Das Drachenblut-Lager war riesig, daran konnte sich Nokori sich nicht gewöhnen, auch nach drei Wochen nicht. Manchmal erfasste sie ein willkürlicher Schwindel, wenn sie aus dem dreistöckigen Gebäude heraus auf den Hof trat und sich der endlosen Herde gegenübersah, den Giganten im Inneren der gigantischen Mauer.
Inzwischen war sie Teil der Jäger-Gruppe. Man hatte ihr einen Saurier zugeteilt, ein etwas altersschwaches Dreihorn mit einem mächtigen Horn und langen Stacheln – größer als Scaramouche gewesen war und ebenfalls stärker und schneller. Die Untergruppe, in der Nokori jagte, besaß nur solche schweren Pflanzenfresser, während andere Gruppen sich auf Raptoren, T-Rexe oder Flugsaurier beschränkten. Die bevorzugten Saurier bestimmten auch die Aufgaben, und so war Nokoris Trupp dabei, die nahegelegenen Felder abzuernten, denn ihre Saurier gehörten zu den Kräftigsten.
Es war keine besonders ruhmreiche Aufgabe, wie sie unter der brennenden Sonne schwitzten. Nokori hatte schnell gelernt, dass das Ansehen in Drachenblut davon abhing, welcher Aufgabe man nachkam. Die Bauern, die die Felder bestellten, gehörten zum breiten Mittelfeld. Wer sich im Kampf und Reiten bewährte, durfte zu den Jägern aufsteigen, der Elite, doch selbst innerhalb dieser Gruppe gab es Abstufungen. Es gab die Flieger, die zu den höchsten Bergen flogen und mit fantastischen Schätzen zurückkehrten. Die Skorpionsreiter, die in unendlich tiefe Höhlen reisten, um mit schaurigen Geschichten über deren Bewohner zurückzukehren. Es gab die Raubsaurier, denen die Aufgabe zufiel, die Umgebung von Drachenblut zu durchkämmen, einzelne Menschen ins Lager zu bringen und Saurier, die ihnen begegneten, entweder zu töten oder zu zähmen.
Und es gab die Pflanzenfresser, die nah beim Lager blieben, nur eine Stufe über den Bauern, und die Ernte einbrachten.
Nokori hasste es, zu letzteren zu gehören, doch sie verstand, dass sie ihre Treue zu Drachenblut und ihren Wert erst noch unter Beweis stellen musste.
Die Anführerin ihrer Gruppe, eine überraschend zierliche, hellhäutige Frau mit weißen Haaren – Jenna – hatte ihnen erlaubt, Sonnenhüte zu tragen. Nokori kauerte auf dem Rücken ihres Reittiers und füllte die seitlich angebrachten Körbe mit Beeren, während sie die Bauern, die ihr vielleicht über den Weg liefen, anschnauzte, Platz zu machen. Die unterwürfigen Bauern schienen keinen Unterschied zwischen Fleischfressern, Fliegern, Krabblern und Pflanzenfressern zu machen – Nokori fragte sich unwillkürlich, ob es auch innerhalb der Mittelklasse Rangordnungen gab. Waren die, die Narcobeeren züchteten, vielleicht mehr wert als andere? Eine interessante Überlegung, wären ihre Gedanken nicht auf das Ziel gerichtet, einen Flugsaurier zu erhalten und sich damit auf die Suche nach Thanatos zu begeben. Es war inzwischen klar, dass der Anführer von Nokoris erster Gruppe nicht im Drachenblut-Lager war, nicht einmal im Kerker, wie Nokori nach einer riskanten Suche feststellte.
Sie musste ihn finden.
Endlich wich die brennende Hitze der Kühle des Abends und Jenna befahl, zum Lager zurückzukehren. Die Tiere ächzten bereits unter ihrer Last und so gestaltete sich der Weg zurück als sehr unrühmlich und langsam. Nokori zog den Hut ab und ließ den Wind durch ihr verschwitztes Haar fahren. Vor dem Tor mussten sie warten, während Jenna lauthals nach der niedersten Klasse rief – das waren diejenigen, die man gemeinhin Stallburschen rief, doch waren sie im Grunde verantwortlich für alle Aufgaben, zu denen sich keiner der anderen herablassen wollte. Nokori wusste, dass die Stallburschen auch kochten, putzten, das Gebäude ausbesserten und ihre Arme dafür hinhalten mussten, wenn einer der Saurier nicht vernünftig gezähmt war. Sie mussten den Kot der Tiere zu den Feldern schaffen, mussten die von anderen erbeuteten Schätze sortieren und kategorisieren und überhaupt alles tun, was niemand freiwillig tun würde. Sie waren die Niedersten, beinahe schon Sklaven von Drachenblut – sie waren diejenigen, die sich weder durch Mut noch durch Schläue auszuzeichnen schienen.
