Kassia schlug die Augen auf und streckte sich. Die kleine Hütte geriet ins Schaukeln. Obwohl sie sich inzwischen daran gewöhnt hatte, des nachts in den Baumwipfeln zu hängen, klammerte sich Kassia nun an die Kanten ihres Bettes. Ihre Höhenangst konnte sie wohl nicht so leicht überwinden. Einen Vorteil hatte das: Sie war sofort hellwach.
Vorsichtig hielt sie das Gleichgewicht und balancierte zu der Winde, die das Haus herab ließ. Die Hütte bewegte sich wie ein Schiff bei mildem Seegang, den zusätzlichen Stabilisatioren, die Mikail angebracht hatte, zum Dank. Schlimmeres Schaukeln hätte Kassia nicht ertragen können.
Sie ließ die Hütte zum Boden hinab, dachte aber daran, etwa einen Meter höher anzuhalten. Vorsichtig ging sie zur Öffnung und lehnte sich so weit hinaus, dass sie unter die Hütte sehen konnte. Das Blut schoss ihr in den Kopf und ihre Haare fegten über den Boden unter ihr. Sie entdeckte, wie befürchtet, mehrere Dodos.
„Husch!“, rief sie und wagte es, mit einer Hand loszulassen, um damit zu winken. „Weg da, Freunde!“
Träge erhoben sich die Dodos und watschelten davon. Einer versuchte, Kassias Haare zu fressen, doch sie war schneller.
Nun, da unter der Hütte frei war, konnte sie das Haus landen und mit etwas wackeligen Beinen auf den festen Boden treten. Trotzdem durchströmte sie ein Triumphgefühl. Sie hatte sich ihren Ängsten gestellt und ein weiteres Mal gewonnen.
Mikail war natürlich schon wach. Manchmal fragte sich Kassia, ob der Werker jemals schlief. Mehr als einmal hatte er bereits eine Nacht durchgearbeitet, weil ihn eine Idee nicht losgelassen hatte. Und dabei waren sie noch nicht besonders lange hier.
Kassia setzte sich auf einen Stein und beobachtete Mikail, der dabei war, einen Zaun zu verstärken, der sich seit Neustem um den ganzen Rand der erhöhten Plattform zog. Von der Außenseite war der Zaun mit Blättern und Grünzeug getarnt, von Innen war es ein schlichter Holzzaun, an dem man jeden Schaden sofort entdeckte.
Mikail bemerkte seinen Zuschauer nicht, sondern arbeitete weiter, mit jener unermüdlichen Energie, die er auszuströmen pflegte, eine Zunge im Mundwinkel, während er sich konzentrierte. Kassia war zufrieden damit, ihm zuzusehen, während die Morgensonne langsam den hellen Nebel vertrieb, die Dodos plockend nach Essbarem suchten und die Bäume beruhigend rauschten.
Schließlich sah Mikail zur Seite und entdeckte sie.
„Kassia! Warum sagst du mir nicht, dass du da bist?“
„Ich wollte dich nicht stören“, meinte sie ausweichend und gab sich alle Mühe, nicht auf Mikails muskulöse Brust zu starren, die sich unter dem verschwitzten Hemd abzeichnete.
Mikail sah zum Himmel. „So spät schon? Es wird Zeit, dass ich Frühstück mache.“
„Das kann ich doch auch übernehmen“, bot Kassia an, sprang auf und folgte Mikail zu der kleinen Lichtung im Inneren ihres Reiches, wo sie eine Kochstelle und einen unterirdischen (weil kühleren) Lagerraum hatten. Mikail holte Beeren aus dem Kellerchen, während Kassia ein paar der Holzschalen, die Mikail gefertigt hatte, mit den Beeren füllte.
„Jetzt brauchen wir nur noch Joghurt“, meinte sie lachend.
Mikail grinste ebenfalls. „Schade, dass es keinen Supermarkt in der Nähe gibt.“
Diese Witze waren zu ihrem Markenzeichen geworden, je besser sie sich an die Details ihres früheren Lebens erinnerten. Das große Bild war immer noch verschwommen, doch sie konnten sich an immer mehr Kleinigkeiten erinnern.
Es war ein berauschendes Gefühl, die eigene Vergangenheit neu zu entdecken. Gleichzeitig fürchtete Kassia sich aus einem unbestimmten Grund davor, was sie vielleicht entdecken könnte. Es war, als könnte sie eine dunkle Wolke wahrnehmen, die über ihrem Kopf schwebte. Je mehr sie erfuhr, desto mehr fürchtete sie auch, dass die Wolke sich plötzlich zu einem Sturm entwickeln konnte.
