Stöhnend kroch Kassia durch das Unterholz. Kleine Äste und Dornen hatten ihre Haut aufgekratzt, Erde und Dreck bildete einen schwarzen Rand unter ihren Fingernägeln. Es war feucht und warm, aggressive, kleine Mücken bildeten gierige Wolken über ihrem Kopf. Und zu allem Überfluss drängten sich ständig Dodos unter ihr hindurch, huschten zwischen ihren Beinen hindurch und sogar zwischen ihren Armen, wenn sie erneut durch einen schlammigen Tunnel kriechen musste, während dreckiges Wasser über ihre Haut lief.
Ab und zu hielt Mikail inne und sah zurück. Hier und da reichte er ihr die Hand, damit sie mit seiner Hilfe über einen großen, umgestürzten Baumstamm oder einen Felsen hinauf klettern konnte.
Sie fragte sich, wie der Bastler den Weg ganz alleine hatte bewältigen können.
„Sind wir bald da?“, die Frage kam nörgelnder herüber, als sie beabsichtigt hatte. Kassia schlug nach eine Mücke und verfehlte sie.
„Nur noch ein paar Minuten“, sagte Mikail zu ihrer Überraschung. „Sieh mal, die Dodos kennen sich hier aus.“
Kassia zwang ihre Aufmerksamkeit fort von ihrem lädierten Körper und den Mücken, zu den plumpen Vögeln herüber. Sie bemerkte nichts auffälliges.
„Sie bleiben sitzen“, erklärte Mikail, der offenbar ihre Miene deutete. „Das hier ist ihre Heimat – sie brauchen uns nicht mehr, um den Weg zu finden.“
Jetzt bemerkte Kassia es auch: Die Dodos begannen, sich in kleinen Gruppen hinzusetzen, pickten in der Erde herum und versuchten, Steine zu fressen. Die gackernde Menge verstreute sich.
Mikail schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Nur noch ein Stückchen.“
Kassia ergriff seine ausgestreckte Hand, von neuer Energie beflügelt. Indem sie sich an den festen Lianen herauf hangelten, erreichten sie das obere Ende der Klippe. Dort konnte Kassia sich auf eine flache Ebene ziehen, ein großes Plateau auf einem Berg. Es erschien, als habe man einen Berg unterhalb der Spitze glatt abgesägt und es entstand eine Hochebene von fünfzig oder mehr Metern im Durchmesser, allerdings so unzugänglich, dass Kassia sich nicht vorstellen konnte, die Kletterpartie noch einmal zu bewältigen.
„Warum“, keuchte sie, die Hände auf die Knie gestützt, „ziehst du ausgerechnet hier hin?“
Ihre Hände waren feucht vom Angstschweiß, obwohl sie versuchte, den tiefen Sturz hinter sich auszublenden. Der Wind riss an ihrer Kleidung. Wenn es einen Sturm gäbe, könnte er sie glatt in den Tod pusten! Kassia schauerte und wankte ein paar Schritte Richtung Inland, wo mehrere riesige Bäume auf der Hochebene wuchsen und lange Flechten im Wind baumelten.
„Ich dachte mir, das wäre eine sichere Basis“, meinte Mikail entschuldigend. „Aber ich bin auch davon ausgegangen, dass wir ein paar Leute mehr wären. Mit etwas mehr Zeit hätte ich auch einen Aufzug bauen können.“
Das `auch´ weckte Kassias Misstrauen und sie hob den Blick. Daraufhin stockte ihr der Atem, denn die Hochebene war nicht, wie sie auf den ersten Blick angenommen hatte, eine tropische Wildnis nah an den Wolken.
In den Wipfeln der hohen Bäume drängten sich wie Vogelnester kleine, runde Hütten zusammen. Noch während sie starrte, entdeckte Kassia Hängebrücken und Seile, die sich zwischen den Bäumen spannten, Plattformen und Leitern, die sich um die Stämme wanden. Die Hütten und Wege waren aus Holz, mit grünem Moos, Efeu und Lianen getarnt, sodass sie die kleine Stadt erst nach und nach entdeckte. Der Begriff Stadt war möglicherweise übertrieben, aber das war die Siedlung auch. Mikail hatte fünf, sechs kleine Hütten gebaut; eine größere in der Mitte stach dadurch hervor, dass sie feiner verziert und offenbar voller Holz und Seile war – ein Lager, doch auf dem Dach gab es eine von Stein umfasste Vertiefung, in der man sicherlich ein wunderbares Lagerfeuer entzünden konnte.
