Der stille Morgen wurde durchbrochen von dem Rufen vereinzelter Saurier. Es erinnerte Mikail an morgendliches Vogelgezwitscher. Genau das war es gewesen: Die Vögel hatten in den Büschen zu beiden Seiten der Straße gesungen, lang und ausdauernd, laut.
Er konnte sich kaum an seine Familie erinnern, aber die unterschiedlichen Vogelrufe waren ihm einen Moment so gegenwärtig, dass er sie beinahe hören konnte.
Etwas stieß gegen sein Knie, gurrte und schüttelte den Kopf, wollte weiter watscheln – und traf das andere Knie.
Mikail bückte sich, kraulte den Dodo und richtete den Schnabel sanft in eine ungefährlichere Richtung aus.
Die plumpen kleinen Vögel waren ihm sehr ähnlich, befand er. Auch er hatte manchmal den Kopf in den Wolken und sah nicht mehr, was sich vor seiner Nase befand – sonst hätte er möglicherweise geahnt, wie gefährlich Thanatos war. Doch wenn es darauf ankam, wenn es zählte, konnte ein kleiner Dodo den ganzen Wald durchqueren, ein verstecktes Lager im Sumpf finden, und zurückkehren.
Mikail hatte sich nur ausmalen können, was Kassia zu dem eiligen Hilferuf getrieben hatte, einem einzigen, auf's Papier gekritzelten Wort.
War Thanatos völlig ausgerastet? Hielt er gar alle Mitglieder ihrer Gruppe in der Hütte gefangen, war der kleine Boten-Dodo dem dunkelhäutigen Tyrannen nur um Haaresbreite entkommen?
Mikail hatte nicht länger warten können. Er war auf der Stelle aufgebrochen, im Übrigen umringt von einem Pflock Dodos. Sie schienen ihn für einen beweglichen Beerenstrauch zu halten, weil er sie fütterte. Und ihrem Beerenstrauch folgten sie überallhin. Mikail hatte einen Großteil der Vögel durch simple Tricks von seiner Spur abgebracht. Etwa fünfzehn waren bei ihm geblieben, stolperten durch das Gebüsch und verlangten nach seiner ständigen Aufsicht, wenn er nicht riskieren wollte, einen zu verlieren – das wollte er nicht riskieren.
Mikail war erleichtert, als er die Gegend endlich wiedererkannte. Es bewies, dass er auf dem richtigen Weg war, dass sein Orientierungssinn wirklich so phänomenal war, wie … jemand, früher, immer gesagt hatte.
Der erste Eindruck war nicht annähernd so dramatisch, wie Mikail geglaubt hatte. Die Hütte stand noch, die Tür war offen. Es war Abend, die Sammler und Jäger kamen aus den Wäldern zurück, über dem Feuer briet bald ein kleiner Saurier. Von Thanatos gab es keine Spur.
Erst der zweite Blick offenbarte die Probleme: Das Feuer wurde umständlich abgedunkelt, Lucy bemerkte trotzdem kritisch, dass verräterisch viel Rauch aufsteige, dabei war es für ein Feuer dieser Größe sehr wenig Rauch. Mikail merkte, dass außer Thanatos auch Foxy verschwunden war, und dass die Gruppe sich am Feuer eher in zwei Gruppen zu teilen begann. Kassia saß auf der einen Seite des Feuers, einen halben Schritt hinter ihr hockte Ashley wie ein Geist. Lucy, flankiert von Henry und Galileo, saß ihr gegenüber wie die Richterin der Schuldigen. Nur Nokori saß ein wenig abseits.
Die Gruppe schwieg. Aber Mikail hatte ein Gespür für Spannungen, und seine Haut kribbelte förmlich.
Er hielt es nicht länger aus, stand auf und verließ die Deckung. Gefolgt von einem Schwarm tollpatschiger Dodos.
Er kam aus Lucys Rücken, deswegen war es kein Wunder, dass Kassia ihn zuerst bemerkte. Auf ihrem vom Feuer erhellten Gesicht malte sich Staunen aus, die Augen wurden groß. Dann sprang sie auf: „Mikail!“
Mikail legte den Kopf schief und lächelte, breitete die Arme aus: „Hallo Kassia!“
Sie flog in seine Umarmung, schlang die Arme so fest um seinen Rumpf, dass er einen Moment nicht atmen konnte.
„Du bist zurückgekommen!“, rief Kassia an seiner Brust. „Ich dachte schon …“
„Ich wäre immer zurückgekommen“, unterbrach Mikail sie schnell und erwiderte die Umarmung fest.