Mikail schien keine Bedenken dieser Art zu haben. Seine Freude über jeden erkämpften Fetzen Erinnerung war ansteckend, also konnte Kassia nicht einfach aufhören. Es blieb das Gefühl, auf ihren drohenden Untergang zuzusteuern, blindlings ins Verderben zu rennen, weil Mikail mit seinem Lächeln und den kleinen Grübchen an ihrer Seite blieb.
Nach dem Frühstück widmeten sie sich dem inzwischen eingespielten Tagesablauf. Es begann damit, dass Mikail ihr stolz zeigte, was er am letzten Tag erreicht hatte und Kassia ehrliche Bewunderung zeigte. Obwohl sie sich ein wenig wie ein Papagei vorkam, wenn sie immer wieder: „Wunderbar!“ und „Sehr nützlich!“ rief, schienen Mikail diese Worte viel zu bedeuten. Er führte sie jeden Tag über die Insel und legte dabei nach und nach seine Bescheidenheit ab. Danach erklärte er, was ihm sonst noch für Ideen durch den Kopf geisterten und Kassia bemühte sich, ihn auf den Boden der Realität zurück zu ziehen.
„So eine Rutsche ist ja schön und gut“, sagte sie beispielsweise, „aber wir können auch so nach unten klettern.“
„Ich habe aber schon den Tyranno-Kopf entworfen, aus dessen Maul dann die Rutsche kommt, als rote Zunge!“, verteidigte Mikail seine Idee.
„Und wie willst du die Rutsche tarnen?“, fragte Kassia. „Außerdem, woraus willst du sie denn bauen? Aus Holz, damit wir uns jedes Mal Splitter in den Hintern hauen?“
Mikail überlegte und seufzte dann. „Ich denke, du hast recht.“
„Kümmer' dich lieber um dieses Holzgestell zum Trocknen von Fleisch“, sagte sie dann und Mikail nickte.
Nach dieser Besprechung ging Mikail an die Arbeit und Kassia arbeitete sich den Hang hinab, um Beeren zu sammeln, meist begleitet von einer Horde neugieriger Dodos. Sie kamen zum Mittagessen wieder oben an und Mikail redete ununterbrochen, während Kassia aß. Es gab Momente, wo sie Mikail nicht mehr länger zuhören konnte und es dem Bauer auch egal war, ob ihm jemand zuhörte. Im Grunde dachte er nur laut und Kassia hörte zu und fragte sich, wie ein einziger Mensch so viel Kreativität besitzen konnte. Langsam machte Mikail ihr Angst, denn er schien jede Sekunde ein neues Bauprojekt zu haben, an dem er arbeiten wollte. Es wirkte beinahe krankhaft, als wäre er vor etwas auf der Flucht. Kassia würde ihm gerne helfen, doch sie bekam das Problem einfach nicht zu fassen.
So schwieg sie.
Da sie nur zu zweit waren, musste Kassia nur am Vormittag Beeren sammeln. Den Nachmittag verbrachte sie mit verschiedenen Sachen. Mal half sie Mikail beim Bauen, doch wie es schien, konnte sie ihm dabei leicht im Weg sein. Also vertrieb sie sich die Zeit, indem sie Kleidung flickte oder den Dodos einfache Befehle beibrachte, welche die Vögel meist schon am nächsten Tag vergessen hatten. Sie pflegte die kleine Lichtung und begann sogar, ein paar kleine Pflänzchen anzubauen. Ob daraus wirklich einmal ein Gemüsegarten werden könnte, stand in den Sternen. Falls sie es jemals gewusst hatte, so hatte sie jetzt vergessen, aus welchen Samen welches Pflänzchen werden würde. Am wahrscheinlichsten war, dass sie einfach nur Unkraut gepflanzt hatte.
Die Tage vergingen träge und liefen doch dahin wie Wasser in einem Bach, ohne Unterschiede, schnell vorbei, ohne einen bleibenden Abdruck zu hinterlassen. Trotzdem fühlte sich Kassia bald wie ein ausgehöhlter Stein, bald erfrischt von der kühlen Klarheit des Wassers. Dank Mikails Entdeckung hatte sie nun auch einen Namen dafür: Murmeltiertage. Es waren seltsam friedliche Tage, doch es blieb die Sorge um den Rest ihrer Gruppe und die Angst vor Drachenblut. Kassia fühlte sich abgekapselt von großen Ereignissen, die doch sicherlich auf den ersten Angriff folgen mussten. Als Drachenblut angegriffen hatte, hatte sie geglaubt, den Beginn eines Krieges zu erleben. Nun war Frieden eingekehrt, einfach so. Konnte sie dem Frieden trauen?
Nein, konnte sie nicht. Abends saß sie lange am Abgrund und starrte auf das Land hinaus, als würden dort irgendwann die großen Langhälse auftauchen.
Sie würden kommen.