Kassia starrte Mikaisl Bauwerk mit offenem Mund an, während die Dodos sich über die Klippen herauf kämpften und in den Schatten der Bäume watschelten, um es sich dort gemütlich zu machen.
„Das hast du alles … ganz alleine … ?“, stammelte Kassia schließlich.
„Och, ich hatte eben Zeit“, meinte Mikail. „Die Hütten sind nur provisorisch, wie gesagt, ich habe damit gerechnet, dass alle hierher kommen würden und nicht nur wir zwei – einem starken Regenguss würden sie nicht unbedingt standhalten.“
Kassia schüttelte den Kopf, blinzelte, kniff sich in den Arm. Die Hütten blieben.
„Gefällt es dir nicht?“, fragte Mikail unsicher. „Wir können auch weiter ziehen … bis wir einen schönen Platz finden.“
Etwas an der Vorstellung, sich mit Mikail auf eine endlose Reise zu begeben, reizte Kassia. Aber sie musste an die anderen denken. Sie mussten herausfinden, was aus Lucy, Galileo, Henry, Ashley und Nokori geworden war. Wie sollten die anderen sie finden, wenn sie ständig herum reisten?
„Es ist wunderschön“, sagte sie schließlich. „Ich kann nur nicht glauben, dass du das alles alleine gemacht hast.“
„Nicht ganz alleine vielleicht“, meinte Mikail schulterzuckend. „Ich hatte ja viele kleine Helfer. Dodos sind erstaunlich gute Kletterer, was daran liegen kann, dass sie keine Angst empfinden.“
Kassia kicherte. „Da haben sie mir was voraus! Ich kann mir nicht vorstellen, so weit oben zu schlafen!“
„Deswegen kriegst du die Hütte, die man herunter lassen kann“, meinte Mikail „Es gibt ein kleines Flaschenaufzugsystem, also …“
„Man kann die Hütten herunter lassen?“, unterbrach Kassia ihn. „Was hast du sonst noch gebaut, vielleicht eine kleine Rakete zum Mond?“
Wenn sie daran dachte, dass der Rest der Gruppe in der gleichen Zeit lediglich ein Stück Sumpf freigelegt hatte … zu sechst und mit deutlich größeren Sauriern!
„Ich musste mir keine Gedanken um die Rohstoffe machen“, erklärte Mikail. „Die Dodos haben mir alles gebracht, was sie finden konnten. Ich glaube, sie apportieren einfach gerne.“
Kassia warf einen Blick auf die plumpen, scheinbar desinteressierten Vögel. Dann sah sie die Hütten an.
„Unglaublich. Ich hab's immer gewusst, und hier habe ich den Beweis. Du bist verrückt, Mikail!“
Er grinste sie frech an. „Verrückt, aber genial!“
Mit langsamen Schritten ging Kassia zu der Hütte, die Mikail ihr wies. Tatsächlich ließ sich das Häuschen herunter fahren und von innen über ein Seil in die Baumwipfel ziehen. Trotz des flauen Gefühls im Magen wanderte Kassia über eine der Brücken zum Haus in der Mitte. Sie stellte fest, dass Mikails Wege stabil genug waren, dass sie sich herüber traute. Wirklich wohl fühlte sie sich allerdings erst, als sie wieder auf dem Boden stand und von den großen Dodos umkreist wurde.
„Bist du müde?“, fragte Mikail fürsorglich.
Kassia nickte. Ihr fielen die Augen bereits zu und sie konnte das Gähnen nur noch mühsam unterdrücken.
„Leg dich hin. Ich muss dir ein paar Sachen zeigen, aber das hat bis Morgen Zeit.“
Kassia trottete zu ihrer Hütte und pflückte unterwegs ein paar Beeren, die sie sich in den Mund stopfte, um ihren knurrenden Magen zu beruhigen.
„Bis Morgen!“, rief sie Mikail zu, hörte allerdings nicht mehr, ob er antwortete. Sie fiel sofort ins Bett.
Sie träumte von Dodos, ein einziges, plockendes Gewimmel, das sich plötzlich in den Himmel erhob und die Sonne verdunkelte. Am Boden rannten Wesen durch die Schatten des Waldes, schlanke Saurier mit glimmenden, intelligenten Augen. Die Raptoren flohen, die Dodos flogen – und hinter ihnen verschlangen Flammen die Wälder.