Lucy lag auf dem Rücken und starrte auf das winzige Stück des Sternenhimmels, das sich durch die Palmwedelblätter der Bäume erkennen ließ. Um sie her ertönte das beruhigende Schnaufen, Brummen und Trompeten der neuen Saurier.
Sie hatten eine Menge Pflanzenfresser gefangen und ein kleines Rudel Dilos. Lucy fühlte sich wohler mit der kleinen Armee unter ihrer Kontrolle. Aber sie war noch nicht zufriedengestellt. Sie wollte mehr Saurier, größere Saurier … Krieger, die Drachenblut stürzen könnten.
Statt zu schlafen lag sie wach, leckte sich über die Lippen und malte sich Angriffe und Zähmversuche in den tollsten Farben aus. Wie mochte das Gefühl wohl sein, auf einem riesigen Langhals zu reiten? Oder sich mit einem Flugsaurier in die Lüfte zu schwingen? Lucy sah sich selbst, einen düsteren Wald im Rücken, wie sie gebieterisch einen Arm ausstreckte und deutete, und aus dem Wald heraus strömten Raptoren mit gelben Augen, unter ihren Füßen donnerte die Erde, und die leisen Fleischfresser waren erst der Anfang, denn kurz darauf brachen die Bäume vor den Hörnern von Scaramouche, Fandango und tausend Brüdern und Schwestern. Dann, mit einem gewaltigen Röhren, sprang ein T-Rex über die gesplitterten Bäume und der Himmel verdunkelte sich mit unzähligen ledrigen Schwingen …
Etwas knackte und Lucy fuhr in die Höhe. Sie hielt den Atem an und lausche, doch es war still.
Zu still. Die Saurier waren verstummt, das quäkende, summende Konzert um sie war abgebrochen. Lucy saß im Dunkeln, die Augen weit aufgerissen, aber man konnte nur wenig sehen. Sie hörte Galileos ruhigen Atem und Henrys Schnarchen.
Ihr Herz raste und ihre Finger gruben sich hilflos in die warme, trockene Erde.
„Hallo?“, fragte eine Stimme, die Lucy nicht kannte. Es war die Stimme einer Frau, so viel war ersichtlich.
„Wasnlos?“, nuschelte Henry plötzlich und setzte sich geräuschvoll auf. Dann gab er ein seltsames Geräusch von sich, ein kurzes „Äck!“ und Lucy hörte ihn wieder auf den Boden fallen.
„Wer ist da?“, rief sie laut, jetzt vollkommen wach und sprang auf. Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Zeig dich!“
Etwas zischte nah an ihrem Gesicht vorbei, sie spürte den Windzug. Dadurch wusste sie aber auch in etwa, woher das Geschoss gekommen war. Sie hörte Galileo, der durch den Lärm ebenfalls erwacht war, etwas fragen und sprintete auf die Stelle zu, von der geschossen wurde.
Lucy erblickte einen dunkleren Schatten zwischen den Baumstämmen und stürzte sich auf ihn. Sie schlang die Arme um eine große Gestalt. Schnell fanden ihre Zähne einen Arm und sie biss zu.
„Au!“, schrie die Frauenstimme wieder. Jetzt war auch Galileo auf den Beinen, Lucy hörte ihn heran trampeln.
Lucy biss nochmals zu und auch Galileo stürzte sich auf die Frau. Es folgte ein kurzes Handgemenge, während dessen Lucy von der Frau abgeschüttelt wurde. Sie rollte sich ins Unterholz und zischte: „Aaaachtung!“
Ein kollektives Zischen erklang, als die gestohlenen Raptoren und die Dilos die Köpfe hoben.
„Hör auf zu zappeln, Mistkerl!“, stieß Galileo zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Oder wir töten dich!“
Die Kampfgeräusche verstummten. Jemand spuckte aus. „Dazu hast du nicht den Mumm!“
„Ich nicht“, war Galileo zu hören, „aber Lucy auf alle Fälle.“
„Unsere Saurier sind hungrig“, fügte Lucy gut hörbar hinzu. „Sehr hungrig.“
„Okay, okay“, stöhnte die noch unsichtbare Frau. „Tut mir leid, das war alles ein wenig anders geplant. Und jetzt nimm dein verdammtes Knie aus meinem Rücken.“
„Tschuldigung“, murmelte Galileo betreten.
Sie fesselten die Fremde, eine junge, kriegerische Frau mit einem langen, schwarzen Zopf und Kleidung aus Echsenhaut und Tierfellen. Henry lag noch neben dem Feuer. Galileo beugte sich über ihn.
