Die Erde bebte.
Der Regen war stärker geworden, graue Wolken hatten die Strahlen der Sonne geschluckt und den anbrechenden Tag in erneute Nacht verwandelt. Galileo lag unter einigen Blättern in Deckung, die ihm keinen Schutz vor der Feuchtigkeit boten. Hinter ihm zischte es, wenn Wasser in die Giftbeutel fiel, und die Raptoren fauchten unruhig. Der Regen rann über Galileos Haut und er fragte sich, ab wann die Dämpfe des Gifts tödlich wurden. Liara hatte ihm gesagt, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche, aber sie hatte auch nicht mit einer plötzlichen Sintflut gerechnet.
Einer der Raptoren hob plötzlich den Kopf. Er schnatterte und gurrte, ein Laut, den Galileo von den Tieren noch nie gehört hatte. Dann liefen alle Raptoren plötzlich los, als hätte es ein geheimes Signal gegeben.
„He, wartet!“, rief Galileo ihnen nach. „Halt! Stopp! Aus!“
Doch die Raubsaurier hörten nicht auf ihn. Durch den Regen vernahm Galileo ein fernes Pfeifen. Offenbar hielten die Raptoren auf dieses Geräusch zu. Noch immer trugen sie ihre Ladung aus Gift, die Mischung schwappte nun aus ihren Behältnissen, als die Raptoren den Berg hinab rannten. Weißer Nebel breitete sich vor Galileo aus und verdeckte ihm den Blick auf die weiteren Ereignisse. Doch es bestand kein Zweifel, dass Drachenblut gekommen war. Die Raptoren waren zu ihren Herren zurückgekehrt, mit Liaras tödlicher Mischung auf dme Rücken.
Seufzend stand Galileo auf und warf einen Blick auf die Dilos, die noch brav warten.
„Auf!“, befahl er ihnen mit einer Geste und die kleineren Saurier sausten los. Galileo wiederum zog sich das Tuch über die Nase, das Liara ihm gegeben hatte. Seine Kleidung war durchtränkt vom Wasser, das durch seine Haare und in seine Augen lief, in jede Ritze, die es finden konnte. Sogar die Luft schien zu feucht zum Atmen zu sein.
Galileo lief los, den Dilos folgend. Der Nebel wurde dichter und schwerer, der Regen verstärkte die Wirkung des Gifts. Dann hörte er zuerst Rufe, als die Angreifer sich in plötzlichem Nebel wiederfanden. Dann hörte er Schmerzensschreie. Die Wilde Dreizehn war bei den Angreifern angekommen. Die Dilos waren immun gegen das Gift, nun griffen sie wie Geister aus dem weißen Qualm an.
Galileo lief am Rand des tödlichen Nebels vorbei. Sein Herz raste, die Luft brannte in seiner Nase und seinen Augen. Er taumelte weiter, denn er musste die angesägten Baumstämme erreichen.
Liara und Lucy gemeinsam waren ein furchtbares Team. Galileo empfand Mitleid mit den Drachenblütlern, die in Erwartung eines leichten Kampfes den Hang hinauf gekommen waren. Nun fanden sie sich in der Hölle wieder. Zuerst hatte man ihnen die Sicht geraubt, nun wurden sie von winzigen Raubsauriern angegriffen.
Der nächste Schlag waren die Baumstämme. Galileo erreichte die Stelle auch bei der schlechten Sicht. Auf einer langen Strecke des Waldes hatten sie so viele Bäume wie möglich angesägt. Die dünnen Tannen und Palmwedelpflanzen beugten sich unter dme peitschenden Wind bereits gefährlich nach unten. Einige waren bereits abgeknickt, doch bei den meisten hielt das Dominoprinzip, das sie angewandt hatten: Die Bäume stützten sich gegenseitig, alle ruhten letzten Endes auf einem dicken, gedrungenen Baum ganz unten, der wiederum von einer primitiven Holzkonstruktion gestützt wurde.
Galileo lief auf ebenjene Konstruktion zu, ein Gewirr auf krummen Ästen und Seilen, mit denen man die Zweige eilig zusammengebunden hatte.
„Scheiße, ich hoffe, das funktioniert“, murmelte Galileo und trat mit aller Kraft unten gegen das Gewirr.
Donner krachte, doch die Zweige rührten sich nicht. Galileo brauchte nicht lange, um das Problem zu erkennen: Das Gewicht der Bäume hatte die Konstruktion tief in den Schlamm getrieben. Sie saß fest.
„Verdammte Scheiße!“, wiederholte er und begann, mit den Händen in der matschigen Erde zu wühlen. „Komm schon!“
Eigentlich sollte er nur gegen die Zweige treten und dann verschwinden. Doch offensichtlich würde das nicht funktionieren. Gut möglich, das dies seine letzte Tat auf der Welt sein würde.
