behalten.