„Ist er tot?“, fragte Lucy.
Galileo sah auf. „Kannst du das nicht vielleicht mit etwas mehr … na, Entsetzen oder so sagen? Nein, er lebt noch.“
„Er ist bewusstlos“, sagte die Fremde, die trotz der auf den Rücken gefesselten Hände den Kopf stolz erhoben hatte. „Er wird in ein paar Stunden aufwachen.“
„Gut, dann haben wir ja unsere Ruhe“, sagte Lucy und ignorierte Galileos bösen Seitenblick. „Wer bist du?“
„Liara“, sagte die Fremde und warf Galileo einen Blick zu: „Übernimmt deine Tochter jetzt die Befragung, du großer, starker Kerl?“
„Sie ist nicht meine Tochter“, Galileo knirschte mit den Zähnen.
Lucy beugte sich über die Frau und grinste ihr wölfisch ins Gesicht: „Ich bin seine Anführerin.“
Liara hob erstaunt die Augenbraue. Lucy hatte irgendwie auf eine schlagfertige Antwort gehofft, doch die kam nicht.
„Bist du von Drachenblut?“, fragte sie stattdessen.
„Von was?“, fragte Liara. Lucy kniff die Augen zusammen, aber Liara schien nicht zu lügen. „Nie davon gehört. Allerdings -“, die Fremde zögerte. „Ach, vergiss es.“
„Allerdings hast du dein Gedächtnis verloren“, erkannte Lucy. „Du weißt nicht, ob du von Drachenblut bist oder nicht.“
Liara wirkte einen Moment erschüttert, dann schob sich eine Maske über ihre Züge. „Was geht dich das an, Mädchen?“
„Eine Menge. Ich muss wissen, ob du eine Spionin bist. Du hast uns angegriffen.“
„Ja, weil hier plötzlich eine Horde Saurier durch das Tal stampft“, spuckte Liara aus. „Durch mein Tal! Ich wollte mit euch reden, aber der Typ hat mich erschreckt.“
Lucy hob selbst eine Augenbraue, doch Liara schien selbst wütend über ihre eigene Überreaktion zu sein. Sie schien ihren Stolz herunterzuschlucken und sagte: „Es tut mir leid, dass ich auf euch geschossen habe. Ich weiß nichts von einem Drachenblut. Ich bin vor ein paar Wochen hier aufgewacht, ihr seid die ersten anderen Menschen, die ich treffe.“
Das schockierte Lucy nun doch mehr, als sie zugeben wollte. Hatte es vielleicht damals, als sie alle hier gestrandet waren, eine noch größere Welle neuer Menschen gegeben, die nun allein durch die Wildnis irrten? Mögliche Helfer im Kampf gegen Drachenblut, überall in der Welt verstreut?
„Ey, Core!“, rief sie zu Galileo.
Der zuckte zusammen. „Seit wann nennst du mich Core?“
„Ist doch dein Spitzname, oder nicht?“, fragte Lucy, die sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. „Du hast es Henry mal erzählt.“
„Oh“, sagte Galileo. „Na gut, was denn?“
„Soll ich ihr glauben?“, fragte Lucy und deutete auf Liara.
Galileo zuckte mit den Schultern. „Ganz ehrlich? Wieso sollte es nicht stimmen?“
„Weil Drachenblut gefährlich ist“, brummte Lucy und tastete nach dem Messer, das sie neuerdings immer am Gürtel trug. Sie hätte vor zehn Minuten daran denken sollen!
Galileo bemerkte ihre Geste. „Ich glaube ihr. Geben wir der Dame einen Vertrauensvorschuss, Lu.“
„Lu?“, fragte Lucy entgeistert und Galileo grinste. „Ist doch dein Spitzname, oder? Haben wir einen Deal?“
Lucy warf einen Blick auf Liara. „Ja, wir haben einen … Deal.“
Der hagere Mann stand auf, schob Lucy beiseite und löste Liaras Fesseln. „Willkommen im Team Raptor.“
„Wer hat gesagt, dass ich in eurem Team sein will?“, fragte Liara feindselig.
„Ich“, sagte Lucy.
„Und ich würde ihr besser nicht widersprechen“, fügte Galileo hinzu. „Keine Sorge, so schlimm sind wir eigentlich nicht.“
Liara hob eine Augenbraue und sah zwischen Lucy und Galileo hin und her. Sie überlegte offensichtlich. Dann sagte sie: „Schlange.“
„Was?“, fragte Galileo.
„Das ist mein Spitzname: Liara, die Schlange.“
Galileo wirkte überrumpelt. „Charmant.“