Das Tor öffnete sich mit einem Quietschen und auf der anderen Seite erwartete sie ein verschwitzter Bursche, der sogleich Jennas Peitsche über den Rücken gezogen bekam, weil er sie hatte warten lassen. Nokori sah, dass im Hof Chaos herrschte – die Flieger und die Fleischfresser waren kurz vorher zurückgekehrt, die Stallburschen überfordert. Trotzdem eilten mehrere herbei, um ihre Tiere in Empfang zu nehmen. Nokori wartete geduldig, während die dienstälteren Jäger zuerst bedient wurden. Es gab ungeschriebene Regeln in Drachenblut und eine davon war die feste Reihenfolge, in der jeder einen Platz hatte. Man musste diesen Platz kennen, sowohl was die großen Gruppen anging, Jäger, Bauer oder Stallbursche, die kleineren Gruppen: Flieger, Krabbler, Fleisch- und Pflanzenfresser, und man musste auch innerhalb dieser Gruppen seinen Platz kennen.
Nokoris Platz war hinten. Sie war das jüngste Mitglied ihrer Truppe.
Umso mehr erstaunte es sie, als gleich zwei Stallburschen auf ihr Reittier zukamen. Der erste, ein Milchbubi mit dunklen Haaren, wich ihrem Blick aus und ergriff geübt die Zügel. Er hielt auch den Sattel, damit Nokori absteigen konnte. Der zweite Junge stand daneben, das Gesicht hinter einem Vorhang haselnussbrauner Haare, verziert von einer blauen Haarsträhne.
Nokori stieg ab und stolperte beinahe. Die Geste kam ihr so bekannt vor, dass ihr die Luft weg blieb.
„Ashley?!“
Der Angesprochene sah auf, doch es war nicht Ashley. Es war ein Junge, doch er hatte Ashleys Haare, Ashleys Haltung, Ashleys große, goldgrüne Augen.
„Verzeihung?“, fragte der Junge mit Ashleys Flüsterstimme. „Ihr müsst mich verwechseln.“
Nokori war wie gelähmt. Ihr Gehirn fischte hilflos wie eine ertrinkende Katze nach einem vernünftigen Gedanken. Vielleicht Ashleys Zwillingsbruder?
„Hast du eine Schwester?“
Der Junge wich ihrem Blick aus, zog sich in sich zurück. Als er mit der einen Hand den anderen Arm umfasste, packte Nokori sein Handgelenk und drehte es um. Da war ein Runentattoo, genau so eines, wie Ashley es gehabt hatte. Ohne sich um den erschrockenen Protest zu kümmern, zog sie dem Jungen das Hemd hoch und entdeckte ein pixelartiges Rautenmuster, das sich über die Rippenbögen zog.
Der Junge schrie auf, shclug Nokoris Hand weg und stolperte zurück. „Fass mich nicht an!“
„Wer bist du?“, Nokori brüllte jetzt, mehrere andere sahen zu ihnen herüber.
Der Junge, der aussah wie Ashley, drehte sich um und floh.
„Hey, komm sofort zurück!“, brüllte Nokori.
„Maurice!“, rief der schwarzhaarige Stallbursche, den sie schon fast vergessen hatte. „Maurice, warte!“
Der Schwarzhaarige warf Nokori einen schnellen, ängstlichen Blick zu, dann ließ er die Zügel los und hetzte dem anderen hinterher.
Nokori ergriff selbst die Zügel, alles, woran sie denken konnte, war, dass der Saurier nicht fliehen durfte. Sie merkte, dass Jenna zu ihr herüber kam.
„Was war denn los? Hat er dich belästigt?“
„Nein“, stotterte Nokori. „Nein, hat er nicht.“
Sie war wie gelähmt. In ihrem Kopf herrschte eine Art Nebel, den sie nicht durchdringen konnte. Wie war das möglich, dass es so jemanden gab – ein völliges Spiegelbild zu Ashley? Hieß es nicht, dass Ashley tot war? Bei dem Überfall auf das kleine Lager, war ein Mädchen getötet worden, auf das nach allem, was Nokori gehört hatte, Ashleys Beschreibung passte.
War der Junge ein Geist? Ihr lief ein Schauer über den Rücken, während ihr irgendjemand die Zügel aus der Hand nahm und ihr Tier fort führte.
Was war hier los?