Erst jetzt bemerkten sie, dass sie von allen Seiten angestarrt wurden. Etwas verlegen lösten sie sich voneinander.
„Wo warst du?“, fragte Lucy, die aus irgendeinem Grund die Führung der Gruppe innehatte. Mikail wunderte sich darüber einen Moment, bis er Lucys kalten Blick bemerkte, die stählernen Gesichtszüge, die überhaupt nicht zu einem jungen Mädchen passen wollten. Es wirkte, als sei Lucy von Thanatos' Geist besessen, jedenfalls besaß sie genau dessen Art, einschüchternd und mächtig zu wirken. Und das trotz ihrer geringen Größe.
„Ich war im Wald“, gab Mikail an, ohne Details zu nennen. Instinktiv wollte er Lucy genausowenig Kontrolle über sein Leben verschaffen, wie er es Thanatos verschafft hatte. „Ich habe gehört, dass es Probleme gibt.“
„Setz dich“, Kassia zog an seinem Ärmel. „Wir haben noch Fleisch übrig. Es wird eine lange Erzählung.“
Galileo und Henry beäugten ihn neugierig, widmeten sich dann beide wieder dem Essen. Von Nokori erhielt Mikail einen hasserfüllten Blick, von Lucy einen kalten, abschätzigen. Ashley wich jedem Blickkontakt aus.
Es wunderte ihn nicht, dass Kassia ihn gerufen hatte.
Er setzte sich und bekam sofort ein Stück Fleisch. Ein Dodo versuchte, daran zu knabbern und Mikail hielt das Essen schnell außer Reichweite. „Galileo, der Kleine da drüben - könntest du? Danke.“
Nachdem Galileo einen der Dodos davor rettete, ins Feuer zu watscheln, sah Mikail zu Kassia, die nun neben ihm saß. „Was ist los?“
„Wir haben ein Problem mit Drachenblut“, erklärte Kassia.
„Dem anderen Lager?“
„Ja. Sie sind im Sumpf, sie suchen uns. Ashley hat … hat riesige Saurier gesehen, groß wie Bergketten. Es ist eine Armee, und wir sind bloß … sechs. Mit dir sieben.“
Sie erzählte ihm alles. Von der Nacht an, in der sie ihn befreit hatte, bis zu diesem Abend am Lagerfeuer. Sie erzählte ihm von der fruchtlosen Suche im Wald, davon, wie Foxy von alleine zurückgekehrt war, und Thanatos nicht. Kassia berichtete von den Spannungen in der Gruppe, von Einwürfen der anderen gereizt unterbrochen. Ihre Stimme bebte, als sie von Foxys Tod erzählte. Als sie bei Ashleys Bericht über die Armee Drachenbluts angelangt war, war das Feuer schon herunter gebrannt und sie saßen im schwachen Schimmer der Kohlen. Mücken sirrten durch die Luft. Die Nacht war kalt.
„Das ist wirklich schlimm“, kommentierte Mikail leise. „Wisst ihr, wie nah Drachenblut ist?“
Kassia schüttelte den Kopf. „Sehr nah, vermute ich. Wir sollten fliehen, solange uns noch Zeit dazu bleibt.“
„Nein“, unterbrach Lucy kalt, „wir können nicht ewig fliehen. Wir müssen kämpfen.“
Kassia hob den Blick, setzte zu einer Erwiderung an, seufzte dann nur. Sie sah zu Mikail herüber und selbst in der Dunkelheit konnte er ihren Blick deuten: Sie war es leid, immer zu streiten.
Er schob die Hand zu ihrer, drückte sie leicht, um ihr Mut zu machen.
„Wir werden diskutieren müssen, was der beste Plan ist. Vielleicht morgen, wenn wir alle weniger müde sind.“
„Du hast hier nichts zu sagen“, fiel ihm Lucy kalt ins Wort. „Es ist deine Schuld, dass wir nicht bewaffnet sind, dass eine Option wie die Flucht überhaupt in Frage kommt. Du wirst deine Schuld begleichen müssen, Mikail.“
Das Herz sank ihm in die Hose. „Du kannst mich zu nichts zwingen“, sagte er. „Wenn du einen Krieg willst, gerne. Ich gehe. Und wer möchte, soll mir folgen. Du kannst niemanden zwingen, hier zu bleiben!“
„Dich bestimmt nicht“, gab Lucy zu und bückte sich. „Aber deine Vögel auf alle Fälle.“