Keuchend richtete er sich auf. Das Graben nützte nichts, also blieb nur eine Wahl. Galileo stellte sich auf die andere Seite des Baumes, direkt dorthin, wohin der Gigant krachen würde, und trat erneut zu. Er zielte auf einen der tragenden Äste, der unter seinem Fuß splittern zerbrach. Die anderen Zweige beugten sich bedrohlich, knirschten, lange Risse zeigten sich im Holz und der große Baum neigte sich unter dem Gewicht der anderen Bäume und der nassen Blätterkronen.
Galileo sprang zur Seite, als die Konstruktion zusammenbrach und Holzsplitter in alle Richtungen regneten. Er stand neben dem riesigen Baum, als dieser kippte. Die Wurzeln lösten sich aus der Erde und hinterließen ein riesiges Loch schwarzer Erde im Boden. Die anderen Bäume neigten sich ebenfalls, fielen rechts und links von Galileo in den Schlamm. Äste peitschten durch die Luft, Matschspritzer flogen in alle Richtungen. Galileo lief den Berg hinauf und sprang in das Loch, das der große Baum gerissen hatte. Er landete flach in der Grube, die sich bereist mit Regenwasser füllte.
Donnernd rollten die Baumstämme über ihn hinweg, verkeilten sich ineinander und katapultierten sich gegenseitig in die Höhe. Schlamm und Wassermassen trugen die Stämme nach unten, in den weißen Qualm, wo Drachenblut noch um sein Überleben kämpfte.
Galileo warf sich mit dem Rücken in den Matsch und schloss die Augen, während tosende Vernichtung ins Tal rollte und Borkenstücke auf ihn herab regneten. Zweige und Äste stachen in die Grube, doch wie durch ein Wunder erwischten sie ihn nicht.
Dann ließ der Lärm nach, obwohl der Sturm natürlich mit unverminderter Wucht tobte.
Vorsichtig richtete Galileo sich auf. Seine Kleidung war von Regen und Schlamm durchtränkt. Der Berghang glich einem Trümmerfeld, eine schwarze Schneise aus Blättern, Zweigen und umgeknickten Bäumchen erstreckte sich vor ihm, bald verborgen durch den undurchdringlichen Nebel. Galileo schluckte, als er die ersten Leichen sah, Saurier und Menschen, die von der Kaskade aus Baumstämmen erschlagen worden waren. Ihr Blut wurde vom Regen davon gewaschen, dichte Flüsse trieben sie bald ab.
Auf dem Hang war Stille eingekehrt, Drachenblut war fort.
Wenigstens für den Moment.
Mühsam arbeitete Galileo sich aus der Grube und stellte fest, dass sein Fuß schmerzte. Bei dem Tritt gegen die Äste hatte er sich mehrere tiefe Kratzer zugezogen. Als er sich auf dem schlammigen Hang aufrichtete, protestierte sein Knöchel.
Galileo pfiff und wartete. Nicht lange, und im Nebel zeigten sich Schatten, die immer dunkler wurden und sich schließlich als die Wilde Dreizehn entpuppten. Alle zwölf Saurier kehrten zu Galileo zurück. Sie waren zerzaust, Federn oder Kragenhäute waren zerrissen, die meisten Tiere bluteten aus kleinen Schnitten oder Bisswunden. Doch sie alle hatten überlebt.
Galileo keuchte noch immer, doch ein Rest Adrenalin war ihm verblieben. Er kämpfte sich den Hang wieder hinauf, gegen den Regen und den Wind und die Müdigkeit ankämpfend. Es war noch lange nicht vorbei.
Als er bei ihrer vorübergehenden Basis ankam, waren nur Lucy und die großen Saurier, Smiley, Scaramouche, Fandango und Roseanne anwesend. Smiley lief sofort auf Galileo zu, trompetete verängstigt und ließ sich auf den Arm nehmen.
„Wo sind Henry und Liara?“, fragte er Lucy.
„Unterwegs. Warum hast du so lange gebraucht?“
„Ich wäre … fast gestorben!“, knurrte Galileo und setzte Smiley ab, damit sie nicht durch seine Stimmlage weiter verängstigt wurde. „Tut mir leid, dass dir das nicht schnell genug ging!“
„Wir sind im Krieg, falls du es nicht bemerkt hast“, gab Lucy ungerührt zurück. „Na los, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Galileo stöhnte, nahm sich einen Beutel Giftpfeile und humpelte davon, um sich in einem Baum zu verstecken und den nächsten Angriff abzuwarten.