Es war schon beinahe lächerlich, wie leicht Lucy Mikail und Kassia Schachmatt gesetzt hatte. Indem sie einfach ein paar Dodos in die Hütte sperrte, sorgte das Mädchen dafür, dass Mikail alle Aufbruchspläne verwarf.
Nokori hatte sich mit viel Mühe ein höhnisches Lachen verbissen. Was für eine schwächliche Reaktion – alle Pläne für einen hirnlosen Vogel aufgeben.
Zu diesem Zeitpunkt wusste Nokori bereits, dass ihre Zeit in dieser Gruppe vorbei war. Sie war Thanatos gefolgt, weil er stark war. Sie war geblieben, weil Lucy stark erschienen war. Aber das Mädchen war nur ein Kind und musste auf Tricks zurückgreifen, um die Gruppe zusammen zu halten.
Es war hoffnungslos. Nokori wusste, dass sie hier nicht mehr leben wollte, dass sie für die Siedler nichts als Verachtung aufbrachte, und dass es auf Gegenseitigkeit beruhte, denn Foxys Tod wurde ihr zur Last gelegt.
Nokori tat das einzig Richtige: Mitten in der tiefsten Nacht schlich sie sich davon.
Sie nahm nicht viel mit, denn ihre Reise sollte nicht lange dauern. Sie stahl ein wenig Fleisch und eine handvoll Beeren, natürlich nahm sie ihren Speer mit, diese Waffe, die Thanatos ihr einst gemacht hatte.
Thanatos hatte wahre Stärke besessen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sein Gesicht immer noch vor sich sehen: Die dunkle Haut, die blitzenden Augen, die lagen Haare. Sie erinnerte sich an seine Körperhaltung, wie er stets über den anderen gethront hatte, selbst im Sitzen. Thanatos hatte Stärke und Macht ausgestrahlt.
Nokori würde ihn finden. Doch die Chancen dafür waren gering, solange sie sich in der kleinen Gruppe befand, sie sich mehr mit ihren kleinlichen Streitereien beschäftigte. Um Thanatos zu finden, brauchte Nokori mächtige Unterstützung.
Sie schlicht durch den Wald und lauschte aufmerksam auf alle Geräusche. Sie ging den riesigen Unken aus dem Weg, den Krokodilen und den sirrenden Schwärmen der Mücken. Sie bewegte sich lautlos, mit der Wachsamkeit einer Kriegerin, die Thanatos sie gelehrt hatte.
Im Laufen strich sie über die Narbe an ihrem Bauch, wo der Stegosaurus sie damals getroffen hatte. Sie hatte überlebt, weil sie stark war. Und jetzt würde sie ihre Stärke beweisen.
Es dauerte die ganze Nacht und den halben nächsten Tag, bis man sie fand. Nokori hatte nicht damit gerechnet, selbst auf die Suchenden zu treffen. Sie hatte erwartet, dass Drachenblut geschickt, lautlos und schnell sein würde, jedenfalls die Vorhut von Drachenblut, die nicht aus Dinosauriern, so groß wie die Berge, bestand.
Sie hatte absichtlich Spuren hinterlassen, und schließlich hörte sie leise Schritte im Gebüsch, dann ein beinahe unhörbares Knurren.
Ein großer Saurier sprang sie an. Nokori hob abwehrend den Speer und das Wesen verbiss den schmalen Kiefer in den Ast. Nokori sah dem Saurier direkt in die großen, roten Augen.
Weitere Saurier kamen aus dem Gebüsch. Sie hatten den gleichen Körperbau, unterschieden sich jedoch deutlich in ihrer Färbung.
Auf dem Rücken von einem saß eine Frau.
„Scarlett, zurück!“, rief diese Frau und der rote Saurier ließ von Nokori ab. Sie blieb trotzdem auf dem Boden liegen und senkte nur den Speer: „Nette Tierchen.“
Die Frau war braun gebrannt und hatte die Haare zu einem dicken Zopf gebunden. Sie war eher klein, dafür aber kräftig. Ihr vorgeschobenes Kinn deutete auf Entschlossenheit hin.
„Raptoren“, sagte sie auf Nokoris Bemerkung. „Sie sollen nicht nett sein, sondern intelligent und folgsam – und das sind sie. Wer bist du?“
„Ich gehöre zu denen, die ihr sucht“, sagte Nokori. Weil sie auf dem Boden lag und die Frau hinter ihrem Kopf stand, musste sie den Hals durchstrecken, um mit ihr zu reden. Einige Raptoren knurrten. Sie bekam eine Gänsehaut. „Ich will zu euch … naja, überlaufen.“
Der Satz klang seltsam dramatisch, dabei war das nicht Nokoris Absicht gewesen. Die Frau hob nur eine Augenbraue.
„Überlaufen?“
„Als ich hier aufgewacht bin, hat mich die Gruppe sofort aufgenommen“, erzählte Nokori. „Aber ich hatte niemals die Wahl, auch zu Drachenblut zu gehen. Ich würde das gerne nachholen.“
Die Frau kam näher und ging hinter Nokoris Kopf in die Hocke. „Drachenblut nimmt alle auf. Aber eine Ausnahme gibt es, und das sind Spione unserer Feinde. Ja, ihr habt nur ein kleines Lager, aber wir unterschätzen euch trotzdem nicht. Ihr seid bereits einmal entkommen – wer sagt uns, dass ihr nicht zurückschlagen wollt?“
„Ich sage es“, meinte Nokori. „Die Gruppe hat sich zerstritten. Es sind jetzt zwei Gruppen, wir haben ein Mädchen verloren und unser Anführer ist ebenfalls verschwunden. Es herrscht zu viel Misstrauen, als dass wir irgendeine Gefahr darstellen könnten.“
„Und das soll ich dir glauben?“, fragte die Frau.
Nokori schüttelte den Kopf. „Nein. Ich werde es dir zeigen. Ich führe dich zum Lager.“
Die Frau stand auf und reichte Nokori eine Hand. Nokori ließ sich auf die Füße ziehen.
„Das ist besser kein Trick“, sagte die Frau und bedachte Nokori mit einem drohenden Blick.
Nokori war nie zuvor einen Raptor geritten. Die fremde Frau hatte ihr einen Sattel gegeben, und ihr eingeschärfte, besser nicht an die Zügel zu fassen. Jetzt hockte Nokori auf dem Rücken von Lili, einer hellblauen Raptorin, die als „so sanft wie ein Lämmchen“ beschrieben wurde.
Nokori konnte dazu nicht viel sagen, denn die meiste Zeit versuchte sie, nicht vom Rücken besagten Lämmchens zu fallen, das mit halsbrecherischem Tempo dem Rest des Rudels nachjagte, ohne Rücksicht auf einen Reiter. Nokori wich den zahlreichen, peitschenden Ästen aus und verbarg das Gesicht hinter dem Hals der Raptorin.
Irgendwann wurde der wilde Ritt langsamer. Die Frau lenkte ihr eigenes Reittier neben Lili.
„Ihr seid nicht schlecht. Die vielen Spuren verwirren die Raptoren.“
„Viele Spuren?“, fragte Nokori.
„Ja, Geruchsspuren. Ihr wart oft hier, wie?“
Nokori sah sich um. Sie erkannte die Gegend wieder. „Hier sammeln wir Beeren.“
„Hoffentlich“, brummte die Frau. „Wie gesagt, wenn das hier eine Falle ist …“
„Ist es nicht“, sagte Nokori. „Guck, da vorne, siehst du den Weg? Den hat Kassia geschlagen, damit sich niemand mehr im Wald verirrt.“
Der Weg war zugewachsen, kaum zu erkennen, aber man sah nach einer Weile die Spuren, wo Büsche zur Seite geschlagen worden waren.
„Der Weg führt direkt zum Lager“, erklärte Nokori.
Die Frau nickte nachdenklich. „Scheint, als würdest du die Wahrheit sagen, Mädchen. Na gut, ich glaube dir.“
„Danke“, sagte Nokori. „Und mein Name ist Nokori, nicht Mädchen.“
Die Frau sah sie verdutzt an, lachte dann rau. „Ich heiße Vea.“
Sie reichte Nokori eine Hand und zerquetschte Nokoris Finger beinahe mit ihrem Händedruck.
„Freut mich“, sagte Nokori.